Trauma und interkulturelle Gestalttherapie

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Trauma und interkulturelle Gestalttherapie
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COLETTE JANSEN ESTERMANN

TRAUMA UND INTERKULTURELLE GESTALTTHERAPIE

IGW-Publikationen

Hg. Institut für Integrative Gestalttherapie Würzburg (IGW)

Institut für Integrative Gestalttherapie Wien (IGWien)

Institut für Integrative Gestalttherapie Schweiz (IGWSchweiz)

Die Reihe wird gemeinsam vom Institut für Integrative Gestalttherapie Würzburg (IGW) und dem Institut für Integrative Gestalttherapie Wien (IGWien) sowie dem Institut für Integrative Gestalttherapie Schweiz (IGWSchweiz) herausgegeben. Die Schwesterinstitute wollen damit im deutschen Sprachraum einen Beitrag leisten zum öffentlichen fachlichen Diskurs unter Gestalttherapeutinnen und Gestalttherapeuten sowie bei gegebenem Thema auch unter Personen, die andere Therapieansätze vertreten. Als Autorinnen und Autoren treten Lehrende und Graduierte der beiden Institute auf, aber auch andere Kolleginnen und Kollegen.

Verantwortlich für die Reihe sind:

Peter Schulthess, Zürich (IGW), und Heide Anger, Wien (IGWien)

Die Autorin

Colette Jansen Estermann, Dr. phil. in Psychologie; in den Niederlanden geboren, drei erwachsene Kinder; von 2004 bis 2012 als Gestalttherapeutin in eigener Praxis, Ausbildnerin und Professorin an verschiedenen Universitäten in La Paz/ Bolivien tätig. Sie ist Mitbegründerin der »Bolivianischen Stiftung für Gestalt-Psychotherapie« (FBPG), Autorin mehrerer Publikationen zu Gestalttherapie, Trauma-Arbeit und Interkulturalität; seit 2013 arbeitet sie als Psychotherapeutin ASP in Luzern / CH.

Colette Jansen Estermann

TRAUMA UND INTERKULTURELLE GESTALTTHERAPIE

Traumatischen Erfahrungen

mit eigenen Ressourcen begegnen

Mit einem Vorwort von Willi Butollo

– EHP 2014 –

© 2014 EHP – Verlag Andreas Kohlhage, Bergisch Gladbach www.ehp-koeln.com

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.deabrufbar.

Dieses Buch ist auch als E-Book erhältlich

Umschlagentwurf: Uwe Giese

– unter Verwendung eines Bildes (Ausschnitt) von Susie Kate (›Melodie‹) –

Satz: MarktTransparenz Uwe Giese, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

All rights reserved. No part of this book may be reproduced or transmitted in any form or by any means, electronic or mechanical, including photocopying, recording or by any information storage and retrieval system, without permission in writing from the publisher.

ISBN 978-3-89797-906-2 (Print)

ISBN 978-3-89797-572-9 (EPub)

ISBN 978-3-89797-573-6 (PDF)

eBook-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

INHALT

Vorwort des Herausgebers

Geleitwort von Willi Butollo

Ein Wort des Dankes

1. EINFÜHRUNG

1.1 Motivation

1.2 Die Geschichte Boliviens

1.3 Das Umfeld Boliviens

1.4 Interkulturalität

2. DATEN

2.1 Allgemeine Daten zu den Teilnehmern

2.2 Inventar traumatischer Ereignisse

2.3 Prävalenz des Einfachen Psychotraumatischen Belastungssyndroms

2.4 Das Bild von sich und den anderen

2.5 Prävalenz dissoziativer Momente

2.6 Inventar der Ressourcen

2.7 Vorhandene Copingstrategien

2.8 Inventar der Post-Traumatischen Reifung

2.9 Resultate der Varianzanalyse

3. LEBENSGESCHICHTEN

3.1 » Wenn man etwas geschenkt bekommt, soll man auch immer etwas zurückgeben.«

3.2 » Warum verschluckt die Erde mich nicht?«

3.3 » Ich habe mich immer gefragt, ob ich verrückt sei.«

3.4 » Soll dieses Gespräch vielleicht das Verborgene an die Oberfläche bringen?«

3.5 » Stabilität bedeutet für mich Sicherheit durch ausreichende Einkünfte.«

3.6 » Eines Tages möchte ich einen Beruf haben, damit niemand mich auslachen wird.«

