Der goldene Hades

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Der goldene Hades
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LUNATA

Der Goldene Hades

Der Goldene Hades

Kriminalroman

© 1929 by Edgar Wallace

Originaltitel The Golden Hades

Aus dem Englischen von Ravi Ravendro

© Lunata Berlin 2020

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

1

Frank Alwin hob mühsam die Hände, die mit Handschellen aneinandergefesselt waren, und riß sich den angeklebten Schnurrbart ab. Durch den schweren Vorhang drangen schwach die Klänge des letzten Orchesterstückes, während das Publikum das Theater verließ. Der Requisitenverwalter erschien auf der Bühne.

»Tut mir leid«, entschuldigte er sich, »ich habe nicht gewußt, daß der Vorhang schon heruntergegangen ist. Heute Abend ist die Vorstellung eher zu Ende als sonst.«

Frank nickte und sah zu, wie der Mann mit einem besonderen Schlüssel die Handschellen aufschloß und in Verwahrung nahm. Noch vor fünf Minuten hatte Frank Alwin die Rolle des verruchten und bösen Grafen Larska gespielt, der bei einem Einbruch in die Bank von Brasilien ertappt und dann von dem tapferen, unbesiegbaren Detektiv verhaftet wird.

In Gedanken versunken blieb er stehen, während die Lampen im Bühnenhaus nach und nach ausgedreht wurden und die Arbeiter die Versatzstücke forträumten. Dann ging er zu dem weißgetünchten Vorraum, der zu den einzelnen Garderoberäumen der Schauspieler führte.

Ein junges Mädchen im Straßenkleid wartete dort auf ihn. Sie hatte ihre kleine Nebenrolle schon vor einer Stunde beendet. Frank dachte im Augenblick an ganz andere Dinge; immerhin fiel ihm ein, daß er eine gewisse Verpflichtung ihr gegenüber hatte. Im Unterbewusstsein erinnerte er sich daran, daß er den großen Stoß Papiergeld, den er sich im letzten Akt aus dem Geldschrank der Bank angeeignet hatte, dem Requisitenverwalter noch nicht zurückgegeben hatte. Im Gegenteil, er hatte die Scheine in die Tasche gesteckt und mitgenommen. Er lächelte das ängstliche junge Mädchen an, als er auf sie zuging, und drückte ihr etwa sechs Banknoten in die Hand, die er aus der Tasche zog. Er faltete sie noch besonders sorgfältig, bevor er sie ihr übergab.

»Das ist für Sie, Marguerite«, sagte er mit einem gewissen Pathos.

Er bemerkte, daß sie ihn erstaunt, fast bestürzt ansah, lachte aber nur still vor sich hin und stieg die Treppe zu seinem Ankleideraum hinauf, immer zwei Stufen mit einem Schritt.

Als er fast oben angelangt war, fiel ihm etwas ein. Er hatte sich geirrt, fluchte und eilte wieder nach unten, aber die junge Dame war inzwischen fortgegangen.

Wilbur Smith, der früher als Offizier beim Militär gedient hatte und jetzt als Detektiv beim Polizeipräsidium in New York tätig war, machte es sich in einem der großen Armsessel bequem. Er saß in der Garderobe des Schauspielers Frank Alwin, und während er auf seinen Freund wartete, rauchte er dauernd und füllte die Luft mit Tabaksqualm. Als Frank Alwin hereinkam, schaute Smith auf.

»Hallo, Frank!« rief er. »Was ist denn los? Hat die Vorstellung heute nicht geklappt?«

»Ich bin ein dummer Kerl«, erwiderte Alwin und sank in den bequemen Stuhl vor seinem Ankleidetisch.

»In mancher Beziehung gebe ich dir vollkommen recht, aber andererseits bist du auch ein sehr tüchtiger Schauspieler. Welche besondere Dummheit hast du denn begangen?«

»Es handelt sich um ein Mädchen«, begann Frank.

Smith nickte mitleidig.

»Verzeihung, ich wollte mich nicht in deine persönlichen Verhältnisse einmischen. Wenn du in der Beziehung Dummheiten gemacht hast, dann spricht das noch nicht besonders gegen dich.«

»Ach, rede doch keinen Unsinn«, entgegnete Alwin gereizt. »Um dergleichen handelt es sich doch überhaupt nicht. Es ist ein nettes kleines Mädchen, das zu unserem Ensemble gehört ...«

Er zögerte einen Augenblick.

