Die Bande des Schreckens

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Die Bande des Schreckens
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LUNATA

Die Bande des Schreckens

Die Bande des Schreckens

Kriminalroman

© 1926 by Edgar Wallace

Originaltitel The Terrible People

Aus dem Englischen von Ravi Ravendro

© Lunata Berlin 2020

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

1

Ulanen-Harry kam zur Polizeistation in der Burton Street, um seine Papiere vorzuzeigen. Düster und verbissen trat er näher und reichte dem diensttuenden Sergeanten seinen Entlassungsschein.

»Henry Beneford, auf Bewährung entlassen – ich soll mich hier melden.«

Dann sah er sich um und bemerkte Detektivinspektor Long, den man auch den »Wetter« nannte. Seine Augen blitzten unheimlich auf.

»Morgen, Inspektor – leben Sie auch noch?«

»Wie Sie sehen, bin ich immer noch im Amt«, entgegnete Long vergnügt.

Ulanen-Harry grinste häßlich.

»Wunder mich nur, daß Sie bei Ihrem verdammt schlechten Gewissen noch schlafen können. Die letzten fünf Jahre hab ich durch Ihre Lügen auf den Buckel gekriegt!«

»Hoffentlich gelingt es mir bald, Ihnen weitere fünf Jahre aufzupacken«, erwiderte der Wetter in guter Laune. »Wenn es nach mir ginge, würde ich Sie an den Galgen bringen, dann gäbe es einen schlechten Menschen weniger auf der Welt.«

Harry hatte tatsächlich früher eineinhalb Jahre lang bei den Ulanen gedient, war aber dann mit drei Jahren Festung bestraft worden, weil er seinen Unteroffizier mißhandelt hatte. Er war ein vielfach vorbestrafter, brutaler, gefährlicher Mensch. Aber auch der Wetter war auf seine Art gefährlich.

»Hören Sie zu, Inspektor. Ich will Ihnen nicht drohen. Sie sollen keine Gelegenheit haben, mich wieder ins Kittchen zu stecken. Aber eins sage ich Ihnen: Nehmen Sie sich in acht!«

»Sie reden zu viel«, meinte der Wetter gutmütig. »Am Ende kommen Sie noch ins Parlament.«

Harry kochte vor Zorn und konnte vor Aufregung nicht sprechen. Er wandte sich kurz zu dem Sergeanten um und legte mit zitternder Hand seine Papiere auf das Pult.

»Gerissen sind Sie ... wirklich gerissen«, stieß er schließlich wütend hervor. »Leute wie mich können Sie ja leicht fangen – aber warum machen Sie sich denn nicht hinter Shelton? Warum fangen Sie den nicht? Das kriegt kein Polizist in England fertig! Nicht einmal die Amateure!«

Der Wetter antwortete nicht darauf. Er interessierte sich im Augenblick nicht für Clay Shelton. Die Bemerkung über Amateurdetektive war natürlich auf ihn gemünzt, aber er kümmerte sich nicht weiter darum.

Aber als er nach Scotland Yard zurückkehrte, erfuhr er, daß er sich in Zukunft doch eingehend mit Mr. Shelton befassen mußte.

Einen Mann wie Shelton gab es auf der ganzen Welt nicht wieder. Fünfzehn Jahre lang war es ihm bisher gelungen, unter den verschiedensten Namen Kreditbriefe, Schecks, Tratten und andere Wertpapiere zu fälschen. Und fünfzehn Jahre sind eine lange Zeit.

Inspektor Vansitter saß niedergeschlagen und mit düsterem Gesichtsausdruck im Büro seines Vorgesetzten.