3.7 » Als ich damals als Kind Hunger hatte, sagte meine Mutter zu mir: ›Bete‹, und nachher gab es Brot«

3.8 »Mein Vater, Großvater und meine Onkel sagten mir: ›Geh und schau vor dich und hinter dich und auf die Seite.««

3.9 »Alles was geschieht, geschieht aus irgendeinem Grund, sowohl das Gute wie das Schlechte.«

3.10 »Hoffentlich verzeiht meine Mutter eines Tages auch sich selbst.«

3.11 »Die schwierigen Momente haben einen besseren Menschen aus mir gemacht.«

3.12 »Nachher hat uns nichts mehr überraschen können.«

3.13 »In meinem Geist versuche ich zu fliehen, das mache ich oft und das hilft mir.«

3.14 »Ich war mir nicht bewusst, dass ich so viele traumatische Erfahrungen erlebt hatte.«

3.15 »Muss ein Trauma immer eine schlechte Erfahrung sein?«

3.16 »Ich musste mein Studium unterbrechen, was mir schwer fiel, aber mein Neffe brauchte mich und meine Liebe.«

4. THEORIEBILDUNG

4.1 Ein Klima struktureller Gewalt

4.2 Das psychotraumatische Belastungssyndrom

4.2.1 Die Wichtigkeit einer Selbstdiagnose

4.2.2 Das Einfache PTBS

4.2.3 Das Komplexe PTBS

4.2.4 Das Strukturelle PTBS

4.3 Gut Leben: ›Vivir Bien‹, ›Suma Qamaña‹, ›Allin Kawsay‹

4.3.1 Gesundheit versus Krankheit

4.3.2 Die Chance posttraumatischer Reifung

4.3.3 Fließende Kraftquellen

4.4 Eine therapeutische Antwort auf die bolivianische Situation

4.4.1 Transgenerationelle kollektive Traumatisierung

4.4.2 Die heilsame Wirkung gestalttherapeutischer Arbeit in Selbsterfahrungsgruppen

ANHANG

Landkarte Boliviens

Die Original-Fragebögen

Anmerkungen

Literatur

Den Vergessenen dieser Erde

gewidmet

Vorwort des Herausgebers

Bereits in einem früheren Band der IGW-Publikationen in der EHP hat Colette Jansen Estermann in eindrücklicher Weise über ihre gestalttherapeutische Arbeit in Bolivien berichtet (Anger/Schulthess 2008). Sie zeigte dort in einer Fallstudie auf, wie Armut die Quelle von Traumatisierung sein kann bzw. dass strukturelle Gewalt in einem Land zu Traumatisierung und traumatisierendem Gewaltverhalten führen kann. Die Bereitschaft, die Verbindung von gesellschaftlichen Verhältnissen und individuellem wie kollektivem psychischem Leiden zu reflektieren, beeindruckte mich schon damals und ist meines Erachtens genuin gestalttherapeutisch (vgl. Schulthess/Anger 2009). Wenn man Psychotherapie nicht bloß als Verfahren zur Symptomreduktion versteht, sondern als Verfahren, dass den Erkenntnisansatz verfolgt, dass psychisches Leiden nicht einfach anlagebedingt »aus den Genen« entsteht, sondern immer auch als ein Produkt sozialer Interaktion unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen zu verstehen ist, kommt man nicht umhin, die historische und aktuelle gesellschaftliche Situation in einer Kultur (auch der eigenen, nicht nur in fremden Kulturen) mitzureflektieren und zu beachten.