»Nun gut, ich kann es dir ja auch sagen. Sie heißt Maisie Bishop und hat eine kleine Rolle in dem Stück, das wir jetzt spielen.«

Wilbur nickte.

»Ich habe sie schon auf der Bühne gesehen. Sie ist wirklich sehr hübsch. Aber was hast du mit ihr?«

Frank antwortete nicht gleich und sah den anderen nachdenklich an.

»Als ich heute Abend auf die Bühne gehen wollte, kam sie zu mir«, erklärte er etwas betreten. »Sie schien sehr besorgt zu sein und sagte mir, daß sie große Schwierigkeiten hätte. Ihre Familie leide bittere Not, und sie bat mich, ihr etwas Geld zu leihen. Ich hatte im Augenblick natürlich keine Zeit, mich mit ihr zu beschäftigen, da jeden Augenblick mein Stichwort fallen mußte. Ich versprach ihr aber, daß ich ihr helfen wollte, und dann habe ich es ganz vergessen.«

»Nun, du kannst sie ja noch aufsuchen, sie ist doch sicherlich nicht schwer zu finden.«

»Darüber zerbreche ich mir nicht den Kopf. Aber sieh einmal her!« Er steckte die Hand in die Tasche, holte einen Stoß Banknoten heraus und legte sie auf den Tisch. »Das ist natürlich falsches Geld, wie wir es auf der Bühne brauchen. Ich sah, daß sie wieder unten im Vorraum auf mich wartete, aber durch das Theaterspiel hatte ich tatsächlich vergessen, was wir vorher miteinander besprochen hatten. Ich wollte einen Scherz machen und gab ihr ein halbes Dutzend dieser Scheine. Es sollte wirklich nur ein Scherz sein.«

Wilbur lachte.

»Aber darüber brauchst du dir keine grauen Haare wachsen zu lassen. Wenn sie verhaftet werden sollte, weil sie Falschgeld unter die Leute bringt, werde ich sie und auch dich schon durchbringen. Das verspreche ich dir. Der Schaden ist also nicht so groß.«

Er erhob sich, ging zu dem Ankleidetisch hinüber und nahm den Stoß Banknoten in die Hand. Es war ein dickes Bündel und der aufgedruckte Wert der Scheine ziemlich hoch.

»Ich wundere mich, daß ihr auf der Bühne derartig gut gedrucktes Geld benützt.«

Alwin war gerade dabei, sein Gesicht mit Creme einzureiben und sich abzuschminken. Plötzlich hielt er jetzt mitten in der Bewegung inne.

»Das ist mir auch schon aufgefallen. Es ist jedenfalls nicht das übliche Geld, das wir sonst immer auf der Bühne benützen. Man könnte fast annehmen, daß es sich um echte Scheine handelte.« Er wischte seine Hand an dem Tuch ab, nahm eine der Banknoten und betrachtete sie genau. »Das Wasserzeichen sieht genauso aus, als ob es echt wäre. Ich möchte bloß wissen, wo diese Banknoten herkommen. Noch nie habe ich derartig fabelhaft imitierte Scheine gesehen. Ich fürchte nur, daß die Leute Maisie das Geld als echt abnehmen und daß der Irrtum erst später herauskommt. Wilbur, willst du mir nicht den Gefallen tun, zu ihrer Wohnung zu gehen und mit ihr zu sprechen? Sie wohnt irgendwo im Osten, der Portier am Bühnenausgang wird dir sofort ihre Adresse geben.«

»Wirklich merkwürdig«, erwiderte Smith nachdenklich, während er einen der Scheine zwischen den Fingern rieb. »Ich habe auch noch nie so gut gedrucktes Falschgeld gesehen. Aber – um Himmels willen, was ist denn das?«

Er hatte die Banknote umgedreht und starrte entsetzt auf die Rückseite.

»Was hast du denn?« fragte Alwin erstaunt.

Der Detektiv deutete auf ein gelbes Zeichen, das auf die Rückseite des Scheines aufgedruckt war.

»Was ist denn das?«

»Was glaubst du wohl, daß es sein könnte?« fragte Wilbur. Seine Stimme klang seltsam.

