Das Mädchen aus der Untergasse 13

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Das Mädchen aus der Untergasse 13
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Inhaltsverzeichnis

Impressum 2

Zitat 3

Vorwort 5

Kapitel I - Frühe Kindheit 8

Kapitel II - Die ersten Jahre im neuen Haus und die Grundschulzeit 42

Kapitel III - Die Gymnasialzeit 72

Kapitel IV - Die Studienzeit in Heidelberg 93

Kapitel V - Studienzeit in Dortmund 101

Kapitel VI - Wartezeit und Referendariat 109

Kapitel VII - Meine Zeit in Gießen 114

Kapitel VIII - Zurück in Marburg 145

Kapitel IX - Reflexion 162

Kapitel X - Abschließende Gedanken 177

Anhang A - Bilder aus meinem „Behinderten-Cartoon-Büchlein“ 225

Anhang B - Aquarelle und sonstige Bilder 240

Anhang C - Cartoons über diverse Themen 250

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2022 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99107-758-9

ISBN e-book: 978-3-99107-759-6

Lektorat: Mag. Angelika Mählich

Umschlagfoto: Dorothea Theis; Kitekit | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

Innenabbildungen: Dorothea Theis

www.novumverlag.com

Zitat

Auch aus Steinen,

die einem in den Weg gelegt werden,

kann man oft noch was Schönes bauen!


Dorothea Theis – Portrait

Vorwort

Wir schreiben das Jahr 2021 und seit etwa 12 Monaten hat eine in vielen Fällen tödliche Pandemie unsere Erde heimgesucht und bereits hunderttausende von Menschen sterben lassen. Unser Planet wird sicherlich aufatmen, wenn er dadurch einige dieser Kreaturen, die ihn durch ihr Verhalten so quälen, loswird, und die Natur wird sich bestimmt erholen. Ich denke, sie kommt ganz ohne sie sogar viel besser zurecht. Es ist wie ein Aderlass, den sich unser Planet, sozusagen als Notbremsung, selbst verordnet, und dieser findet ungefähr alle 100 Jahre einmal statt. Der letzte war von 1918–1920, eine Pandemie mit Namen „Spanische Grippe“. Auch davor gab es in Abständen Seuchen, die große Gebiete heimsuchten. Und die Zukunft der Erde und der Menschheit wird wahrscheinlich auch nach dieser berechtigten Attacke der Natur gegen ihre Bewohner eine andere sein.

Ich werde dieses Jahr 67 Jahre alt, lebe wieder in der Stadt, in der ich geboren wurde, und bin durch meine Krankheit schwer gezeichnet. Seit ungefähr drei Jahren sitze ich im Rollstuhl, kann mich kaum noch bewegen, mit meinen Händen fast nichts mehr greifen und ich fühle wie meine Kräfte immer weniger werden.

Ich habe mir einen feststrukturierten Tagesablauf antrainiert, in welchem jeder Handgriff mit möglichen Hilfskniffen eingeübt ist. Er gibt mir ein Gerüst, an dem ich mich an schlechten Tagen festhalten kann. Auch habe ich mein Auto verkauft und den Erlös gegen einen E-Rolli eingetauscht. Jeden Morgen kommt ein Pflegedienst und hilft mir, mich für den Tag fertig zu machen. Bereitet mein Frühstück und hilft etwas bei der Hausarbeit.

Da ich die letzte Überlebende des deutschen Zweiges meiner Familie bin – der noch verbliebene Rest lebt im Nordwesten von Amerika, In Mukilteo im Staat Washington, in einem Gebiet mit hohem indigenen Bevölkerungsanteil in der Nähe von Seattle – habe ich den Entschluss gefasst, mein Leben aufzuschreiben, um es für Menschen, die Interesse haben, zugänglich zu machen. Nachkommen habe ich keine. Und auch, wenn niemand meine Geschichte lesen mag, dann bin ich mein Leben durch das Aufschreiben noch einmal durchgegangen, habe das Erlebte dadurch für mich verarbeitet, und kann mein persönliches Resümee daraus ziehen.

Schön wäre es, wenn ich mit meinem Büchlein der Allgemeinheit die Problematiken eines Schwerbehindertenlebens damit etwas bewusster machen könnte. Und Es würde mich auch sehr freuen, wenn ich durch meine Geschichte ein paar Menschen, die in ihrem Leben ebenfalls mit Schwerbehinderung kämpfen mussten, dadurch eine Möglichkeit aufzeigen könnte, wie man durch einen Wechsel in der eigenen Perspektive und durch Fokussierung auf einen anderen Schwerpunkt, aus einer, vielleicht im ersten Moment noch so negativ erscheinenden Situation, noch etwas Gutes für sich herausziehen, und eventuell aus mancher Not so eine Tugend machen kann.