 

Die Autorin dieses Bandes geht diesen Weg sehr konsequent. Sie reflektiert die geschichtlichen und gesellschaftspolitischen Fakten Boliviens, um als Therapeutin besser zu verstehen, was sie im Hier-und-Jetzt in diesem Land für psychische Leidenszustände antrifft. Als Gastdozent im Rahmen der im Aufbau begriffenen Gestalttherapieausbildungsprogramme in La Paz hatte ich die letzten drei Jahre zwei Mal Gelegenheit, mir selbst ein Bild über die gesellschaftliche Realität und die subjektiven Leiden, insbesondere auch der indigenen Bevölkerung, zu machen. Die Verbindung von Reisen und Lehren in Form von therapeutischer Arbeit erlaubte einen guten Einblick auch in das Thema dieses Buches. Es ist offensichtlich, dass viele Menschen durch Gewalt und Entbehrung traumatisiert sind. Als PsychotherapeutIn kommt man nicht umhin, sich mit den Entstehungsbedingungen zu befassen und die stützenden Ressourcen zu entdecken und weiter auszubauen, um in solchen Verhältnissen nicht zu verelenden, sondern die Kraft zum Wachsen und Reifen zu fördern, auch wenn »Heilen« in der Traumatherapie ein schwieriges Ziel ist.

Das Buch gliedert sich in vier Teile: Im ersten Kapitel erfolgt eine Einstimmung in die Geschichte und Kultur Boliviens. Im zweiten Teil wird eine wissenschaftliche Erhebung an Studierenden an vier Universitäten zur Verbreitung und Art der auffindbaren Traumatisierungen in übersichtlicher Form wiedergegeben. Im dritten Teil folgt eine Sammlung von Fallgeschichten, die das empirisch gefundene Datenmaterial anschaulich illustrieren. Im vierten Teil schließlich erfolgt eine theoretische Einbettung und Diskussion der vorangegangenen Teile, welche ihrerseits zu weiterer Theoriebildung anregt.

Es ist in der gestalttherapeutischen Literatur selten, dass empirische Forschungsmethoden angewendet werden, persönliche Falldarstellungen vermittelt sowie eine reflektierende Einbettung in die gestalttherapeutische Theorie und Praxis unter Einbezug des aktuellen Wissensstands der Traumatherapie sowie soziologischer und politischer Aspekte publiziert werden. Der Autorin ist diese Verbindung in ganz besonderer Form gelungen.

Im Sinne eines Beitrags zu einer interkulturellen Gestalttherapie zeigt sie auch, wie gestalttherapeutisches Herangehen, Verstehen und Handeln recht gut zur andinen Lebenshaltung und Erkenntnisweise passt. Dies ist eine Einschätzung, die ich aus meiner (noch bescheidenen) Lehrtätigkeit in dieser Kultur teilen kann. Oft haben europäische GestalttherapeutInnen wenig im Bewusstsein, wie sehr sich die Gestalttherapie gerade in Lateinamerika verbreitet hat und ein anerkanntes Therapieverfahren darstellt im Unterschied zu manchen europäischen Ländern. Das weist auf eine hohe Kompatibilität hin.

Dass Gestalttherapie sich so weit verbreiten konnte, nicht nur in den westlich geprägten Kontinenten wie Europa, Amerika und Australien, sondern auch und ganz besonders in Lateinamerika, Osteuropa und Asien, darf nicht einfach als neuer westlich-angelsächsisch geprägter Kolonialismus taxiert werden. Die Verbreitung hat wohl genuin mit der gestalttherapeutischen Haltung und ihrem wertschätzenden, phänomenologischen und beziehungsorientierten menschlichen Zugang zu anderen Kulturen zu tun. Die Autorin zeigt in diesem Band Parallelen zwischen gestalttherapeutischer Haltung und Erkenntnistheorie mit denjenigen der andinen Kultur auf. Als Reihenherausgeber, der zudem selbst in verschiedenen Kulturen lehrt, fühle ich mich, auch aufgrund der Erfahrungen so vieler in unterschiedlichen Kulturen lehrenden GestalttherapeutInnen (gerade an den drei Schwesterinstituten, die diese Reihe gemeinsam herausgeben), dazu angeregt, dieses Thema weiterzuführen – zum Beispiel in einem weiteren Band mit transkulturellen Überlegungen.