»Es sieht fast aus, als ob es die Darstellung eines Götzenbildes wäre.«

»Da hast du tatsächlich recht. Es ist das Bild des goldenen Hades.«

»Ich habe nicht verstanden. Was soll das sein?«

»Der goldene Hades. Hast du niemals von ihm gehört?«

»Doch«, erwiderte Frank lächelnd. »Das ist ein Platz, zu dem man die Leute hinbefördert, die einem im Weg stehen!«

»Ja, mit anderen Worten – die Unterwelt. Hades kann aber auch der Gott der Unterwelt sein«, erklärte Wilbur Smith grimmig. »Die Römer nannten den alten Herrn Pluto.«

»Aber warum nennst du ihn golden? Hat er etwa eine derartige Farbe gehabt?«

Sein Freund schüttelte den Kopf.

»Das ist das dritte Mal, daß ich Gelegenheit habe, einen derartigen Aufdruck zu sehen. Die anderen Stempel, die ich bisher kennengelernt habe, waren allerdings mehr goldfarben.«

Wilbur Smith nahm den Stoß Banknoten vom Tisch auf und zählte ihn sorgfältig durch.

 

»Das sind zusammen sechsundneunzigtausend Dollar!«

»Glaubst du tatsächlich, daß es echtes Geld ist?« fragte Frank erstaunt und atemlos.

»Daran ist nicht zu zweifeln, es sind echte Scheine«, entgegnete der Detektiv und nickte. »Wo hast du die denn herbekommen?«

»Auf die gewöhnliche Weise – vom Requisitenverwalter.«

»Den Knaben muß ich sprechen. Kannst du ihn nicht rufen lassen?«

»Wenn er noch nicht nach Hause gegangen ist«, erwiderte Frank, ging zur Tür, öffnete sie einen Spalt und rief nach seinem Diener.

»Schicken Sie doch bitte Hainz zu mir.«

Glücklicherweise konnte der Requisitenverwalter noch angehalten werden, als er gerade das Theater verlassen wollte. Er kam in den Ankleideraum, und zufällig fiel sein Blick sofort auf das Geld, das auf dem Tisch lag. Ungeduldig trat er zu Alwin.

»Ich wußte doch, daß ich etwas vergessen hatte, als ich Ihnen die Handschellen abnahm, Mr. Alwin. Ich werde das Geld noch verwahren ...«

»Warten Sie einen Augenblick«, entgegnete Wilbur Smith. »Sie kennen mich doch, Mr. Hainz?«

»Jawohl«, sagte der Mann und grinste über das ganze Gesicht. »Ich habe Sie zwar noch nicht in Ihrer amtlichen Eigenschaft kennengelernt, aber trotzdem weiß ich sehr gut, wer Sie sind.«

»Woher haben Sie das Geld?«

»Das Geld? Meinen Sie etwa diese Papiere hier?« Er zeigte auf die Scheine, die auf dem Tisch lagen.

»Ja.«

»Woher ich die habe?« wiederholte Hainz. »Nun, die habe ich in dem Requisitengeschäft gekauft, von dem wir alle Utensilien beziehen. Ich hatte nicht mehr genügend Papiergeld für die Bühne, und so besorgte ich mir wieder einen Stoß. Gleichzeitig wurde bei der Firma übrigens ein Plakat für den Film ›Der verführerische Reichtum‹ zusammengestellt, und ich sah, wie man es mit solchen Scheinen einrahmte. Sie wurden auf den Rand eines großen Bogens geklebt.«

»Woher hat sie denn der Händler, von dem Sie sie gekauft haben?«

»Ich weiß es nicht – sicher von einer anderen Firma.«

»Wissen Sie, wo ich ihn finden kann?«

Hainz nahm ein großes Notizbuch aus der Tasche und schlug die Adresse auf.

»Ein glücklicher Zufall, daß ich seine Adresse habe. Ich beschäftige ihn nämlich auch hier auf der Bühne.«

Als der Mann gegangen war, sah Wilbur Smith seinen Freund nachdenklich an.

»Schminke dich endlich ab, Frank, damit man sich mit dir auf der Straße zeigen kann«, sagte er dann gutmütig. »Wenn du nichts dagegen hast, werde ich das Geld an mich nehmen. Dann gehen wir in die Stadt und essen zu Abend.«

»Zum Teufel, was hat das nur alles zu bedeuten?« »Das erzähle ich dir während des Essens«, entgegnete Wilbur Smith ausweichend.

2

Selbst Wilbur Smith wußte nicht sehr viel von den Scheinen mit dem gelben Stempel auf der Rückseite, aber alles, war es wußte, erzählte er, als sie sich nach einer halben Stunde in einem Restaurant gegenübersaßen.

