Das Verrätertor

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Das Verrätertor
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LUNATA




Das Verrätertor




Das Verrätertor



Kriminalroman



© 1927 by Edgar Wallace



Originaltitel

 The Traitor's Gate



Aus dem Englischen von Ravi Ravendro



© Lunata Berlin 2020




Inhalt





Kapitel 1







Kapitel 2







Kapitel 3







Kapitel 4







Kapitel 5







Kapitel 6







Kapitel 7







Kapitel 8







Kapitel 9







Kapitel 10







Kapitel 11







Kapitel 12







Kapitel 13







Kapitel 14







Kapitel 15







Kapitel 16







Kapitel 17







Kapitel 18







Kapitel 19







Kapitel 20







Kapitel 21







Kapitel 22







Kapitel 23







1



Gewehr ab!«



Einunddreißig Gewehre bewegten sich mit einem Schlag – einunddreißig weiße Hände flogen wie ein Blitz an einunddreißig Hosennähte, als ob sie gleichmäßig von einer unsichtbaren Maschine bewegt würden. Wie aus Erz gegossen stand die Linie feuerroter Uniformen, die großen Tschakos aus Bärenfell waren tadellos ausgerichtet. Die Marschmusik brach dröhnend und donnernd ab, als die letzten vier Mann der alten Wache um die Ecke des Weißen Turmes schwenkten und verschwanden.



»Wegtreten!«



Bobby Longfellow steckte die blanke Säbelklinge in die Scheide, klemmte das Monokel fester und schaute auf die kleine Kirche St. Peter ad Vincula, die im lichten Schein eines Sommermorgens vor ihm lag. Er bemerkte eine kleine, dicke Dame, die mit einem Führer in der Hand auf ihn zukam. Sein Sergeant, der in straffer Haltung neben ihm stand, beobachtete den Vorgang. Ein leises Lächeln huschte unbemerkt über sein dunkelbraunes Gesicht.



»Entschuldigen Sie, Sir!«



Bobby maß mehr als 1,83 Meter. Die Stimme drang von unten zu ihm herauf, und er blickte hinab. Die füllige Dame trug einen kleinen, altmodischen Hut und einen mit Perlen verzierten Umhang. An ihrem Ausschnitt prangte eine große Kameenbrosche. Ihr Gesicht war von der Hitze gerötet. Sie hatte intelligente Züge. Bobby betrachtete ihr dreifaches Kinn und die große, männliche Nase.



»Es tut mir leid – hm ...«



»Könnten Sie mir vielleicht sagen, wo das Grab der Lady Jane Grey liegt?«



Sie sprach mit tiefer Bassstimme. Er blinzelte sie an, als ob er plötzlich aus dem Dunkeln in helles Licht gekommen wäre.



»Lady –?«



»Lady Jane Grey, Sir.«



Er schaute hilflos nach seinem Sergeanten hinüber, und seine weißbehandschuhten Hände spielten nervös mit dem kleinen Schnurrbart.



»Haben Sie sich schon auf dem Kirchhof umgeschaut?« fragte er und hoffte, sie damit loszuwerden.



»Auf welchem Kirchhof, Sir?«



Bobby sandte wieder einen Blick zu seinem Sergeanten, aber der blieb stumm.



»Nun – hm – auf irgendeinem Kirchhof! Kennen Sie diese tote Lady, Sergeant?«



»Ich habe sie bis jetzt noch nicht gesehen.«



Bobby räusperte sich, um den Irrtum des Sergeanten zu korrigieren.



»Lady – wie hieß doch der Name gleich? Grey?«



Die starke Dame kam ihm zu Hilfe.



»Ihr Grab liegt in der Nähe des Tower«, sagte sie leise.



Bobby zeigte mit der Rechten auf die Gebäude.



»Dies alles ist Tower – das stimmt doch, Sergeant?« fragte er etwas verärgert.



Der Sergeant bejahte.



»Sie fragen besser einen Beefeater, einen Aufseher, Madam.«



Er wollte sich gegen die Beleidigung verwahren, daß man einen Gardeoffizier in voller Galauniform mit einem Fremdenführer verwechselte. Das war ihm bisher noch nicht vorgekommen. Er war zum erstenmal wachhabender Offizier im Tower, und das war gar nicht so sehr nach seinem Geschmack. Er verfluchte die Gluthitze des heutigen Tages und war keineswegs mit dem enganliegenden feuerroten Waffenrock und dem hohen Bärenfelltschako, unter dem man so schwitzte, einverstanden. Ganz offen gesagt, hätte Leutnant Robert Longfellow im Augenblick alles andere lieber sein mögen als ein Subalternoffizier von Seiner Majestät Berwick-Garde.