Der Inhalt dieses kleinen Buches soll ein Geschenk für alle, insbesondere natürlich für behinderte Menschen, sein, die es gerne lesen möchten. Und es soll mein „Footprint“ sein, den ich auf dieser Welt hinterlassen möchte.

Auch möchte ich all meinen Leser/innen, ganz gleich ob behindert oder nicht, damit Mut machen, aktiv Ihren Lebensplan in positiver Weise mit zu gestalten, um die ihnen mitgegebenen Veranlagungen und Talente für sich so gut wie nur möglich zu verwirklichen.

Kapitel I - Frühe Kindheit

Mein Name ist Dorothea.

Ich wurde am frühen Morgen des 13. Juli im Jahr 1954 in Marburg, in einem, wahrscheinlich wegen der zu der Zeit ungewöhnlich vielen Schwangerschaften (Babyboom-Jahre) zu einer Entbindungsklinik umfunktionierten Haus, in der Uferstraße, geboren.

Meine Eltern gaben mir die Namen Dorothea, Gerda, Maria Theis. Mütterlicherseits – Urgroßmutter, Großmutter, Mutter – stammte meine Familie aus einem kleinen Dorf mit Namen Schlackow, in der Nähe von Schlawe, in Pommern. Sie waren durch den II Weltkrieg als Flüchtlinge aus dem Osten in Hessen hängengeblieben, und meine Mutter hatte sich hier mit dem Marburger Heinrich Theis verheiratet, aus deren Ehe ich nun hervor gegangen war. Anfänglich wohnten wir in einem Haus in der Altstadt von Marburg in der Untergasse 13.


Die Untergasse 13

Es ist ein sehr altes Haus, welches über einen Hof an die Stadtmauer angrenzt und dessen große Wohnungen nach dem Krieg zum Teil auf mehrere Familien aufgeteilt worden waren. Wir hatten aber trotzdem im 2. Stock noch eine 3-Zimmer-Wohnung mit Küche, allerdings kein Bad. So etwas gab es nirgendwo im Haus, und die Toilette, eine einzige im gesamten Haus, war ein Plumpsklo auf dem Flur, zwischen der zweiten und dritten Etage gelegen. Immer abwechselnd war es da die Aufgabe der im Haus wohnenden Parteien, genügend Zeitungspapier in postkartengroße Stücke zu zerschneiden, und an den im Klo an der Wand angebrachten Haken, anstelle des damals nicht vorhandenen Toilettenpapiers, anzubringen. Die Hinterlassenschaften fielen in eine Sickergrube, die in bestimmten Abständen, vermutlich alle paar Monate, abgesaugt wurde. Gegenüber der Toilette, auf dem Flur, befand sich dann auch ein kleines Waschbecken zum Händewaschen. Im ziemlich dunklen Hausflur, durch die Flurfenster schaute man auf die direkt angrenzende Hausmauer des Nachbarhauses, roch es immer muffig, nach altem Holz und Bohnerwachs.

Der Keller des alten Hauses war aus dickem Sandstein gemauert, wirkte sehr mittelalterlich und hatte ein nahezu unheimliches Flair. Wenn man die steile Sandsteintreppe hinunterstieg, befand sich linker Hand eine zugemauerte Tür, die vermutlich zu Kriegszeiten, als man den Keller als Luftschutzbunker genutzt hatte, ein Notausgang zum Keller im Nachbarhaus gewesen war. Nach hinten zum Hof in Richtung Stadtmauer befand sich in der Decke ein offenes Eisenrost, durch welches es je nach Wetter und Jahreszeit hereinregnete oder schneite, und von wo man von unten auf den Hof darüber sehen konnte. Auch dort war ein verschütteter Gang, vermutlich hatte der mal in Richtung Stadtmauer geführt.