»Als ich das erste Mal einen solchen Stempel sah, hatte er tatsächlich Goldfarbe. Er war auf die Rückseite einer Tausenddollarnote gedruckt und mit Goldbronze eingepudert worden. Außerdem stand noch mit grüner Farbe das Wort ›Hades‹ darunter. Übrigens kannst du im Lexikon nachlesen, was dort unter ›Hades‹ steht. Diese Tausenddollarnote kam auf seltsame Weise in meine Hand. Im Osten wohnte eine arme Frau, die als Dienstmädchen in einem der Brooklyn-Hotels arbeitete. Sie erzählte mir eine sonderbare Geschichte. Als sie eines Abends nach Hause zurückkehrte, kam ein Mann hinter ihr her, steckte ihr einen Stoß Banknoten in die Hand und ging weiter. Verblüfft lief sie in ihre Wohnung und machte Licht. Als sie dann die Scheine genauer betrachtete und zählte, stellte sich heraus, daß er ihr die Summe von hunderttausend Dollar in die Hand gedrückt hatte. Sie traute ihren Augen nicht und nahm an, daß sich jemand einen Scherz mit ihr gemacht hätte. Sie glaubte wie du, daß es sich um falsches Geld handelte, legte es unter ihr Kissen und nahm sich vor, am nächsten Morgen jemand danach zu fragen, ob es sich um echte Banknoten handelte. In der Nacht wachte sie aber plötzlich auf, denn sie hörte, daß sich jemand in ihrem Schlafzimmer befand. Sie wollte gerade um Hilfe schreien, als ihr jemand sagte, sie solle sich ruhig verhalten. Dann wurde eine Taschenlampe angeknipst, und die Frau sah, daß nicht nur einer, sondern drei Leute mit schwarzen Masken vor ihrem Bett standen.«

Frank sah den Detektiv erstaunt an.

»Sag mal, willst du mich zum besten halten?«

Wilbur Smith schüttelte den Kopf.

»Nein, ich spreche vollkommen ernst. Die Leute fragten, wo sie das Geld hätte. Sie war sprachlos vor Schrecken, als sie die Revolver sah, die auf sie gerichtet waren, und zeigte unter das Kissen. Dann fiel sie in Ohnmacht. Als sie wieder zu sich kam, war das Geld verschwunden bis auf eine Banknote, die die drei Räuber in der Eile übersehen haben mußten. Sie brachte den Schein am nächsten Tag zum Polizeipräsidium und erzählte dort ihre seltsame Geschichte. Mein Chef glaubte, daß sie die Geschichte erfunden und die Banknote aus dem Hotel gestohlen hätte, in dem sie arbeitete. Er nahm an, daß sie später Gewissensbisse bekam und sich dann diese Geschichte ausdachte, um sich herauszureden.«

»Und hatte er recht?«

»Nein. Ich nahm die Aufklärung des Falles in die Hand und erkundigte mich in dem Hotel. Es fehlte kein Geld, und die Leitung stellte der Frau das beste Zeugnis aus. Sie war absolut ehrlich trotz ihrer Armut. Es blieb uns nichts anderes übrig, als ihr die Tausenddollarnote zurückzugeben. Damals bekam ich zum erstenmal den Stempel mit dem goldenen Hades zu sehen.

Das zweite Mal geschah es unter ähnlich sonderbaren Umständen. Die Banknoten befanden sich im Besitz eines gewissen Henry Laste, eines gewerbsmäßigen Spielers. Einer unserer uniformierten Polizisten hatte ihn in betrunkenem Zustand auf der Straße aufgelesen und zur Polizeistation gebracht. Zufällig kam ich gerade dazu. Als die Taschen des Mannes durchsucht wurden, fand man acht solcher Banknoten zu je tausend Dollar. Wir sorgten dafür, daß er wieder nüchtern wurde, und dann erzählte er uns eine geradezu unglaubliche Geschichte. Seine Frau hätte diese Banknoten zwischen den Blättern eines Buches in einer öffentlichen Bibliothek gefunden. Er machte diese Aussage etwa um acht Uhr morgens, und ich selbst war dabei, als das Protokoll ausgefertigt wurde. Ich ging sofort zu seiner Wohnung, um seine Frau auszufragen. Er wohnte in einem Mietshaus; als wir aber an die Tür klopften, erhielten wir keine Antwort. Ich ahnte, daß etwas Besonderes hinter all diesen merkwürdigen Vorgängen stecken mußte, ging zu dem Verwalter des Hauses und bat ihn, die Tür mit dem Hauptschlüssel zu öffnen.«

»War die Frau ausgegangen?«

Wilbur schüttelte den Kopf.