Die starke Dame zog wieder ihren Führer zu Rate. »Wo werden die Kronjuwelen aufbewahrt?«



»Im Geldschrank, Madam!« sagte Bobby prompt.



Glücklicherweise kam gerade ein berufsmäßiger Fremdenführer dazu und brachte die Besucherin zu seiner großen Erleichterung zu dem Wakefield Tower.



»Wie ekelhaft solche Ausfragerei ist!« sagte Bobby. »Was, zum Henker, sollte ich ihr denn sagen, Sergeant?«



»Nichts«, sagte der Mann. Bobby grinste und ging in die Wachstube und dann nach seiner Privatwohnung.



Mrs. Ollorby aber sah sich weiter die Sehenswürdigkeiten des Tower an. In Wirklichkeit hatte sie weder an den Kronjuwelen noch an der unglücklichen Jane Interesse, die nur einige Meter von der Stelle entfernt, wo Mrs. Ollorby ihre unangebrachten Fragen gestellt hatte, enthauptet worden war.



Eine andere Besucherin aber nahm an demselben Morgen großen Anteil an dem tragischen Geschick Janes. Hope Joyner stand vor dem kleinen, viereckigen Stein, der durch eine Eisenkette gesichert wird, damit er nicht von Menschenschritten entweiht wird. Sie schaute auf die einfache Inschrift. Dann schweifte ihr Blick zu der kleinen Kirche, wo die sterblichen Reste der unglücklichen jungen Frau zur letzten Ruhe gebettet waren.



»Arme – arme Jane!« sagte sie mit weicher Stimme. Ihr Begleiter Richard Hallowell fand nicht den Mut, darüber zu lächeln.



Hier beklagte Jugend das Dahinscheiden der Jugend. Ein junges Mädchen beugte sich mitleidig über die Stelle, wo damals Janes langes Haar über ihr Haupt geschlungen wurde, damit das Henkerbeil ungehindert seine grauenvolle Arbeit verrichten konnte. Er konnte ihr vollendet schönes Profil sehen. In dieser trauernd geneigten Haltung sah ihre Gestalt noch viel graziöser aus als sonst. Ihre zarte, reine Gesichtsfarbe hob sich wundervoll von dem grauen Hintergrund des alten Mauerwerks ab. Die Tragödie des ehrgeizigen Somerset wirkte durch die Anwesenheit dieses schönen jungen Mädchens nur noch bitterer und schmerzlicher.



»War es nicht schrecklich? Sie wohnte in King's House ... Von dem Fenster aus sah sie, wie man ihren toten Gatten forttrug ...«



»Hope, Sie machen den lachenden Morgen durch solche Betrachtungen todtraurig!«



Sie lächelte ihn schnell an und legte ihre Hand auf seinen Arm.



»Ja – es ist nicht richtig von mir, Dick! Ich will es lassen. Ist der prächtige Offizier dort nicht Bobby?«



Die lange, schlanke Gestalt des wachhabenden Offiziers erschien unter der Veranda des Wachthauses.



»Ja, das ist Bobby. Gestern Abend kam er vom Urlaub zurück, und heute macht er seine erste Wache.« Dick lachte leise. »Er ist ein geborener Müßiggänger – ein klein wenig Tätigkeit befriedigt ihn vollkommen.«



»Das ist das erste Mal, daß Sie heute gelacht haben«, hielt sie ihm vor. Er hätte ihr gern gesagt, daß er an diesem Morgen wenig Grund zum Fröhlichsein hatte, aber er schwieg.



Dick Hallowell sah in der schwarzen, tadellos sitzenden Offiziersuniform mit der feuerroten Binde sehr gut aus. Er war einen Kopf größer als Hope. Seine grauen Augen blickten kühn und klar in die Welt. In seinem Gang lag die Geschmeidigkeit und Biegsamkeit des trainierten Sportlers.



»Nun habe ich Ihnen alles gezeigt«, sagte er. »Ich hoffte, es würde den ganzen Tag dauern.«



Sie lachte leise.