Peter Schulthess, Zürich im Winter 2013

Geleitwort

Ist die Gestaltpsychotherapie, die bekanntlich in abendländischen Kulturräumen (Europa, Südafrika, USA) entstanden ist, in der Lage, auch in anderen kulturellen Kontexten Fuß zu fassen und sich auf den Grundlagen der einheimischen Wissenstraditionen und Weisheiten weiterzuentwickeln? Dieser Frage, die in letzter Zeit auch hinsichtlich der ostasiatischen und osteuropäischen kulturellen Kontexte vertieft wird, geht die vorliegende Arbeit am Beispiel Boliviens nach. Die Autorin Colette Jansen Estermann, die selbst über sechzehn Jahre in den Anden gelebt hat und die andinen Weisheitstraditionen und Kulturformen aus nächster Nähe kennt, ist der festen Überzeugung, dass der Gestaltansatz gerade für die andine Kultur und deren philosophischen Hintergrund eine ausgezeichnete Form der Psychotherapie ist, da sie holistisch ausgerichtet und nicht logozentrisch verfasst ist.

In Trauma und interkulturelle Gestalttherapie versucht die Autorin auf der Grundlage eines breit angelegten Forschungsprojekts zu zeigen, dass nicht nur die Erfahrung und Art von Traumata, sondern auch deren Verarbeitung kulturell bedingt sind. Die vor allem im abendländischen Kulturraum der sogenannten »Ersten Welt« erarbeiteten Diagnostikverfahren und Symptomatiken vermögen einem völlig anderen kulturellen und sozialen Kontext, wie es der bolivianische eben ist, nicht gerecht zu werden. Deshalb braucht es der Autorin zufolge eine kreative interkulturelle Theoriebildung, wofür sie im vorliegenden Buch die ersten Grundlagen und Perspektiven aufzeigt.

Unter den wichtigsten Befunden zeigt die Autorin auf, dass in einem sogenannten »Entwicklungsland« nicht nur von individuellen und einmaligen traumatischen Erfahrungen die Rede ist, sondern von kollektiven und transgenerationalen Tiefenschichten, die sich aus der gewaltsamen Unterdrückungsgeschichte des Landes erklären lassen. Deshalb führt sie neben dem in der Standardliteratur anerkannten »Einfachen Psychotraumatischen Belastungssyndrom (PTBS)« das inzwischen auch schon viel diskutierte »Komplexe PTBS«, vor allem aber neu auch das »Strukturelle PTBS« ein, das sich beim Umgang mit traumatischen Erfahrungen in Kontexten von extremer Armut, Ungerechtigkeit und Unsicherheit als sehr hilfreich erwiesen hat.

Es ist zu beachten, dass die Autorin konsequent vom »Psychotraumatischem Belastungssyndrom« und nicht etwa von »Posttraumatischer Belastungsstörung« spricht, weil letzteres ein Werturteil beinhaltet, das in einem bestimmten Kulturraum beheimatet ist, und man zudem davon ausgeht, dass die traumatische Erfahrung selbst zu einem Abschluss gekommen ist. Dies ist aber in einem Kontext wie dem bolivianischen nicht der Fall. Außerdem betont sie – aufgrund der kollektiven Traumatisierung des bolivianischen Volkes – den Wert der Eigendiagnostik.

Als weitere kreative Neuerung gilt der Rückgriff auf den vor allem in den Sozialwissenschaften beheimateten Begriff der »strukturellen Gewalt«, der für den Umgang mit traumatisierten Menschen in Bolivien, wie auch in anderen Ländern der sogenannten »Dritten Welt«, von großem theoretischem und praktischem Nutzen ist. Daraus ergeben sich nicht nur interkulturelle, sondern auch sozio-politische Konsequenzen, da die Armut als Form der »strukturellen Gewalt« für kollektive und Generationen übergreifende Traumatisierung von Menschen verantwortlich ist. Zudem zeigt die Autorin auf, dass es einen Umgang mit den Ressourcen und Coping-Strategien gibt, der kulturspezifisch ist und deshalb in einem nicht-abendländischen Kontext einen anderen Stellenwert hat.