»Es tut mir außerordentlich leid, Vansitter, aber es geht Ihnen ebenso wie allen anderen Beamten«, sagte Colonel Macfarlane. »Es ist noch das Beste, was Ihnen passieren kann, daß ich Ihnen die Bearbeitung des Falles nehme und sie einem anderen übertrage. Wirklich ein Glück für Sie, daß alle Leute, die sich bisher mit Sheltons Fälschungen befaßt haben, auch nur Misserfolg hatten.«

»Wir können ihn nicht fangen, weil wir seine Person ja gar nicht kennen«, entgegnete Vansitter, »und vor allem, weil er vollkommen allein arbeitet. Nur ein glücklicher Zufall könnte uns helfen. Wenn eine Frau in die Sache verwickelt, wenn er verheiratet wäre oder sonstige Helfershelfer hätte, wäre er nicht fünfzehn Jahre lang unentdeckt geblieben. Ich glaube kaum, daß es jemandem gelingen wird, Shelton zu fassen, wenn er nicht einen groben Schnitzer machen sollte. Höchstens –«

Der Inspektor wollte nicht weitersprechen, bevor er nicht von seinem Vorgesetzten dazu ermutigt wurde. Colonel Macfarlane wußte sehr wohl, wen er meinte, sagte aber nichts, da er die Verantwortung nicht allein tragen wollte.

»Der Wetter«, sagte Vansitter schließlich.

Der Colonel runzelte die Stirne.

»Der Wetter!« Er schüttelte mißbilligend den Kopf.

»Wetter« Long hatte studiert und war Polizeibeamter, obwohl er sich den Sohn eines Millionärs nennen konnte. Er wandte sich diesem Beruf zu, weil er von Cambridge relegiert wurde. Mit Schimpf und Schande schickte man ihn nach Hause zurück, weil er einen Universitätspedell verprügelt hatte. Sein Vater war sehr böse darüber und sagte seinem Sohn Arnold, daß er in die weite Welt gehen und sich seinen Lebensunterhalt selbst verdienen sollte. Der Wetter tat das auch und erschien einen Monat später wieder im Hause seines Vaters, und zwar in der Uniform eines Polizisten. Und alle Bitten und Drohungen Sir Godleys konnten ihn nicht dazu bewegen, von seinem Entschluss abzulassen.

Wegen Arnolds einflußreicher Beziehungen hätten es seine Vorgesetzten gern gesehen, daß er nicht so schnell avancierte. Sie fürchteten den Vorwurf der Bevorzugung. Sicher würden im Parlament Anfragen kommen, wenn man ihn außer der Reihe beförderte. Trotzdem war er aber nach zwei Jahren Sergeant, denn es gelang seinem klugen Vorgehen, einige berüchtigte Verbrecher zu fassen.

»Reines Glück«, sagten seine Kollegen und Vorgesetzten von Scotland Yard. Und als er sich weiter auszeichnete, konnte man nicht umhin, ihm die Stelle eines Polizeiinspektors zu geben, weil ihn der Minister des Innern selbst zu dieser Beförderung vorschlug. Den »Wetter« nannten sie ihn, weil er gern herausfordernd sagte: »Wetten, daß?«

Aber er war kein Mann nach dem Herzen der Beamten von Scotland Yard, und sie hielten ihn den jüngeren Leuten auch nicht als leuchtendes Beispiel vor.

Wetter Long war groß, schlank und hübsch und verfügte über die Kraft eines trainierten, geschulten Körpers. Er zeichnete sich besonders im Laufen aus und hatte als Boxer seit zwei Jahren den Meistertitel für Amateure im Mittelgewicht. Klettern konnte er wie eine Katze, und er besaß auch etwas von der Zähigkeit und dem Instinkt dieses Tieres.

 

Auf seinem langen, schmalen Gesicht lag gewöhnlich ein Lächeln, denn er betrachtete Leben und Welt als einen großen Scherz.

»Meinen Sie wirklich, der Wetter wäre dieser Aufgabe gewachsen?« fragte Colonel Macfarlane und biß sich nachdenklich auf die Unterlippe. »Das kann ich eigentlich nicht riskieren. Er stellt sicher irgend etwas Unmögliches an, und wir müssen nachher wieder die Vorwürfe hören ... und doch, man müßte es überlegen...«

Er dachte den ganzen Tag darüber nach, und um fünf Uhr abends ließ er Arnold Long in sein Büro kommen.