»Das ist nicht wahr! Sie sind ganz unruhig geworden und möchten mich gern los sein, seitdem Ihr Bursche kam. Wartet jemand auf Sie?« Bevor er antworten konnte, fuhr sie fort: »Ich bin eine geborene Hellseherin – und außerdem kenne ich den Tower schon sehr gut. Aber ich wollte zu gerne einmal sehen, wie Sie eigentlich in Uniform aussehen!«



Als sie sprach, kam ihr mit Bedauern zum Bewusstsein, daß sie sich erst kurze Zeit kannten. Vor nicht ganz einem Monat waren sie einander begegnet. Sie hatte eine Bootsstange im schäumenden Kielwasser eines Dampfers auf der Themse verloren und sich mit ihrem Boot im Weidengestrüpp verstrickt. Er ruderte herbei, um sie zu befreien, und war sehr ausgelassen. – Jetzt gingen sie dem Löwentor zu. Unter einem Torbogen machten sie halt und schauten zusammen auf die düstere Holzschranke, hinter der der Fluß lag.

 



»Das Verrätertor!«



Sie schauderte, wußte aber nicht, warum.



»Ja – das Verrätertor«, nickte er, »ein altehrwürdiges Tor heutzutage. Man denkt kaum noch daran, daß Königinnen und Hofleute diese Stufen betraten.«



Sie lachte wieder, dann gingen sie weiter. Die Schildwachen salutierten. Jetzt erreichten sie die geschäftige Welt von Tower Hill. Schwere, mit Kisten hochbeladene Lastwagen ratterten an ihnen vorbei. Vom nahen Billingsgate zog Fischgeruch herüber.



Hopes schönes Auto hielt am Straßenrand. Dick öffnete den Schlag.



»Wann werde ich Sie wiedersehen?«



Sie lächelte bei seiner Frage.



»Wann Sie wollen. Mein Name steht im Telefonbuch.«



»Was unternehmen Sie jetzt?«



Sie machte kein frohes Gesicht.



»Ich habe eine unangenehme Unterredung vor mir«, sagte sie.



Er schaute sie groß an, denn auch ihm stand ähnliches bevor, aber er sagte ihr nichts davon.



Er sah ihrem Wagen nach, bis er außer Sicht war. Dann ging er den Hügel hinunter, über die Brücke, die den alten Festungsgraben überspannt. Er lächelte nicht mehr, und nicht einmal der stumme, aber beredte Gruß, den Bobby ihm zunickte, als er durch die Wachstube ging, konnte die bösen Wolken von seiner Stirn verscheuchen.



Am Eingang seiner Wohnung wartete Brill, sein Bursche, und meldete einen Besucher.



»Der Herr bat mich, Sie zu suchen. Er hätte eine Verabredung mit Ihnen.«



Dick Hallowell nickte langsam.



»Ich brauche Sie in der nächsten Viertelstunde nicht, Brill«, sagte er. »Sie bleiben an der Tür, und wenn jemand kommt, sagen Sie, daß ich sehr beschäftigt sei.«



»Jawohl, Sir Richard.«



»Und Brill – hat der, hm, Herr etwas gesagt – ich meine, über sich selbst?«



Brill zögerte.



»Nein, Sir. Er schien übler Laune zu sein und sagte, daß Sie sehr froh sein müßten, eine derartige Wohnung zu haben –«



Wieder zögerte er.



»Hat er sonst noch etwas gesagt?«



»Nein, das ist alles ... Er lachte so höhnisch. Sonst ist nicht viel los mit ihm, soweit ich sehen kann.«



»Ja, Sie haben recht – nichts.«



Dick ging die Steintreppe hinauf und machte vor einer Tür halt. Mit düsterem Gesicht stieß er sie auf und ging hinein. Am Fenster des vornehm ausgestatteten Wohnzimmers stand ein Mann und schaute hinaus. Er schien das Exerzieren der Soldaten im Hof zu beobachten. Als er sich jetzt zu Dick umwandte, sah man ein hageres und unzufriedenes Gesicht. Er trug schäbige Kleidung, und seine Absätze waren abgetreten. Trotzdem glich er in seinen Zügen und in seiner Haltung auffällig dem schweigenden Offizier, der ihn aufmerksam betrachtete.