Auf diesen Hof durfte ich nur in Begleitung einer meiner Omas, zum Beispiel, wenn diese dort Wäsche zum Trocknen aufhängen wollte. Wenn sie mich dann auf die sehr breite Stadtmauer setzten, konnte ich auf die Universitätsstraße hinunterschauen, und genau unter mir die Überreste der im Krieg zerstörten jüdischen Synagoge sehen. Meine hessische Oma erzählte mir, wie sie an dem Tag, als die Nationalsozialisten sie ansteckten, aus dem Schlafzimmerfenster geschaut hatte, und gesehen hatte wie sie brannte. Das im Hof hinter dem Haus niedrige, angebaute Langhaus gehörte der Polsterei Fuß, bei dieser ließen wir uns mal unsere alten Wohnzimmer-Polstermöbel aufhübschen. Und unten Im Erdgeschoß des Vorderhauses, in welchem wir wohnten, befand sich ein kleiner Lebensmittelladen mit seinen Lagerräumen. Er war durch eine Außentür an der Ecke zur Straße begehbar. In den anderen Etagen des Hauses wohnten außer uns und meiner Oma Pfingst, der Mutter meines Vaters und deren Familie, noch eine Familie Mankel und eine Familie Mohr, und im Dachgeschoß eine Frau Brase, sowie einquartierte Weltkriegsflüchtlinge und ein paar Studenten.

 

Mit in unserer Wohnung in der Untergasse lebte ein Kriegsblinder Student, der Herr Becker, mit seiner Frau in einem Zimmer, und noch eine alte Dame, die ich aber nie zu Gesicht bekam, in den restlichen zwei Zimmern. Die ursprüngliche Küche war ein dunkler, unbewohnter Raum ohne Möbel, der lediglich zum Wasserholen am dortigen einzigen Waschbecken auf der Etage diente. Auf dem Flur der Wohnung befand sich ein großer grüner Kachelofen, der wahrscheinlich mal zum Beheizen der gesamten Wohnung gedient hatte, zu unserer Zeit aber nie genutzt wurde. Wir hatten in jedem Zimmer einen kleinen Kohleofen.

Meine persönliche Erinnerung an dieses Zuhause beginnt sehr früh. Die erste ist eine sehr intime: Meine Mutter saß im Schlafzimmer am Rand des Bettes und hatte mich an ihre Brust gelegt. Ich muss sie wohl beim Trinken mit meinem noch zahnlosen Mund etwas gekniffen haben; denn sie bemerkte: „beiß mich nicht so“! Ein eisiger Willkommensgruß in diese Welt, denke ich dazu heute. Ein Kinderzimmer war zu der damaligen Zeit Luxus, was heißt, es gab keines. Mein Kinderbettchen hatte ich gebraucht von meiner Oma väterlicherseits bekommen. Sie wohnte mit ihren zwei Töchtern und deren drei Kindern, zwei Mädchen und einem Jungen, in der Etage über uns, in zwei kleinen Zimmern mit Küche, einem Teil der dortigen Wohnung. Es stand im Schlafzimmer meiner Eltern, am Fußende des Ehebetts. Wenn ich Mittagsschlaf machen sollte, packte man mich zuerst im Schlafzimmer meiner Oma und Uroma, welches ein kleines vom Wohnzimmer abgetrenntes Kämmerchen war, in eines der dortigen Betten. Das Bettzeug dort war aus Pommern mitgebracht worden, rot-weiß-kariert, aus eigenem Leinen selbst gewebt, und kratzte fürchterlich. Oft brachte man mich dort auch abends ins Bett. Meine Mutter las mir dann noch etwas aus meinem einzigen Märchenbuch vor. Es war ein Buch mit nur einer Geschichte und vielen großen Bildern. Den Text kannte ich schon auswendig, und ich beschwerte mich immer, wenn ich merkte, dass meine Mutter während des Lesens Text unterschlug, um schneller fertig zu werden. Nachdem ich dann eingeschlafen war, trug man mich in mein eigenes Kinderbett im Schlafzimmer meiner Eltern.

Gebadet wurde ich in einer großen runden Schüssel, von der gesagt wurde, sie sei aus dem Blech eines abgestürzten Flugzeuges gestanzt worden, auf dem großen Tisch im Wohnzimmer. Auch meine Windeln bekam ich dort an. Diese waren aus Stoff, wurden nach Gebrauch immer wieder ausgekocht und erneut verwendet. Pampers gab es nicht. Das Wasser zum Baden wurde in unserer Küche mit Wasserkessel auf dem Herd heiß gemacht und kaltes zum Temperieren dazu aus dem Waschbecken in der unbewohnten Küche mit dem einzigen Wasser-Anschluss der Etage geholt. Meine Ernährung bestand aus selbstgekochtem Schoko- oder Vanille-Pudding, Apfelmus, Kartoffelbrei, Grießbrei, Hafersuppe und Kuhmilch. Hipp Babynahrung, etc., war noch nicht erfunden. Dementsprechend kugelrund sah ich auch aus. Süßigkeiten waren jedoch absolut tabu, dafür bekam ich immer frisches Obst der Saison zu essen.