Mit einem vergnügten Grinsen hörte der Wetter, was ihm sein Vorgesetzter zu sagen hatte.

»Nein, ich brauche die Akten nicht einzusehen, ich weiß alles auswendig, was über Shelton berichtet worden ist. Geben Sie mir drei Monate Zeit, dann sitzt der Mann hinter Schloß und Riegel.«

»Nehmen Sie die Sache nur nicht zu leicht«, warnte Colonel Macfarlane.

»Wetten, daß?«

2

An einem schönen Frühlingsmorgen ging Mr. Shelton die Lombard Street entlang, in der ausschließlich große Bankhäuser liegen. Er schwang seinen sorgfältig zusammengerollten Schirm und dachte an die Zeiten, als hier noch Pfandleiher und Geldwechsler ihre Geschäfte hatten.

Vor einem Gebäude mit einer blendenden Granitfassade hielt er an und betrachtete die monumentale Architektur, als ob er ein Tourist wäre, der sich zum erstenmal London anschaute.

»Was ist das für ein Gebäude?«

Der Polizist, den er fragte, stand gerade in der Nähe des Gehsteigs.

»Die City & Southern Bank.«

»Donnerwetter«, sagte Shelton bewundernd. »Wirklich stattlich!«

Ein Auto hielt vor dem Gebäude. Der Chauffeur sprang heraus und riß den Wagenschlag auf. Zuerst stieg ein schönes junges Mädchen aus, dann eine ältere Dame mit ernstem Gesicht und schließlich ein hübscher junger Mann mit schwarzem Schnurrbart und Monokel.

Die drei gingen in die Bank, und der Polizist trat zu dem Chauffeur.

»Wie lange haben sie wohl in der Bank zu tun?«

»Vielleicht fünf Minuten«, erwiderte der Mann und streckte sich behaglich auf seinem Sitz aus.

»Wenn es aber länger dauern sollte, müssen Sie drüben auf der anderen Seite parken...«

Der Polizist gab ihm noch einige Anweisungen und kehrte dann wieder zu dem »Touristen« zurück.

»Sie sind wohl fremd in London?«

»Ja. Ich bin erst vor kurzem aus Südamerika zurückgekommen. Dreiundzwanzig Jahre war ich dort. Liegt nicht auch das Gebäude der Argentinischen Bank hier in der Nähe?«

Der Polizist gab ihm Auskunft, aber Mr. Shelton machte keine Anstalten, dorthin zu gehen.

»Es ist schwer, zu glauben, daß in dieser Straße Millionen und aber Millionen von Goldreserven im Depot liegen.«

»Ich habe sie auch noch nicht zu sehen bekommen«, meinte der Beamte und lächelte ironisch. »Aber zweifellos – «

Plötzlich hob er die Hand halb zum Gruß. Eine Autodroschke war vorgefahren, und ein junger Mann war ausgestiegen. Er sah den Polizisten vorwurfsvoll an und betrachtete Mr. Shelton mit einem prüfenden Blick. Dann verschwand er auch in der Bank.

»War das ein Polizeibeamter?« Shelton hatte den unterbrochenen Gruß wohl bemerkt.

»Nein, ein Herr aus der City, den ich kenne«, entgegnete der Polizist und ging zu dem Chauffeur der Droschke, um auch ihm Instruktionen zu geben.

Als Wetter Long in die Bank kam, sah er das hübsche Gesicht des jungen Mädchens am Schalter und blieb einige Augenblicke stehen, bevor er in das Privatbüro des Direktors trat. Der kleine, untersetzte Herr mit dem kahlen Kopf erhob sich sofort bei seinem Eintritt und schüttelte ihm herzlich die Hand.

»Entschuldigen Sie mich, bitte, noch ein paar Minuten – ich muß eben eine Kundin begrüßen.«

Mit diesen Worten verschwand er aus dem Büro, kam aber nach kurzer Zeit wieder. Er lächelte und rieb sich die Hände.