Die vorliegende Publikation, die auf der von Colette Jansen Estermann im Jahre 2009 eingereichten Dissertation basiert, ist ein Anstoß zur interkulturellen Sensibilisierung der Psychotherapie insgesamt, vor allem aber der Gestalttherapie und des Umgangs mit traumatischen Erfahrungen. Zudem gehört sie unbedingt zum Hintergrundwissen von EntwicklungshelferInnen und Einsatzleistenden, um die Menschen und deren Verhalten in einem Kontext von Armut und Mängeln besser verstehen zu können. Schließlich ist zu hoffen, dass mit diesem Buch auch im deutschsprachigen Raum eine Diskussion zur interkulturellen Transformation der Gestalttherapie in Gang kommt.

Prof. Dr. Willi Butollo, Ludwig-Maximilian-Universität München

Ein Wort des Dankes

An dieser Stelle denke ich mit Liebe und Dankbarkeit an meinen Mann Josef und meine Kinder Sarah, Rafael und Christian, die mir eine Kraftquelle sind.

Zudem gilt mein Dank meinen ehemaligen Studenten und Studentinnen, die zur ersten Generation von Gestalttherapeuten in Bolivien gehören, da ich nicht nur sehr viel von mir gegeben, sondern auch reichlich viel von ihnen bekommen habe: Ingrid, Jorge, Luis, Danny, Karen, Elías, Roberto, Shirley, Miguel Ángel, Lino, Gloria, Vicky, Jenny, Fabiola, Claudia, Daisy, Germán und Karina.

Schließlich möchte ich mich beim Institut für Integrative Gestalttherapie Würzburg, namentlich bei Werner Gill, für die akademische Unterstützung und bei allen Gestalt-Dozenten und Dozentinnen für ihre Intensivkurse in La Paz bedanken. Ganz besonders möchte ich Peter Schulthess erwähnen, der mein Manuskript gegengelesen hat.

Dieses Buch ist aus tiefer Verbundenheit mit dem bolivianischen Volk entstanden.

1. EINFÜHRUNG

1.1 Motivation

Das vorliegende Buch besteht aus einem Versuch, mitten im Prozess einen Moment anzuhalten, um aus einer gewissen Distanz zu beschreiben, was ich wahrnehme und spüre. Ich werde einzelne Bilder, Gefühle, Erlebnisse und Begegnungen aus meinem Erfahrungsschatz hervorholen, nochmals genau betrachten und dann wieder aufheben. Das Schreiben macht mir Spaß, es ist ein Stück Verarbeitung und meine Art, einer stellvertretenden Traumatisierung vorzubeugen. Zudem gehe ich davon aus, dass meine Befunde den Lesern und Leserinnen1 nützlich sein werden. Es ist mir wichtig, dass die Menschen in Bolivien von den Menschen am anderen Ende der Welt nicht vergessen und in ihrer Andersartigkeit verstanden werden. Dieses Buch ist einerseits das Ergebnis eines Forschungsprojektes zum Thema »Traumatische Erfahrungen und eigene Ressourcen jugendlicher Studierender in den Städten La Paz und El Alto in Bolivien«, das 2009 in eine Dissertation mündete und bereits auf Spanisch herausgegeben wurde (Jansen Estermann 2010). Andererseits beinhaltet es eine Zusammenfassung meiner persönlichen und beruflichen Erfahrungen als Gestaltpsychotherapeutin und Ausbildnerin während einer Zeitspanne von 15 Jahren in Lateinamerika.