In meinem ersten Lebensjahr lebten die Kinder und Enkelkinder der Mutter meines Vaters noch in der Wohnung über uns bei ihrer Großmutter, der Oma Pfingst. Wolfgang, ihr 10-jähriger Enkel, somit mein Cousin, kam des Öfteren zu uns, um mit mir ein bisschen zu spielen. Ich besitze hiervon noch ein kleines Foto. Auf diesem bin ich, auf einer Decke liegend, zu sehen, wie ich ihn, während er sich zu mir herunterbeugt, an den Haaren ziehe.

Die übrigen Familienmitglieder, außer Oma Pfingst, durften nicht zu mir. Ihre übrigen Enkel waren im Teenager- und Twen- Alter und somit wohl mit anderen Dingen zu sehr beschäftigt. Auch ihre beiden Töchter hatten amerikanische Soldaten als Freunde und waren mit diesen viel „auf Achse“.


Altes Foto von Angehörigen der Familie meiner Marburger Oma Pfingst aus den 40ger Jahren. Von links nach rechts: Kleiner Wolfgang, seine Mutter, mein Vater, Oma Pfingst, Wolfgangs Schwester

Mein Onkel, Bruder meiner Mutter, kam samstags zu uns. Er machte zu der Zeit eine Lehre, wurde auf einem Bauernhof in einem Dorf hinter Marburg als Knecht angelernt, und war ein leidenschaftlicher Motorradfahrer. Er war wohl auch etwas rücksichtslos. Mein Cousin Wolfgang musste dies erfahren: Als er einmal auf dem Motorrad von Marburg bis auf seinen Ausbildungshof in Weimar mitfahren durfte, ließ er ihn zu Fuß den langen Weg nachhause zurücklaufen. An einem Samstagabend brachte mein Onkel auch mal ein graubraunes Kaninchen mit. Ich hatte so ein Tierchen noch nie gesehen. Er ließ es auf dem Wohnzimmerfußboden herumhoppeln, und überall wo es gewesen war, lagen auf einmal kleine schwarzbraune Kügelchen, die sahen aus wie Schokolade. Ich probierte eines, aber es schmeckte überhaupt nicht. Schokolade hatte ich, als ich sie mal bei Oma Pfingst bekommen hatte, eigentlich auch anders in Erinnerung. Er nahm das Kaninchen dann wieder mit, es war nicht als Geschenk für mich gedacht gewesen.

Ein Jahr später wanderte die Familie meines Vaters nach Amerika aus, und Oma Pfingst blieb alleine in der Untergasse zurück.

Ich bekam das ganze Spielzeug meines Cousins Wolfgang, seinen alten Teddy, viele Legobausteine, zwei Plastikpuppen, ein Dame-Brettspiel, und ein Spielzeug-Auto, einen großen, grauen Sattelschlepper- Laster, auf den man sich setzen und damit durch die Wohnung fahren konnte. Unsere Oma (Mutter meines Vaters) hatte mir das wohl schon etwas ramponierte Bärchen, bevor sie ihn mir gab, noch etwas verschönert, die abgelutschten Pfötchen mit Stoff umnäht, und anstelle der mittlerweile fehlenden Augen zwei braune Knöpfchen angebracht.

Dann wurde es etwas einsamer um mich herum. Auch mein Onkel kam nicht mehr. Er heiratete und zog nach Sand, einem kleinen Dorf bei Kassel, welches heute den vielversprechenden Namen „Bad Emstal“ trägt, weil man dort eine Mineralquelle gefunden hat.

Und ich war dann mit Laufen-lernen beschäftigt. Anfänglich rutschte ich auf meinem Töpfchen durch die Wohnung und malträtierte dabei den Fußboden aus dunkel gebohnerten Eichenbohlen. Einmal krabbelte ich und fand mein Töpfchen mit einer gelben Flüssigkeit drin unter dem Sofa im Wohnzimmer. Sah wie Limo aus, und ich dachte, vielleicht schmeckt das ja, aber es tat es nicht. Habe sowas kein zweites Mal probiert.