»Das ist eine charaktervolle Frau«, sagte er. »Haben Sie die Dame gesehen?«

»Ja, sie ist wirklich ungewöhnlich hübsch.«

»Ach, Sie meinen die Sekretärin. Ich spreche aber von der älteren Dame – Miß Revelstoke. Sie ist schon fast dreißig Jahre meine Kundin. Die sollten Sie eigentlich kennenlernen. Der junge Mann, der sie begleitet, ist ihr Rechtsanwalt. Etwas eitel und stutzerhaft, aber er wird sicher Karriere machen.«

Durch ein kleines, viereckiges Fenster konnte man von dem Privatbüro aus die lange Reihe der Schalter beobachten. Die ältere Dame zählte gerade ein Bündel Banknoten, das ihr der Kassierer ausgehändigt hatte. Ihre Sekretärin schien sich zu langweilen, denn sie betrachtete die schöngeschnitzte Decke des prachtvollen Raums. Ihr anziehendes Gesicht verriet Lebhaftigkeit und Intelligenz. Den freundlich lächelnden jungen Mann neben Miß Revelstoke beachtete er kaum. Plötzlich sah die junge Dame zu dem Fenster hinüber und begegnete Longs Blick. Eine Sekunde schauten sie einander wie gebannt an, dann wandte sich der Wetter schnell ab. Erst jetzt kam ihm zum Bewusstsein, daß der Bankdirektor dauernd zu ihm gesprochen hatte.

»... ich bin ja nicht der Ansicht, daß es Ihnen gelingt, den Mann zu fassen. Dazu ist wahrscheinlich niemand imstande. Der Mensch ist glatt wie ein Aal und wahrscheinlich der Führer einer sehr gerissenen Bande –«

»Ich wünschte von Herzen, es wäre so«, entgegnete Long lächelnd. »Aber den Gedanken können Sie aufgeben, Mr. Monkford. Unter Verbrechern und Dieben gibt es keine Ehrlichkeit, höchstens unter den ganz Großen. Dieser Shelton arbeitet ganz auf eigene Faust, und darin besteht seine größte Stärke.«

Der Bankdirektor nahm eine dicke Mappe aus seinem Schreibtisch und legte sie auf die Platte.

»Hier finden Sie alle Tatsachen, nicht nur von der City & Southern Bank, sondern auch von allen anderen Banken, die von Shelton betrogen wurden. Alle Originalunterschriften sind in Photographie vorhanden. Aber ich glaube nicht, daß es Ihnen viel helfen wird.«

Long brachte eine halbe Stunde damit zu, den Inhalt der Mappe zu prüfen, aber am Ende war er auch nicht klüger als vorher.

Als er wieder auf die Straße trat, sah er sich nach links und nach rechts um, als ob er nicht entschlossen wäre, nach welcher Richtung er gehen sollte. Schließlich wandte er sich nach der Grace Church Street. An der Ecke dieser Straße und der Lombard Street sah er einen schlanken, älteren Herrn stehen, der offenbar den lebhaften Verkehr beobachtete. Er schaute ihn an, als er an ihm vorüberging, und die Blicke der beiden trafen sich. Die argwöhnisch forschenden Augen des Fremden verrieten Long sofort, daß der Mann den Detektiv in ihm erkannt hatte.

Ein eigentümliches Gefühl überkam den Wetter, ohne daß er sich über die Ursache klar werden konnte. Er überquerte die Straße, ging auf einen Zeitungsjungen zu und kaufte ihm ein Blatt ab. Der Fremde stand immer noch an seinem Platz. Er war elegant gekleidet und sah wie ein Oberst in Zivil aus. Absichtlich gab der Wetter dem Zeitungsjungen einen Schilling, um den Mann noch während des Wechselns beobachten zu können. Es mußte irgendein Schwindler aus der City sein, einer der vielen, die hier ihre dunklen Geschäfte trieben. Der mißtrauische Blick hatte Long genug verraten. Es schoß ihm der Gedanke durch den Kopf, umzukehren und den Fremden unter irgendeinem Vorwand anzusprechen. Aber er gehörte zu Scotland Yard und befand sich in der City. Und die City hatte ihre eigenen Detektive, die eifersüchtig darüber wachten, daß nicht andere Beamte in ihre Rechte eingriffen.