»Hallo!«



Er ging Dick einige Schritte entgegen und sah ihn forschend an. Sein Betragen war weder freundlich noch beleidigend.



»Hallo – Bruder!«



Dick sagte nichts. Als sie einander gegenüberstanden, konnte man die Familienähnlichkeit noch deutlicher sehen, und doch waren beide verschieden. Wenn Graham Hallowell nicht so rau gesprochen hätte, wäre seine Stimme der seines Bruders vollkommen gleich gewesen. Aber er hatte die liebenswürdigen Umgangsformen von früher abgestreift und hatte vergessen, daß er einst die Ruderboote einer berühmten Schule geführt und der Stolz und die Zierde der Universität gewesen war.



Jetzt wußte er nur, daß er ein vom Schicksal hart mitgenommener Mann war, der niemals eine Chance gehabt hatte. Er war so verbittert, daß er sich nur noch an die Not und die bösen Erfahrungen seines Lebens erinnerte.



»Deine Begrüßung ist genauso begeistert wie immer«, sagte er höhnisch, »und ich will wetten, daß du mich nicht zum Essen in die Offiziersmesse einlädst! ›Hier ist mein Bruder – Graham Hallowell, der gestern von Dartmoor entlassen wurde und der Ihnen interessante Geschichten aus dieser Hölle erzählen kann!‹«



Seine Stimme wurde immer lauter, bis er schließlich schrie. Dick merkte, daß er getrunken hatte und in seiner bösartigsten Stimmung war. »Auch dein verdammter Bursche behandelt mich, als ob ich ein Aussätziger wäre –«



»Das bist du auch«, sagte Dick mit leiser, aber klarer Stimme. »Ein Aussätziger – das ist die richtige Bezeichnung für dich, Graham! An dir ist etwas Verfaultes, dem Leute, die noch Selbstachtung haben, aus dem Wege gehen. – Und schrei nicht so, wenn du mit mir sprichst, sonst packe ich dich am Kragen und werfe dich die Treppe hinunter. Hast du mich verstanden?«



Der andere ließ sich durch diese Drohung einschüchtern und wurde aus einem prahlenden Raufbold zu einem jammernden Bettler.



»Kümmere dich nicht um mich, Dick – ich habe heute morgen schon zehn Glas getrunken –, alter Junge, stell dir doch vor, wie dir zumute wäre, wenn du gestern aus dem Gefängnis entlassen worden wärest! Versetze dich einmal in meine Lage!«



Dick unterbrach ihn.



»Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie ich mich fühlen würde, wenn ich fürs Gefängnis reif wäre«, sagte er kühl. »Solche Einbildungskraft besitze ich nicht. Es ist mir einfach unmöglich, mich an deine Stelle zu denken, als du einen jungen, unerfahrenen Gardeoffizier betäubtest und beraubtest. Der Mann schenkte dir sein Vertrauen, weil du mein Halbbruder bist. Noch unmöglicher erscheint es mir, mit der Frau eines angesehenen Mannes durchzubrennen und sie nachher in Wien in Hunger, Elend und Schande sitzenzulassen. – Und noch so vieles andere, dessen ich nicht fähig wäre. Aber ich will lieber nichts mehr davon erwähnen. Wenn ich mich an deine Stelle setzen und begreifen könnte, wie ein Mann so niederträchtig sein kann wie du – ja, dann würde ich deine augenblicklichen Gefühle vielleicht eher teilen können. – Was willst du von mir?«



Grahams unruhiger Blick irrte zum Fenster.



»Mein Leben ist verpfuscht«, sagte er verdrießlich. »Ich dachte daran, nach Amerika zu gehen –«



»Hat die amerikanische Polizei entdeckt, daß man in Amerika dringend Gesindel braucht, weil du ausgerechnet dorthin gehen willst?«



»Du bist hartherzig wie die Hölle, Dick.«



Dick Hallowell lachte – aber es war kein frohes Lachen.



»Wieviel willst du haben?«



»Den Fahrpreis nach New York –«



»Du wirst mit deinen Personalakten nicht in die Vereinigten Staaten kommen, das weißt du doch ganz genau.«



»Ich könnte ja einen anderen Namen annehmen –«



»Du wirst nicht fahren – du hast ja auch gar nicht die Absicht, das zu tun.« Dick setzte sich an seinen Schreibtisch, öffnete eine Schublade, nahm ein Scheckbuch heraus und schrieb.