»Wir fanden sie in der Wohnung, aber sie war tot. Eine Kugel aus einer automatischen Pistole hatte sie mitten ins Herz getroffen. Alle Räume waren durchsucht, die Schubladen umgekehrt, die Kleiderschränke aufgerissen. Die einzelnen Jacken und Hosen lagen auf dem Boden verstreut ...«

»Ach, das ist der berüchtigte Higgins-Mord«, erwiderte Alwin atemlos.

Wilbur nickte ernst.

»Ja, der berüchtigte Higgins-Mord.«

»Und hast du weitere Banknoten in der Wohnung entdeckt?«

»Nein. Wir wollten den Mann unter Anklage stellen, diesen Mord verübt zu haben, aber es fiel ihm nicht schwer, ein Alibi beizubringen. Er war in einer Spielhölle gewesen und hatte dort zu viel getrunken. Um ein Uhr hatte ihn der Polizist auf der Straße gefunden; zehn Minuten nach zwei wurde der Mord verübt. Ausnahmsweise war es möglich, diesen Zeitpunkt so genau festzustellen. Der Schuss, mit dem die arme Frau niedergestreckt wurde, war aus nächster Nähe abgegeben worden und hatte solche Durchschlagskraft gehabt, daß er noch einen Wecker auf dem Nachttisch traf und dadurch zum Stehen brachte. Die Zeiger standen auf zehn Minuten nach zwei.«

Die beiden saßen sich eine Weile schweigend gegenüber und sahen sich an. Die Unterhaltung der Gäste und das Klappern von Geschirr klang Frank Alwin in den Ohren, und plötzlich kam ihm zum Bewusstsein, daß auch er in Gefahr schwebte.

»Ich verstehe«, sagte er langsam. »Alle Leute, die mit diesen gestempelten Banknoten in Berührung kommen, wurden ...«

»Überfallen«, versetzte der Detektiv. »Und aus diesem Grund werde ich dich heute Abend auch nicht aus den Augen lassen, Frank.«

Die beiden waren seit vielen Jahren miteinander befreundet. Frank Alwin war Schauspieler im Coliseum-Majestic-Theater, und dem Detektiv Wilbur Smith war es gelungen, mehr Verbrecher zu fassen als irgendein anderer Angestellter des Polizeipräsidiums.

Frank Alwin hatte während des Krieges drei Jahre lang im Geheimen Nachrichtendienst gedient, und wenn er nicht ein so glänzender Schauspieler gewesen wäre und ein so großes Vermögen besessen hätte, würde er sich bei der Polizei mindestens ebenso ausgezeichnet haben wie sein Freund.

»Mir ist die ganze Sache unheimlich«, sagte Alwin nach einer Weile. »Wer war denn eigentlich dieser Pluto?«

»Der Gott der Unterwelt. Ich habe herausgebracht, daß es tatsächlich auch heutzutage noch überspannte Leute gibt, die ihn verehren. Man müßte einmal in einem Lexikon genau nachsehen, welche Rolle er in der antiken Mythologie gespielt hat.«

In diesem Augenblick trat ein Kellner an den Tisch.

»Mr. Alwin, Sie werden am Telefon verlangt.«

Frank erhob sich, und der Detektiv wollte ihm folgen.

»Mach dir nur keine unnötigen Sorgen«, lachte Frank. »Die werden mich durchs Telefon nicht erschießen können. Und auf keinen Fall bekommen sie das Geld, da du es ja selbst in der Tasche hast.«

Zwei Minuten vergingen, und Frank Alwin kehrte nicht zurück.

Nach fünf Minuten wurde Wilbur unruhig und winkte einem Kellner.

»Gehen Sie einmal in die Vorhalle und sehen Sie nach, ob Mr. Alwin noch in der Telefonzelle ist.«

Der Mann kam kurz darauf wieder zurück.

»Mr. Alwin ist nicht dort.«

»Zum Teufel, was soll denn das heißen? Er ist nicht dort?«

Wilbur Smith sprang auf, stieß hastig den Stuhl zur Seite und lief in die große Halle. Der Portier an der Tür sagte, er hätte nicht beobachtet, daß Mr. Alwin hinausgegangen wäre. In den letzten fünf Minuten war er allerdings nicht auf seinem Posten gewesen. Dagegen hatte er draußen ein Auto gesehen, das vor dem Hoteleingang wartete. Bei seiner Rückkehr war es verschwunden.