Während er sich noch überlegte, was er tun sollte, rief der Mann ein Auto an, das die Straße herunterkam, und fuhr davon. Kaum war er außer Sicht, als der Wetter einem plötzlichen Impuls folgte und sich ebenfalls einen Wagen nahm.

»Fahren Sie die Lombard Street entlang«, sagte er schnell, »und sehen Sie zu, daß Sie den gelben Wagen einholen.«

Bald darauf sah er das Auto wieder. Er hielt die Zeitung schützend vor das Gesicht und beobachtete über den Rand des Blattes hinweg, daß der Fremde durch das hintere Fenster nach rückwärts schaute.

Als Colonel Macfarlane an diesem Abend das Büro verlassen wollte, hielt ihn Inspektor Long freudestrahlend an.

»Sie können mir gratulieren – ich habe Shelton ausfindig gemacht!«

»Das ist doch nicht möglich!«

»Wetten, daß?« entgegnete Mr. Long prompt.

3

Eine Woche später lenkte Shelton seinen Wagen dicht vor Colchester auf einen Seitenweg und brachte ihn zum Stehen. Aus einer Schublade unter dem Sitz nahm er einen Koffer heraus, der einen Anzug, Schere, Rasiermesser und Creme enthielt, und kurze Zeit darauf hatte er sich vollkommen verwandelt. Er sah jetzt aus wie ein ehrbarer älterer Herr. Nachdem er einen Blick nach rechts und links geworfen hatte, ging er zur nächsten Haltestelle der Straßenbahn und fuhr von dort zum Zentrum der Stadt.

Es schlug zehn Uhr, als er den großen Kassenraum der Eastern Counties Bank betrat. Er legte ein Bankbuch und ein ausgefülltes Formular auf den Schaltertisch. Der Beamte prüfte beides sorgfältig und ging dann damit in das Büro des Direktors. Als er zurückkam, lächelte er respektvoll, als ob er sich für seine schlimmen Befürchtungen entschuldigen müßte.

»Siebentausendsechshundert«, sagte er liebenswürdig. »Wie wollen Sie das Geld haben, Colonel Weatherby?«

»In Hundertpfundnoten.«

Gleich darauf zählte der Kassierer ein Paket Banknoten mit außerordentlicher Geschwindigkeit ab und notierte dann die Nummern der Scheine in sein Buch...

»Danke schön.« Shelton wandte sich ab und steckte das Päckchen in seine Brusttasche.

Außer ihm befanden sich noch zwei andere Herren im Kassenraum, und ein dritter kam gerade durch die Drehtür herein. Der eine sah etwas müde aus und lehnte sich an den Schalter. Shelton würdigte ihn keines Blickes, wohl aber schaute er sich den anderen genau an, der vor dem Ausgang stand und ihn anlächelte.

»Guten Morgen, Shelton.«

Der Wetter Long! Höchste Gefahr! Shelton blieb stehen und schob trotzig das Kinn vor.

»Wollen Sie mit mir sprechen? Ich heiße allerdings nicht Shelton.«

Arnold Long nahm den Hut ab und fuhr mit der Hand durch sein dichtes, schwarzes Haar.

»Ja, ich wollte mit Ihnen sprechen.«

Im nächsten Augenblick sprang Shelton auf ihn zu.

Eine Sekunde später wälzten sich drei Männer auf dem Boden. Shelton gelang es, wieder auf die Füße zu kommen. Der Polizist war eifrig bei dem Handgemenge, stand aber dem Wetter immer im Wege. Plötzlich mischte sich auch noch der müde Herr ein, der vorher am Schalter gelehnt hatte.

»Hier! Verdammt...«

Ein betäubender Knall ertönte, und der Polizist stürzte blutend auf die Marmorfliesen nieder.