Erstbesitzer Wolfgang mit unserem Teddy, als er noch neu war

Als ich dann einigermaßen laufen konnte, durfte ich jeden Morgen, nachdem mich meine Oma aus Pommern gewaschen und angezogen hatte, zu meiner anderen Oma in der Etage über uns. Sie wartete meistens schon auf mich; denn sie litt immer noch sehr am Wegzug ihrer Familie, und ich war nun ihre einzig übriggebliebene Enkeltochter. Während ich bei der Mutter meiner Mutter jetzt nur zu stören schien, nahm mich diese Großmutter überall mit: Wenn sie ihr Bett machte, aufräumte, putzte, sich Frühstück zusammenstellte, einkaufen ging. Oder einfach nur aus dem offenen Fenster des Wohnzimmers, auf ein Kissen gelehnt, auf das Treiben auf der Untergasse schaute. Dies war das Fernsehen der damaligen Zeit. Einen Fernsehapparat hatte noch so gut wie niemand. Man sah höchstens mal einen im Schaufenster eines Geschäftes, vor das sich dann auch gleich eine kleine Menschengruppe zum Schauen ansammelte. Des Öfteren setzte ich mich auch einfach in ihrer Küche auf ein Fußbänkchen vor ihren Lehnstuhl. Und sie, dann dort sitzend, erzählte mir Geschichten aus ihrem Leben. Bei ihr bekam ich gelegentlich auch die in meinem anderen Familienteil für mich verbotenen Süßigkeiten, wie zum Beispiel Pfefferminzschokolade; denn sie liebte Süßes und hatte immer etwas davon zuhause.

Dann war meine Mutter nicht mehr im Mutterschutz, sie arbeitete jetzt bei einer kleinen Firma der Familie Peh, ansässig in einer Holzbaracke auf einer unbebauten Brache hinter dem Krekel am Südbahnhof. Diese stellte einfache Drogeriepräparate, Medikamente, Salben, Klistiere, etc., her. Meine Großmutter holte ihre Tochter täglich nach der Arbeit ab, und nutze dazu den Weg an der Lahn entlang für einen Spaziergang mit mir im Sport-Kinderwagen. Dabei bekam ich von ihr immer die Pflanzen vom Wegesrand erklärt, wie sie hießen, und zu welchem homöopathischen Zweck man sie eventuell verwenden konnte.

Aber irgendwie vermisste ich meine Mutter, sie war nicht mehr für mich da. Ich wurde von nun an von meinen beiden Omas und meiner Uroma erzogen. Meine pommersche Oma nahm mich manchmal auch in die Altstadt zu einer Drogerie Otto mit. Die Ottos waren auch Flüchtlinge aus Pommern, und hatten jetzt in der Straße neben dem Rathaus eine Drogerie, in der der junge Herr Otto als Drogist tätig war. Er war ein „Frohmensch“ und hatte immer ein Lächeln für mich übrig. Bei Ottos kauften wir Cremes, Seife, und andere Kurzwaren. Ab und zu ging die Pommern-Oma mit mir dann auch zum Sandkasten vor der Luther-Kirche. Einmal hatte ich von ihr ein orangenes Sandförmchen bekommen, welches ich dort unbedingt ausprobieren wollte; denn es sollte mein absolutes Lieblingsförmchen sein. Ein fremder Junge, der mit im Sand spielte, nahm es mir weg. Seine Mutter bestand darauf, dass es ihm gehört hätte. Ich war ziemlich wütend, konnte aber nichts machen. Meine Oma half mir nicht. Ich war mein schönes Förmchen los.

An den Wochenenden durfte ich morgens zu meinen Eltern ins Bett, etwas toben. Nur Schmusen war irgendwie nie angesagt. Mein Vater ging aber nachmittags mit mir noch spazieren, oder, wenn es einen gab, auf den Rummelplatz. Ich durfte dann mit ihm Autoscooter und Karussell fahren. Er trug mich dort meistens auf seinen Schultern. Ich fühlte mich an diesem Platz sehr wohl, hielt mich mit meinen Händen an seinem Kopf fest, und fand es toll, auf diese Weise größer als die anderen zu sein. So hatte ich einen tollen Überblick über alles um mich herum. Er kaufte mir dann ab und zu auch rosa oder weiße Zuckerwatte.

Als ich etwas älter war, gings auch in den Circus, wenn der in Marburg hinter Weidenhausen oder im Afföller gerade Station gemacht hatte. Das Betrachten der Tiere in ihren Wagen war für mich immer ein ganz besonderes Erlebnis. Manchmal durfte ich mit ihm auch die Vorstellung besuchen, eine Show mit Elefanten, Löwen, Trapezkünstlern, und natürlich dem Circus-Clown.