»Ich habe dir einen Scheck über fünfzig Pfund ausgeschrieben, und ich habe ihn so ausgefüllt, daß du ihn unmöglich auf fünfhundert umändern kannst, wie du es mit meinem letzten Scheck getan hast. Außerdem werde ich diesmal meine Bank telefonisch von der Höhe der Summe verständigen.« Er riß das Blatt aus dem Heft und gab es seinem düster dreinschauenden Bruder.



»Das ist das letzte, was du von mir bekommst. Wenn du dir einbildest, daß du mich zwingen kannst, dir Geld zu geben, weil du hierher kommst, dann hast du etwas anderes zu erwarten. Der Oberst und meine Kameraden wissen alles von dir. Der Offizier, den du damals beschwindelt hast, ist gerade auf Wache. Wenn du mir irgendwie Schwierigkeiten machst, lasse ich dich einsperren. Verstanden?«



Graham Hallowell steckte den Scheck in die Tasche.



»Du bist zu hart«, jammerte er. »Wenn Vater das wüßte –«



»Gott sei Dank ist er tot!« sagte Dick düster. »Aber er wußte genug von dir und starb an gebrochenem Herzen. Das trage ich dir nach, Graham.«



Graham atmete schwer. Nur die Furcht hielt seine Wut in Schranken. Er haßte seinen Halbbruder. Er hätte ihn beleidigen, demütigen, peinigen können, aber es fehlte ihm der Mut dazu.



»Durch das Fenster sah ich, wie du mit einem schönen Mädchen sprachst.« – »Sei ruhig!« fuhr Dick auf. »Ich vertrage es nicht, dich über eine Frau reden zu hören!«



»Sieh mal an!« Graham verfiel wieder in seine frühere Unverschämtheit. »Ich wollte dich nur fragen – weiß Diana –?«



Dick ging zur Tür und riß sie weit auf.



»Mach, daß du hinauskommst!« sagte er kurz.



»Diana –«



»Diana bedeutet mir nichts mehr. Erinnere dich gefälligst daran. Ich liebe auch ihre Freunde nicht.«



»Meinst du mich damit?«



Dick nickte.



Graham zuckte die Achseln und entfernte sich hochmütig.



»Dieser Platz hier ist wie ein Gefängnis – aber ich werde schon meinen Weg hinausfinden.«



»Der beste Ausweg für dich ist, wenn du wieder hinter Schloss und Riegel sitzt.« Richard Hallowell lachte grimmig.



»Was ist das?« fragte Graham unten.



»Das Verrätertor«, sagte Dick und warf den schweren Flügel hinter ihm zu.





2



Das Telefon läutete schon zum dritten Mal. Diana Martyn legte endlich den kleinen, langhaarigen Schoßhund auf ein Kissen und nahm nachlässig den Hörer ab. Es war natürlich Colley, der sie wie immer mit Vorwürfen quälte, weil es zu lange dauerte, bis sie sich meldete.



»Wenn wir gewußt hätten, daß Eure gestrenge Hoheit am Apparat wären, hätten wir uns gleich beim ersten Läuten beeilt«, sagte Diana ironisch.



Colley ärgerte sich über diesen Ton. Er haßte sarkastische Frauen.



»Kannst du mich zum Essen bei Ciro treffen?« fragte er.



»Nein, wir können mit Euch nirgends speisen. Mr. Graham Hallowell wird heute bei mir zu Tisch sein.«



Anscheinend war die Nachricht eine Überraschung für ihn.



»Hallowell? Ich kann dich nicht deutlich verstehen, Diana – rauchst du?«



Sie blies eine graue Wolke zur Decke und streifte dann die Asche ihrer Zigarette in die Kristallschale.



»Nein«, sagte sie. »Aber ich bin heute morgen etwas durcheinander. Die Aussicht, mit einem Mann allein zu sein, der gerade aus dem Gefängnis kommt, ist wenig verlockend. Er sieht im Augenblick nicht eben zum Fotografieren aus. Auch war er wirklich nicht zu Unrecht verurteilt –«



»Höre einmal, Di –«



»Du sollst mich nicht immer Di nennen«, unterbrach sie ihn ärgerlich.