Wilbur Smith eilte auf die verlassene Straße hinaus, aber obwohl er sich nach allen Seiten umschaute, konnte er doch niemand sehen. Der Hoteleingang wurde von zwei großen Bogenlampen hell erleuchtet. Am Rand des Gehsteigs sah Wilbur etwas liegen, ging darauf zu, bückte sich und hob es auf. Es war Franks Hut, zusammengeballt und feucht. Der Detektiv trug ihn näher ans Licht – ein Blick genügte ihm. Mit einer Hand hatte er das Innere berührt, und als er sie herauszog, war sie rot von Blut.

3

Stufen. Zwei Stufen – drei Stufen – vier Stufen – noch einmal vier Stufen. Treppenabsatz. Umdrehen. Eine Stufe – zwei Stufen – drei Stufen – vier Stufen – im ganzen elf Stufen – Treppenabsatz – nein, das war das Ende der Treppe.

Ein Schlüssel drehte sich, und wahrscheinlich öffnete sich eine Tür. Kalte, etwas muffige Luft wehte heraus, dann ging es weiter.

Frank Alwin kam das nach und nach zum Bewusstsein, oder wenigstens zum Halbbewusstsein, während sie ihn die Treppe hinuntertrugen. Seine Gedanken arbeiteten noch nicht vollkommen richtig, sonst hätte er nicht erst bei zwei zu zählen angefangen; sein Kopf schmerzte entsetzlich, und sein Gesicht war verklebt, als ob ihm jemand eine Gummilösung ins Gesicht gegossen hätte. Als er sich rühren wollte, fühlte er einen stechenden Schmerz im Arm, der vom Handgelenk bis zum Ellbogen brannte. Aber der Kopf war das schlimmste. Die Pulse in den Schläfen hämmerten; es war ihm, als ob sein Schädel in der Mitte durchgesägt worden sei und sich nun die beiden Hälften aneinander rieben. Die Qual war fast unerträglich. Am liebsten hätte er laut aufgeschrien, aber im Unterbewusstsein hatte er das Empfinden, daß er schweigen mußte. Er fühlte, daß ihn seine Träger mit der äußersten Sorgfalt behandelten und schließlich auf ein Bett legten.

Sprungfedermatratze, feuchtes Kissen, stellte er in Gedanken fest.

Eine elektrische Lampe wurde angedreht, und das blendendweiße Licht nach der absoluten Dunkelheit verursachte ihm noch größere Kopfschmerzen. Er stöhnte, drehte sich auf die andere Seite und stöhnte dann noch lauter.

 

»Donnerwetter«, sagte jemand. »Sieh dir einmal meinen Rock an. Blutflecken kann man niemals richtig auswaschen. Ich muß das Stück verbrennen. Es war auch zu blöd, daß wir ihn niederschlugen und hierherbrachten. Warum haben wir ihn nicht einfach auf der Straße liegenlassen?«

»Weil Rosie recht hat«, antwortete ein anderer.

Seine Stimme klang tiefer und unfreundlich.

»Rosie!« erwiderte der erste und lachte verächtlich.

Frank Alwin wunderte sich, wer wohl Rosie sein mochte. Trotz seiner großen Schmerzen dachte er nach.

Er besann sich jetzt, daß er aus dem Restaurant hinausgegangen war, weil, weil ... es fiel ihm im Augenblick nicht ein, warum er auf die Straße getreten war. Nur eine ungefähre Erinnerung der späteren Ereignisse war ihm geblieben. Auf jeden Fall lag er nun hier auf dem Bett, und er lebte noch – das war immerhin etwas. Aber die beiden hatten doch eben von Rosie gesprochen ...

»Ich sage dir, Rosie hatte recht«, sagte der Mann mit der rauen Stimme. »Dieser Smith ist der gefährlichste Kerl in New York, und wir haben alle Ursache, uns vor ihm in acht zu nehmen.«

»Und wie ist es mit Peter Corelly?« fragte der erste wieder.

Der zweite schwieg. Er schien sich die Sache zu überlegen.

»Peter Corelly?« erwiderte er nach einer langen Pause. »Selbstverständlich ist Peter Corelly gefährlich, aber Wilbur Smith würde ihn nicht zur Bearbeitung desselben Falles heranziehen. Außerdem ist es wohl eine viel zu schwierige Sache für Peter Corelly.«

Wieder trat eine Pause ein, und Alwin hörte, daß sich jemand die Hände wusch. Der Mann sang auch leise ein Lied. Es ist merkwürdig, daß die Leute anfangen zu singen, wenn irgendwo ein Wasserhahn läuft.