Mein Vater hatte ein sehr eigentümliches Hobby, welches sich eigentlich nur aus den Mangelzeiten nach dem Krieg erklären lässt: Er sammelte Dinge, die andere weggeworfen oder verloren hatten. Dazu gehörten auch bunte Stofftaschentücher, die Ihrem Besitzer versehentlich aus der Tasche gefallen waren. So etwas wie Tempotaschentücher aus Papier gab es ja noch nicht. Er hob die verlorenen Taschentücher auf, steckte sie ein, und kochte sie zuhause mit der anderen Kochwäsche aus. So hatten wir immer auch bunte Taschentücher, die unbekannterweise von irgendwoher geflogen gekommen waren.

Die Winter waren damals noch recht kalt und es gab immer viel Schnee. Die kleinen Öfchen in unserer Wohnung gaben nicht viel Wärme, und ich erinnere mich, dass ich oft gefroren habe. Die acht kleinen quadratischen Scheibchen der Wohnzimmerfenster waren morgens oft dick mit Eisblumen überzogen. Ich saß dann davor und taute mit meinen Fingern Löcher in die Eisschicht, um nach draußen sehen zu können. Am Wochenende wurde der alte Rodelschlitten von meinem nach Amerika ausgewanderten Cousin Wolfgang aus dem Keller geholt. Ich wurde draufgesetzt und es ging zusammen mit meinen Eltern hinaus, die Untergasse hinunter, über die Lahnbrücke nach Weidenhausen zum Schlitten fahren. Die Bürgersteige waren damals nicht freigekehrt, höchstens mit der Asche aus den Kohleöfen gegen das Ausrutschen bestreut worden. Und die Luft roch dann immer nach Hausbrand und Kohlestaub.

Mit den Kindern vor dem Haus in der Untergasse spielen durfte ich nicht. Meine Oma aus Pommern, die mit uns in der Wohnung lebte, meinte, diese seien kein Umgang für mich. So durfte ich nur vom Fenster aus mit zusehen, wie sie unten auf dem bis zum Kellergeschoß abgetragenen Haus neben unserem Haus spielten.

 

Ich erinnere mich, wie ich einmal, am offenen Wohnzimmerfenster sitzend, ein kleines Püppchen von mir auf sie hinuntergeworfen habe, um auf mich aufmerksam zu machen. Natürlich ohne Erfolg. So blieb mir nur übrig, mit meiner Uroma zu spielen. Dazu knotete ich dann mal ein Seil um die Schublade am Küchentisch. Meine Uroma sollte am anderen Ende drehen, damit ich, so wie ich es draußen bei den Kindern gesehen hatte, Seilhüpfen könnte. Dies klappte aber irgendwie nicht. Wahrscheinlich fehlte einfach die dritte Person für das Seilschlagen.


Uroma hat Geburtstag

Am Sonntag ging meine Mutter zusammen mit mir in den Kindergottesdienst in der unterhalb des Schlosses gelegenen, evangelischen Lutherkirche (die Kirche mit dem Schiefen Turm). Sie machte sich dazu immer sehr schick; denn sie leitete eine Kindergruppe, allerdings die älteren, und ich war sehr stolz, eine so hübsche Mama zu haben. Aber dann auch immer sehr verzweifelt, wenn ich merkte, dass ich nicht in ihre Gruppe kam, sondern zu den ganz kleinen bei einer anderen Lehrerin. Nach dem Kindergottesdienst gab es immer ein Bildchen zum Ausmalen und Einkleben in das Kindergottesdienstbüchlein, von der Geschichte aus der Bibel, die gerade erzählt worden war. Der Weg zur Kirche und wieder nachhause führte durch enge verwinkelte Gässchen, und mehrere Treppchen, die auf dem Kirchenvorplatz endeten. Die engen Pfade waren nicht eben, man musste sehr aufpassen wo man hintrat, um nicht zu fallen. Fasziniert haben mich dort immer die kleinen Kopffigürchen, mit denen die Fensterläden an den nahen, alten Häusern festgehalten wurden. Und es roch dort immer so interessant nach Hausflur und Sonntagsessen.

Einmal nach dem Kindergottesdienst, nach dem Schlusslied, da übte der Organist noch weiter an der Orgel, machte mich der Klang des großen Instruments neugierig. Ich bat meine Mutter, mit mir die Treppe zur Empore hochzugehen, um nachzusehen. Was ich sah, faszinierte mich: Ein Mann, der mit Händen und Füßen tolle Töne aus einem riesengroßen Instrument hervorbrachte. Und der mir dann auch noch bereitwillig erklärte, wie es funktionierte. Dieses Erlebnis sollte für mein zukünftiges Leben ein Schlüsselerlebnis sein, was ich damals natürlich noch nicht wissen konnte.