»Diana, der große Herr möchte dich sprechen – in allen Ehren – er sagte es mir –«



»Bestelle dem großen Herrn, daß ich ihn nicht sehen will«, entgegnete sie ruhig. »Ein Verbrecher am Tag bringt gerade genug Ärger.«



Er schwieg einen Augenblick.



»Sei doch nicht so komisch, ich glaube ja gar nicht, daß du mit Hallowell speist!«



Sie legte den Hörer auf den Tisch und nahm ihr Buch wieder auf. Wenn Colley Warrington ungezogen oder schwierig wurde, legte sie unweigerlich den Hörer fort und ließ ihn ruhig summen.



Und Colley konnte sehr unangenehm sein. Manchmal war er in sie verliebt; und manchmal war er rasend eifersüchtig. Augenblicklich war er wieder ihr Liebhaber, aber er langweilte sie.



Es wurde leise an die Tür geklopft. Dombret kam herein, ihr Taftkleid rauschte. Diana kleidete ihre Zofe stets in dunkelrote Taftseide und bestand auf Tändelschürzen und hohen Frisuren, wie sie die Kellnerinnen in den Cafés tragen. Dombret war zwanzig Jahre alt und sehr hübsch. Die knisternde Seide kleidete sie gut.



»Wollen Sie Miss Joyner empfangen, gnädiges Fräulein?«



»Miss Joyner?« Diana starrte die Zofe an. »Haben Sie richtig gehört? – Miss Joyner?«



»Jawohl, gnädiges Fräulein. Eine sehr hübsche junge Dame.«



Diana überlegte schnell.



»Bitten Sie die Dame, näher zu treten.«



Dombret verließ das Zimmer nur einen Augenblick.



»Miss Joyner.«



Diana ging quer über das Parkett. Sie streckte dem Besuch ihre Hand entgegen. Ein entzücktes Lächeln spielte auf ihrem blassen Gesicht. Sie trat selbstbewußt auf, denn sie wußte, wie vollendet die Linien ihrer Gestalt waren und wie verführerisch ihr rötlich-blondes Haar glänzte.



»Es ist sehr liebenswürdig von Ihnen, daß Sie kommen, Miss Joyner.«



Hope Joyner nahm die Hand. Ihre klaren grauen Augen begegneten Dianas Blick weder feindlich noch argwöhnisch. Sie war drei Jahre jünger als Diana und befand sich in dem Alter, in dem es schwierig ist, sich an das Aussehen vor einem Jahr zu erinnern.



»Ist Ihnen mein Besuch auch recht?« fragte sie.



Das also war Hope Joyner. Sie sah liebreizend aus. Diana war sehr kritisch, aber hier fand sie nichts auszusetzen, weder an ihrer Figur noch an ihrer Stimme, noch am Teint.



»Es ist mir sehr angenehm – bitte, nehmen Sie Platz!«

 



Sie nahm das verschlafene Hündchen vom Kissen. Durch heftiges Bellen protestierte der Kleine, bis er durch einen Puff zur Ruhe gebracht wurde. Prügel und Liebkosungen wechselten bei Togo ab, daran war er schon gewöhnt. Aber Hope blieb stehen. Nur ihre weiße Hand legte sie auf die Polsterlehne des Sessels.



»Ich habe einen Brief von Ihnen bekommen – einen sehr merkwürdigen Brief«, sagte sie. »Darf ich ihn noch einmal vorlesen? Vielleicht haben Sie vergessen, was Sie geschrieben haben.«



Diana vergaß solche Dinge nie, aber sie erhob keinen Widerspruch. Sie beobachtete das Mädchen mit besonderem Interesse, als sie ihre Handtasche öffnete. Hope zog einen Umschlag heraus und entnahm diesem einen schweren grauen Bogen. Ohne Einleitung begann sie zu lesen:



»Liebe Miss Joyner, ich hoffe, Sie werden es nicht unverschämt von mir finden, daß ich Ihnen in einer Angelegenheit, die mich nahe angeht, schreibe. Ich weiß genug von Ihnen, um zu glauben, daß Sie mein Vertrauen respektieren werden. Kurz gesagt, ich bin in einer verwirrenden Lage. Vor Ihrem Erscheinen war ich mit Sir Richard Hallowell verlobt. Wir sind durch eine Familienangelegenheit, die kein besonderes Interesse für Sie hat, zur Zeit entfremdet. Sie sind mit ihm in der letzten Zeit sehr häufig gesehen worden, und man spricht sehr unfreundlich von Ihnen. Man fragt, wer Sie sind, woher Sie kommen, wie es mit Ihrer Familie steht. Dies geht mich jedoch weniger an als meine persönliche Lage. Ich liebe Dick zärtlich, und er liebt mich, obgleich wir im Augenblick nicht miteinander sprechen. Darf ich mich nun an Ihre Großmut wenden und Sie bitten, uns eine Gelegenheit zu geben, unsere Freundschaft zu erneuern?«



Als sie zu Ende war, steckte sie den Brief wieder in ihre Handtasche und schloss sie leise.



»Ich glaube nicht, daß ich eine unvernünftige Bitte an Sie gerichtet habe«, sagte Diana kühl.



»Ich soll mich selbst unglücklich machen?« fragte Hope mit ruhiger, betonter Stimme. »Warum denn? Sie haben doch alle Vorteile auf Ihrer Seite. Nehmen Sie sich nicht etwas viel heraus?«



Diana biß sich gedankenvoll auf die Lippen.



»Es mag sein – es war ein dummer Brief, aber ich war etwas verwirrt. Aber das macht ja nichts. Sie sind ja nur seine Freundin und sorgen sich um ihn –«



Hope schüttelte den Kopf.



»Das meine ich nicht. Ich wollte Sie fragen, ob Sie sich nicht zu viel herausnehmen, wenn Sie ein so großes Opfer von mir verlangen?«



Diana kniff die Augen zusammen.



»Sie meinen – daß Sie ihn lieben?«



»Ja, das meine ich«, sagte sie.



Dieses Bekenntnis nahm Diana den Atem, und es dauerte einige Zeit, bevor sie wieder sprechen konnte.



»Wie interessant!« sagte sie, aber Hope Joyner reagierte auf die höhnische Bemerkung nicht. »Ich muß also annehmen, daß meine verständliche Bitte Sie von Ihrem« – sie machte eine wohlüberlegte Pause – »ehrgeizigen Plan nicht abhält?«



»Ist es denn so ehrgeizig«, fragte Hope mit verblüffender Unschuld. »Dick Hallowell gern zu haben oder ihn zu lieben?«



Diana nahm sich zusammen. Sie hatte nicht erwartet, daß ihr der Brief von Nutzen sein konnte, sie hatte ihn nur in einer Laune geschrieben. Vielleicht beabsichtigte sie, Dick Hallowell zu verletzen oder zu ärgern. Und jetzt, da das Mädchen mit ihrem reinen, festen Vertrauen zur Liebe vor ihr stand, sah sie eine Herausforderung darin, daß sie hierher kam und ihr furchtlos in die Augen schaute. Und es war nicht gut, Diana herauszufordern.



Es war seltsam, daß in diesem Augenblick alles längst erstorbene Gefühl wieder in ihr lebendig wurde und die Glut, die sie vor vier Jahren verzehrt hatte, wieder heiß aufloderte. Die dunklen Schatten früherer Möglichkeiten tauchten in ihr auf ...



Hope sah, wie Diana schluckte und wie sie die Zähne aufeinanderbiss, selbst als sie lächelte.



»Ich will Ihnen etwas zeigen.«



Diana sprach mit einer ihr selbst fremden Stimme. Sie verließ den Raum für einige Sekunden. Als sie zurückkam, hielt sie ein kleines Lederkästchen in der Hand. Sie drückte den Deckel auf. Es lag ein Ring mit drei feurigen Brillanten darin. Sie nahm ihn heraus und gab ihn Hope, die darüber nicht gerade erfreut war.



»Lesen Sie bitte die Inschrift.«



Mechanisch tat sie es, obgleich es ihr unangenehm war. Auf der Innenseite war eingraviert: »Dick seiner Diana.«



Hope gab den Ring zurück.



»Nun?« fragte Diana.



»Ein Verlobungsring?«



Diana nickte, Hope schaute sie verwirrt an.