»Aber das ist doch alles nur Annahme«, meinte der erste wieder, und seine Stimme klang noch verächtlicher als vorher. »Rosie glaubt doch nicht, daß Wilbur Smith die Verfolgung aufgibt, wenn sein Freund in Gefahr ist? Und wie soll er überhaupt davon erfahren, daß wir ihn nicht gleich umgebracht haben? Rosie sagte, wir würden zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, aber bis jetzt haben wir noch nicht einmal eine Fliege erwischt Dieser armselige Tropf hat doch das Geld nicht, und er lebt!«

Wieder ein langes Schweigen.

»Ja«, brummte der andere, »das scheint so zu sein. Vielleicht müssen wir unseren Plan ändern. Hat er wirklich gesagt, daß er Smith das Geld übergab? Vielleicht war er auch so benommen, daß er nicht wußte, was er redete.«

»Der wußte ganz genau, was er sagte«, entgegnete der erste. »Wilbur Smith hat das Geld, und dadurch ändert sich die ganze Lage.«

Frank versuchte verzweifelt, sich klarzumachen, was in den letzten Stunden oder in den letzten Minuten passiert war. Wann hatte er gesagt, daß er das Geld Wilbur Smith eingehändigt hatte? Er konnte sich nicht mehr an die wenigen Minuten erinnern, in denen er während des Transports das Bewusstsein wiedererlangt hatte. Aber rein gefühlsmäßig ahnte er, daß der Mann die Wahrheit sagte, und stöhnte aufs neue.

Einer der Leute trat an das Bett und beugte sich über ihn.

»Sie, heda!« sagte der Mann mit der unangenehmen Stimme. »Fühlen Sie sich wohler?«

Frank versuchte krampfhaft, die Augen zu öffnen – nach mehrfachen Anstrengungen gelang es ihm endlich. Viel konnte er von dem anderen Mann nicht erkennen, denn der hatte sein Gesicht mit einem seidenen Taschentuch verdeckt.

»Sie haben Glück gehabt«, fuhr der Verbrecher fort. »Von Rechts wegen sollten Sie längst tot sein. Sie befinden sich hier in einem kleinen Haus, das für mich gebaut worden ist. Es ist hier sehr wohnlich und komfortabel. Sie können auch ein kaltes Bad zur Erfrischung nehmen, wenn Sie wollen.«

Frank stöhnte aufs neue, dann hörte er nichts mehr, denn er verlor wieder das Bewusstsein. Der Mann mit dem halbverdeckten Gesicht setzte sich nieder, legte den Bewußtlosen auf den Rücken und schob ihm vorsichtig ein Augenlid hoch.

»Ich glaubte schon, er wäre gestorben. Du hast ihn doch gar nicht so hart geschlagen, Sammy?«

Sein Kamerad lachte. Er war kleiner und untersetzter als der andere, aber schneller in seinen Bewegungen. Vorsichtig und behutsam untersuchte er Franks Kopfwunden.

»Es ist nichts Ernstes; ein wenig Blut hat er allerdings verloren.«

Er sah sich in dem Raum um; die Wände bestanden aus einfachen Ziegelmauern und waren nicht einmal verputzt.

»Es mag ja ganz nett hier sein«, sagte er dann, »aber ich bin froh, daß ich mich hier nicht dauernd aufhalten muß. Tom, wenn wir beide und Rosie uns jemals verstecken müssen, dann ist das jedenfalls der letzte Zufluchtsort, den wir wählen würden. Ich weiß wohl, daß es hier ein Bad und eine Bibliothek mit vielen Büchern gibt, auch Vorrat an Konserven für lange Zeit. Sicher kannst du dich ein ganzes Jahr lang hier versteckt halten, wenn du nicht unvorsichtig bist. Aber was uns vor sechs Monaten noch glänzend erschien, ist es heute nicht mehr. Ich hielt es zuerst auch für eine fabelhafte Idee, als Rosie diese Räume einrichtete. Er hat den ganzen Bau geplant, die Maurer von Mexiko herübergebracht und sie dann wieder fortgeschickt. Keiner hier in New York hat gesehen, wie das Haus gebaut wurde. Seit der Zeit haben wir viel Geld gemacht, Tom. Damals erschien die Sache verhältnismäßig klein, so daß man sich kaum darum zu kümmern brauchte, aber jetzt ist es eine große Sache geworden, und ich muß sagen, daß Rosie es sehr fein angefangen hat.«

»Ich weiß nicht, was du immer mit Rosie hast.«

»Du hast ihn doch eben selbst so gelobt! Übrigens denke ich im Augenblick an etwas«, sagte er plötzlich in verändertem Ton.