Im Herbst unternahm der Kindergottesdienst immer einen Laternenumzug über den Schlossberg bis hin zur Dammmühle. Ich erinnere mich dabei an nebelige und kühle Abende mit einem letzten Rest von rotem Sonnenuntergang am Horizont. Ich hatte von meiner Mutter eine große bunte Laterne bekommen. Diese wurde dann angezündet, und wir sangen auf dem Weg immer viele schöne Laternenlieder.

Meine Mutter konnte sehr gut zeichnen und malen. Ich wünschte mir immer ein von ihr selbst gemaltes Märchenbuch, aber es wurde irgendwie nie etwas daraus. Sie besuchte auch Volkshochschulmalkurse und ging dann Zwecks der dafür zu machenden Hausaufgaben in die Umgebung von Marburg zum „Landschaften abmalen“. Dann nahm sie mich mit und setzte mich mit Stiften und einem Blatt Papier 10 Meter von sich entfernt in die Wiese. Ich sollte auch malen, durfte aber nicht zu ihr kommen und auf ihr Bild schauen.

Von meinen nun in Amerika lebenden Tanten bekam ich schöne Päckchen geschickt, mit Malbüchern zum Ausmalen von Indianern, Cowboys, und den Landschaften, in denen diese lebten. Auch Schokolade, die einmal ungenießbar war, weil das Päckchen mit dem Schiff gekommen und auf dem Weg irgendwie nass geworden war. Salzwasserschokolade war das dann, und diese schmeckte scheußlich.

Ich lag damals oft auf der Couch im Wohnzimmer und malte. Meistens das Marburger Schloss, welches ich immer ganz nah und groß sehen konnte, wenn ich bei der Oma Pfingst aus dem Küchenfenster schaute. Natürlich malte ich in diesem Alter noch im Kleinkindstil und die Wurzeln der Bäume waren da auch immer mit drauf. Einmal kann ich mich entsinnen, dass ich, als ich mit meiner Mutter in Weidenhausen auf einem Spielplatz war, mir einen Stock angelte, und mit diesem das Schloss, welches man von dort gut sehen konnte, auf den Spielplatzboden ritzte. Alle dort anwesenden Kinder standen da um mich herum.

Mein Vater spielte am Wochenende viel mit mir, wir bauten aus den Legosteinchen meines Cousins Wolfgang kleine Häuschen. Er brachte mir das Dame-Spiel bei und ließ mich anfänglich wohl auch des Öfteren gewinnen. Oder wir hörten zusammen Radio: Musik und Kinderstunde-Hörspiele. Aus der Zeitung HÖRZU zeigte er mir immer die Seite, auf der zwei identische Gemälde nebeneinander abgebildet waren: Das eine war das Original, in das andere waren kleine Fehler eingebaut worden, die man heraussuchen musste. Da hatte dann einer nur ein halbes Ohr, oder bei einem Baum fehlte ein Ästchen oder eine Person hatte anders farbige Schuhe als im Original. Die Aufgabe bestand darin, die Fehler zu finden und anzukreuzen. Er konnte auch gut Mundharmonika spielen. Und er baute mir eine Puppenstube, ein Häuschen mit mehreren Zimmerchen, für die ich die passenden kleinen Möbel und Püppchen vom ihm gekauft bekam.

Zu der Zeit begann ich immer öfter zu nerven: ich wollte lesen lernen, damit ich mein Märchenbuch selber lesen könne, sagte ich. Aber man wiegelte ab. Ich sei noch viel zu jung, dazu hätte ich noch mehrere Jahre Zeit. Wenn man mir das jetzt schon beibrächte, dann würde ich später in der Schule nicht aufpassen, argumentierte man.

Auf dem Dachboden in der Untergasse hatte mein Vater ein kleines, vom Wäscheboden abgetrenntes und als Fotolabor eingerichtetes Kämmerchen, in dem er immer seine selbst geknipsten Fotos entwickelte. Ich durfte oft dabei sein und zusehen, wie aus den Negativen richtige Bilder wurden. Er war ein leidenschaftlicher Hobbyfotograf und kaufte für seine nach Amerika ausgewanderte Familie einmal eine teure Leica-Kamera, mit der er, bevor sie nach Amerika geschickt wurde, noch ein paar Probeaufnahmen von unserer deutschen Familie machte. Der Qualitätsunterschied zu seinen Fotos war enorm, er hatte den Film auch zum Entwickeln ins Geschäft bringen müssen. In Papas Fotokämmerchen habe ich zum ersten Mal auch Wolfgangs Teddybären sitzen gesehen, bevor ich ihn dann bekam.