»Geben Sie die Pistole her, oder ich schieße sofort!«

Shelton wandte den Kopf. Der Bankbeamte mit der Brille hatte mit einem schweren Armeerevolver auf ihn angelegt. Der Mann hatte den Krieg auch mitgemacht, in dem selbst Bankbeamte mit Brillen lernten, kaltblütig andere Menschen über den Haufen zu schießen.

Long legte Shelton Handschellen an. Zwei Polizisten in Uniform kamen in den Schalterraum, während der Bankbeamte bereits an das Hospital telefonierte.

»Ich verhafte Sie wegen Betrugs«, sagte Arnold und schaute dann ernst auf den Toten, der in einer großen Blutlache lag. »Ich dachte, Sie trügen niemals eine Pistole bei sich?«

Shelton erwiderte nichts, und der Wetter wandte sich an den fremden Herrn, der sich am Handgemenge beteiligt hatte.

»Ich danke Ihnen ... ich bin Ihnen wirklich sehr verpflichtet.« Plötzlich leuchteten seine Augen auf. »Ach, Sie sind ja Mr. Crayley.«

Der Mann sah totenbleich aus.

»Beinahe hätte er mich selbst getroffen«, sagte er heiser. »Nun, ich habe mein Bestes getan. Sagen Sie es nur, wenn ich Ihnen noch irgendwie behilflich sein kann. Ist er tot?«

»Ja.« Der Wetter starrte düster auf den Polizisten. »Ich wünschte, das hätten Sie nicht getan, Shelton. Aber diesen Mord können wir wenigstens leichter beweisen als die anderen, die Sie begangen haben. Wir wollen ihn schnell zur Polizeistation bringen, bevor ein zu großer Auflauf entsteht. Zeigen Sie mir, bitte, den Nebenausgang«, wandte er sich an den Bankbeamten.

4

Am vierzehnten Juni verließ Inspektor Long mit seinem Wagen um fünf Uhr morgens die Hauptstadt. Die Sonne schien strahlend, und alle Dörfer, durch die er kam, sahen schmuck und freundlich aus.

 

Er hatte gerade eine kleine Ortschaft verlassen und kam wieder auf die Landstraße, die durch grüne Felder führte, als er einen Mann passierte, der am Rand des Weges saß. Im Augenblick erkannte er ihn, bremste und fuhr zu der Stelle zurück. Ulanen-Harry sah ihn ruhig an und rauchte seine Zigarette weiter.

»Auf der Walze?« fragte der Wetter liebenswürdig.

»Ich habe Arbeit, wenn Sie es wissen wollen – und zwar eine recht lohnende!« Ulanen-Harry warf ihm einen merkwürdigen Blick zu. »Wohin gehen Sie denn, Sie Bluthund?«

Arnold lächelte, obwohl er niemals geglaubt hätte, daß er an diesem Morgen lächeln könnte.

»Ich bin wieder dabei, Diebe zu fangen«, erwiderte er und schaute über die Felder. Das einzige Gebäude, das man in der Nähe sehen konnte, war eine große, schwarze Scheune. »Sie haben die Nacht nicht im Freien geschlafen, und Sie sind auch noch nicht weit gegangen. Ihre Schuhe sind nicht staubig. Was haben Sie denn wieder vor, Harry?«

Der Mann antwortete nicht. Arnold Long zeigte in die Richtung nach Chelmsford, lachte vor sich hin und fuhr weiter.

Vor den großen, düsteren Toren des Gefängnisses von Chelmsford hielt er schließlich an, als es gerade sieben schlug. Er klingelte und wurde von dem Portier eingelassen. Ein Wärter brachte ihn dann zu dem Direktor der Anstalt, der allein in seinem kleinen Büro saß.

»Hoffentlich ist Ihnen die Sache nicht zu unangenehm. Mir sind solche Sachen immer sehr zuwider.« Arnold nickte.

»Ich habe schon den ganzen Weg fest daran gedacht, daß er doch seine Absicht ändern sollte, damit ich ihn nicht mehr zu sehen brauchte.«

Der Direktor schüttelte den Kopf.