Auf der anderen Seite des Zimmers standen zwei große Überseekoffer. Tom öffnete den ersten und betrachtete den Inhalt: Bücher, Papier, Schreibzeug und alle möglichen Büroartikel.

»Rosie will, daß wir hier aufräumen.«

»Aufräumen«, wiederholte Alwin, der plötzlich wieder zum Bewusstsein kam.

»Dann soll er herkommen und es selber tun«, erwiderte Sammy. »Das hat doch keine Eile.«

Er überlegte einen Augenblick.

»Aber vielleicht wäre es doch ganz gut, wenn wir Rosies Aufforderung folgten«, fuhr er fort. »Er sagt, es wäre ein gut Teil von Dingen in den beiden Koffern, die wir gebrauchen könnten. Auch recht gefährliche Sachen, wenn sie in falsche Hände kämen. Wir könnten das Zeug morgen Abend zum Tempel mitnehmen. Und dann kann Rosie ja den Dummkopf überreden, es zu seinem Haus zu schicken.«

Wer ist wohl der Dummkopf? dachte Alwin. Er hörte, wie der eine seinen Stuhl gegen die Wand stellte.

»Jetzt wird es aber allmählich Zeit – warum kommt denn Rosie nicht?« fragte dann einer der beiden.

Plötzlich ertönte ein scharfes Klopfsignal. Frank glaubte, daß es von der Decke käme. Es klang, als ob jemand mit einem Spazierstock auf ein Steinpflaster stieße. Alwin überlegte sich, was wohl über dem Gewölbe sein mochte.

»Man braucht nur vom Wolf zu sprechen, dann ist er schon da«, sagte Sam. »Also, komm mit, Tom, er wird ja doch nicht heruntersteigen. Was soll er auch mit diesem Kerl hier machen?«

»Wir können ihn ruhig einen Augenblick allein lassen. Das Licht mag weiterbrennen! Vor allem wollen wir einmal hören, was Rosie zu berichten hat.«

Sie schlossen die Tür leise hinter sich, und Frank wandte mit größter Mühe den Kopf um. Er befand sich in einem geräumigen Keller. Allem Anschein nach waren die Mauern erst vor kurzer Zeit errichtet worden. Der Raum hatte einen rechteckigen Grundriss. Der Betonfußboden war mit weichen Matten bedeckt. Jedenfalls stellte man sich einen Keller im allgemeinen ganz anders vor. In dem sauberen und gutgelüfteten Raum standen drei Betten. Auf einem lag Alwin; die beiden anderen sah er zu beiden Seiten der Tür. Ein großer, einfacher Tisch nahm die Mitte des Zimmers ein; zwei Stühle und ein Sessel waren um ihn herum angeordnet. Diese Möbel und die beiden großen Kabinenkoffer bildeten die ganze Ausstattung des geräumigen Kellers.

In der Ecke, die am weitesten von der Eingangstür entfernt war, befand sich eine Tür; sie führte wahrscheinlich zu dem Baderaum, von dem der Mann vorher gesprochen hatte.

Mit einer außerordentlichen Willensanstrengung gelang es Alwin, sich bis zur Ecke des Bettes zu schieben. Dann klammerte er sich an das Fußende und erhob sich.

Alles um ihn her drehte sich. Er fühlte sich so unsicher, daß er jeden Augenblick umzusinken drohte, aber er riß sich zusammen, um nicht ohnmächtig zu werden. Vor allem hinderten ihn die furchtbaren Kopfschmerzen an klarem Denken. Trotzdem wollte er das Zimmer nach Waffen durchsuchen, die die anderen vielleicht unvorsichtigerweise zurückgelassen hatten – aber er war noch zu schwach.

Nachdem er sich ein paar Augenblicke unter größter Anstrengung aufrecht gehalten hatte, sank er wieder aufs Bett und legte sich hin. Die Erleichterung und die Ruhe taten ihm so wohl, daß er vorläufig nicht mehr den Versuch machte, sich zu erheben. Vorsichtig tastete er mit der Hand an den Kopf und entdeckte, daß man ihn oberflächlich verbunden hatte. Es blieb ihm im Augenblick nichts anderes übrig, als sich von der furchtbaren Schwäche zu erholen.

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