Ebenfalls auf dieser Etage unter dem Dach wohnte Frau Brase. Sie ging im Frühjahr, wenn die ersten Gräser und Kräuter auf den Wiesen zu sprießen begannen, immer hinaus, um die essbaren zu sammeln. Wenn sie danach zurückkam, wurden die kleinen grünen Blättchen am einzigen Waschbecken im Flur sorgfältig gewaschen und sortiert. Ich war immer dabei, und bekam ab und zu auch mal einen kleinen Sauerampfer zum Probieren von ihr. Wahrscheinlich machte sie Grüne Soße, ein typisch hessisches Frühlingsessen, daraus.

Mein Vater arbeitete in der Woche bei den Amerikanern, der EES (European Exchange Service), die zu dieser Zeit noch im Norden Marburgs, später jedoch nördlich von Gießen ansässig war. Ab dann musste er täglich erst zum Bahnhof laufen und dann mit dem Zug nach Gießen fahren. Irgendwann fand sich aber auch ein Kollege, mit Namen Herr Fehlberg, der ihn in seinem Auto zur Arbeit nach Gießen mitnahm.

Bei uns zuhause wurde zwischen Mama, Oma und Uroma Pommersches Platt gesprochen. Es war ein Dialekt, der dem Ostfriesischen ähnlich, auch heute noch über die ganze Ost- und Nordseeküste mit nur minimalen Abweichungen, je nach geographischer Verortung, verbreitet ist. Ich verstand ihn, durfte aber selbst nur Hochdeutsch reden. Damit ich später in der Schule nicht durcheinanderkommen würde, hieß es.

An Weihnachten holten wir die andere Oma (Pfingst) aus der Wohnung über uns zu uns. Sie litt noch sehr am Wegzug der Familie, und war froh, an diesem Tag nicht alleine bleiben zu müssen. Es gab immer einen schönen Weihnachtsbaum, und Mama verkleidete sich als Knecht-Ruprecht, Gehilfe des Weihnachtsmannes, und brachte kleine Geschenke.

Mitglieder der Familie Mankel unter uns kamen auch manchmal zu Besuch. Der Mann war Restaurator und verschönerte zu der Zeit die alten Möbel und Wände des Barockschlosses in Weilburg. Als ich dies hörte, wollte ich, wenn ich dann erwachsen wäre, unbedingt auch Restauratorin werden.

Meine Eltern mieteten im Afföller, im Norden von Marburg, einen Schrebergarten, zu welchem sie an den Wochenenden immer an der Lahn entlang, mit mir noch im Sportwagen; denn soweit konnte ich noch nicht laufen, hinwanderten. Dort wurden frisches Gemüse und Kartoffeln gezogen und es brauchte lediglich nur noch Brot, Milch und Fleisch dazu gekauft werden, um unseren Lebensmittelvorrat komplett zu haben. Vor der Schüssel unter der Pumpe im Garten hatte ich Angst. Man hatte mal versucht, meine Füße dort zu waschen, und der Boden der Schüssel erschien mir da so unheimlich schwarz. Aber die angrenzende Hecke mit Himbeeren mochte ich sehr, auch wenn ich nach dem ersten Mal Himbeeren-Essen davon einen ziemlichen Ausschlag bekam. Danach konnte ich sie aber gut vertragen.

An einem Samstagnachmittag im Sommer wanderte mein pommerscher Familienteil mit mir im Kinderwagen wieder zum Schrebergarten. Meine Mutter hatte vorher noch in einem Lebensmittelgeschäft eine große Tüte mit Pfirsichen gekauft, die wir im Garten dann essen wollten. Ich war krank gewesen, und noch gar nicht wieder gut drauf. Mein Vater hatte seinen Fotoapparat mit und wollte ein Bild von mir, auf dem Rasen sitzend, machen. Ich weiß noch, ich konnte noch nicht wieder richtig alleine sitzen, und meine Mutter musste mich von der Seite stützen. Auf dem an dieser Stelle entstandenen Bild, welches noch Jahre lang vergrößert bei uns an der Wand hing, ist, wenn man genau hinsieht, an der Seite ein kleines Stückchen ihrer Hand sichtbar. Ich weiß noch heute wie es war, als sie mich für das Foto aufrichtete. Heute steht das Bild in einem silbernen Rahmen bei mir im Wohnzimmer auf dem Klavier.