»Ändert denn das – etwas an der Lage?« fragte sie. »Wiegt dieser Grund schwerer als das, was Sie mir bereits gesagt haben? Sollte ich deswegen Dick Hallowell meiden? Ich weiß, daß Sie mit ihm verlobt waren – wenigstens sagte er mir, daß er früher verlobt war. Die meisten Leute sind mehr als einmal verlobt, nicht wahr? Miss Martyn, erwarten Sie im Ernst von mir, daß ich Richard Hallowell nicht wiedersehen soll?«



»Ich erwarte von Ihnen, daß Sie tun, was Ihnen beliebt.« Dianas Stimme klang beinahe streng. Dann zuckte sie die Schultern. »Es ist natürlich eine Sache des Geschmacks und der guten Erziehung.« Sie schaute auf Hopes Handtasche. »Vielleicht war es doch zu indiskret, einen solchen Brief zu schreiben«, sagte sie und streckte ihre Hand aus. »Geben Sie ihn mir bitte zurück.«



Wieder trafen sich ihre Augen. Dann machte Hope ihre Handtasche auf, nahm den Brief heraus, riß ihn in vier Stücke und legte die Papierfetzen auf den Tisch. Mit einem leichten Nicken verließ sie den Raum so unerwartet, daß die neugierige Dombret, die ihr Ohr ans Schlüsselloch gelegt hatte, beinahe ins Zimmer gefallen wäre, als Hope die Tür öffnete.



Diana ging zum Fenster, um sie noch einmal zu sehen, wenn sie das Haus verließ, aber sie bekam sie nicht mehr zu Gesicht. Warum in aller Welt ...?



Diana Martyn war über sich selbst und über ihre Motive im unklaren. Sie hatte schon vor Jahren alle Gedanken an Dick Hallowell aufgegeben. Er bedeutete ihr kaum noch etwas. Sie versuchte, sich zu vergegenwärtigen, warum sie diesen Brief geschrieben hatte. Es war etwas Unberechenbares in Diana Martyn, eine merkwürdige Bosheit, die sie schon früher in manche kleine – einmal sogar in eine große – Unannehmlichkeit gebracht hatte. Sie mochte nicht mehr an diesen Brief denken, da er mit Dick Hallowell zu tun hatte. Sie hatte ihn böswilligerweise geschrieben, denn sie zweifelte nicht, daß Hope ihm das Schreiben zeigen würde, und erwartete dann von ihm einen jener wütenden Briefe, die er schreiben konnte. Auf keinen Fall hatte sie angenommen, daß diese Hope mit ihrer ruhigen, aufreizenden Schönheit hier in ihrer eigenen Wohnung erscheinen würde.



Sie versuchte ihrer Erregung Herr zu werden, als Dombret eintrat, um einen Besuch anzumelden, der ihr auf dem Fuß folgte. Diana saß in einem der breiten Sessel am Fenster, das eine gute Übersicht auf die Curzon Street ermöglichte. Ihre Arme waren gekreuzt, mit einer Hand stützte sie ihr Kinn. Als der Besucher hereinkam, betrachtete sie kritisch und unbarmherzig seinen schäbigen Anzug. Er blickte düster drein und hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt. Sie wartete, bis sich die Tür hinter Dombret geschlossen hatte, dann fragte sie: »Warum?«



»Was willst du mit dem ›Warum‹ sagen?« entgegnete er rau.



»Warum kommst du so abgerissen?«



Graham Hallowell schaute an seinem schmutzigen Anzug hinunter und grinste. »Ich vergaß, mich umzuziehen«, sagte er.



Sie nickte langsam.



»Du hast in diesem Aufzug den großen Richard besucht– hat deine sichtliche Armut keinen Eindruck auf ihn gemacht?«



Er ließ sich in einen großen Sessel fallen, zog eine Packung Zigaretten hervor und zündete eine an, ohne zu antworten.



»Hast du einen besonderen Grund, in der Curzon Street als Vagabund aufzutauchen? Mich läßt das ganz kalt.«



»Auch er war nicht sehr erbaut«, sagte er, indem er eine Rauchwolke zur Decke emporblies und wartete, bis sie sich auflöste. »Er gab mir schäbige fünfzig Pfund – beinahe hätte ich sie ihm an den Kopf geworfen!«



»Aber du hast es doch bleibenlassen!«



Er ließ sich durch ihren höhnischen Ton nicht aufbringen. Das gehörte eben einmal zu ihr. Früher hatten ihn ihre spöttischen Bemerkungen wild und verrückt gemacht, aber das war schon sehr lange her.


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