»Das wird nicht der Fall sein. Seine letzte Frage gestern Abend war noch, ob Sie kommen würden.«

Er erhob sich und führte Long zu Sheltons Zelle. Mit schwerem Herzen betrat der Wetter den engen Raum.

Der zum Tode verurteilte Mann saß auf seinem Bett und hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt. Sein Gesicht war mit grauen Bartstoppeln bedeckt, und Arnold erkannte ihn kaum wieder.

»Nehmen Sie Platz.«

Aber Inspektor Long blieb stehen.

»Ich wollte Sie noch sprechen – vor meinem Tode.« Shelton nahm die Zigarette aus dem Mund, blies einige Rauchringe zur Decke empor und beobachtete sie, bis sie sich in Nichts auflösten. »Ich habe vier Menschen umgebracht, und ich bereue es nicht«, sagte er nachdenklich. Dann lächelte er den Wetter plötzlich an, der düster auf ihn niederblickte. »Sie glauben, daß es jetzt mit mir zu Ende geht, aber Sie irren sich schwer! Sie werden mich hängen, und sie werden mich begraben, aber trotzdem lebe ich weiter, und ich fasse Sie, Wetter Long, verlassen Sie sich darauf! Ich zahle es allen Leuten heim, die an meinem Tode schuld sind.« Als er Longs Gesichtsausdruck sah, lächelte er noch rätselhafter. »Sie glauben, daß ich nicht mehr bei Verstand bin, aber es gibt viel Dinge in dieser Welt, von denen Ihre Schulweisheit sich nichts träumen läßt, mein Freund. Die Galgenhand ist kein leerer Wahn – sie existiert!«

Er runzelte die Stirne einen Augenblick und schaute auf den Steinfußboden, dann lachte er laut auf.

»So, das wäre alles, was ich Ihnen sagen wollte. Denken Sie daran, Mr. Long, die Galgenhand wächst aus dem Grab hervor und packt Sie früher oder später an der Gurgel!«

Long antwortete nichts darauf und ging mit dem Direktor zurück.

»Was halten Sie davon?« fragte der Beamte und wischte sich den Schweiß von der Stirne. Er sah bleich und verstört aus. »Die Galgenhand – entsetzlicher Gedanke!«

»Fürchten Sie sich nicht, mich faßt sie nicht.« Arnold nickte langsam. »Wetten, daß?«

Er blieb nicht bis zum Ende da.

Dicht vor Chelmsford liegt ein kleines Dorf mit einer sehr alten Kirche. Die Uhr schlug gerade acht. Long hielt den Wagen an und nahm den Hut ab.

»Hoffentlich findet der arme Mensch den Frieden«, sagte er vor sich hin, denn in diesem Augenblick endete Clay Sheltons irdische Laufbahn.

In der nächsten Sekunde schlug etwas gegen die Windscheibe des Autos, und sie zersplitterte.

Ping!

Die zweite Kugel pfiff an seinem Kopf vorüber, und die dritte schwirrte dicht an seiner linken Backe vorbei.

Er sprang aus dem Wagen und sah sich in der friedlichen Gegend um. Niemand war zu entdecken, auch keine Hecken, wo sich ein Mann verstecken konnte, nur dort hinten –

Über einem kleinen Gebüsch schwebte eine blasse Rauchwolke in der Luft. Im Laufschritt eilte er über die Wiese, die ihn davon trennte. Während er lief, vernahm er einen vierten Schuss und warf sich flach auf den Boden. Er hörte das Geschoss nicht einschlagen, erhob sich wieder und lief im Zickzack auf sein Ziel los.

Plötzlich packte ihn ein Grausen. Aus dem Grase streckte sich ihm eine weiße Hand entgegen, deren Finger im Krampf erstarrt waren, und die ins Nichts zu greifen schienen.

Im nächsten Augenblick hatte er die Stelle erreicht. Ein Mann lag dort auf dem Rücken, und seine Hand zeigte zum blauen Himmel empor. Die andere umkrallte ein Militärgewehr.