Was mich damals bewegt hat, zuerst nach Peru und später nach Bolivien auszureisen, vermag ich nicht eindeutig zu erkennen. Im Nachhinein denke ich mir, dass der Stachel der Ungerechtigkeit und der Hang zum Abenteuer eine gewisse Triebfeder waren. Im Laufe der Zeit kam noch dazu, dass ich mich in Lateinamerika wie ein Fisch im Wasser fühle. Dies hat mit der zwischenmenschlichen Kommunikation zu tun, der Herzlichkeit und Körpernähe. Ich habe niemals erwartet, dass ich in La Paz ein Forschungsprojekt vorantreiben, den Doktor machen, einen Studiengang in ›Psicoterapia Gestáltica‹ aufbauen und eine Stiftung für Gestalttherapie gründen würde. Da kann ich nur staunen und es erfüllt mich eine große Dankbarkeit. Ich gehe davon aus, dass ich im richtigen Augenblick am richtigen Ort war – Kairos. Es waren aber die Menschen in La Paz, die positiv auf mein Angebot reagiert haben. Gemeinsam konnten wir in Übereinstimmung mit ihren Bedürfnissen dies alles erreichen. So haben sich die vereinzelten Puzzleteile des Lebens zu einem wunderbaren Netzgewebe gefügt. Dennoch möchte ich nicht verschweigen, dass die Entscheidung, trotz aller Fremdheit und Frustration über längere Zeit vor Ort weiterzumachen, auch sehr viel Kraft und Ausdauer gefordert hat.

Dieser langjährige Aufenthalt in einem fremden Kulturkreis hat mir aber die einmalige Chance gegeben, meinen unbewussten ›Introjekten‹ auf die Spur zu kommen. Mit diesem gestalttherapeutischen Begriff meine ich meine verschluckten, verinnerlichten Modelle oder anders gesagt, die Regeln, Normen, Vorgaben, geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze in unserer (europäischen) Umwelt (Hartmann-Kottek 2004: 266). Dieser allmähliche Bewusstwerdungsprozess, bei dem ich am eigenen Leibe erfahren musste, dass meine Selbstverständlichkeiten nur manchmal unter ganz bestimmten Umständen gegeben sind, war mühsam und schmerzhaft. So wird ›Freundschaft‹ oder ›Sicherheit‹ im bolivianischen Umfeld anders erlebt, als ich sie vorher gewohnt war. Das Lebensgefühl in Bolivien und die Bedeutung vieler Ausdrücke unterscheiden sich erheblich von denen in Deutschland, Holland oder der Schweiz. Die vorherrschenden Gewohnheiten in Bolivien sind nicht besser oder schlechter, sondern einfach anders. Gleichzeitig hat die Relativierung und sogar Zerstörung meiner Introjekte sehr befreiend auf mich gewirkt und schließlich zu mehr bewusster Selbstbestimmung geführt.

 

Der horizontale Dialog nach dem Ich-Du-Prinzip von Martin Buber stellt für mich in diesem interkulturellen Kontext nach wie vor eine spannende Herausforderung dar. Denn erstens sind die Verhältnisse unvorstellbar schräg. Während ich z. B. zu jeder Zeit nach Europa zurückkehren könnte, kann mein Gegenüber höchstens ein Touristenvisum beantragen, vielleicht bekommt er jedoch nicht einmal das. Zweitens bin ich nicht nur in meiner Tätigkeit als Psychotherapeutin, sondern auch als weißhäutige ausländische Frau in Bolivien eine ständige Projektionsfläche. Ob es zutrifft oder nicht: Ich werde hier aufgrund des in den Fernsehserien vermittelten Bildes einer Gringa als reiche, gut geschulte und privilegierte, gleichzeitig naive und sexuell freizügige Person gesehen, die leicht übers Ohr zu hauen ist, zu einem gewissen Vorschussvertrauen oder zu beruflichem Neid Anlass gibt. Drittens passieren immer wieder kleine, ungewollte und gegenseitige Verletzungen im Kontakt. So war die Frage einer unbekannten Person bei einem Fest, wann ich denn wieder fortgehe, wahrscheinlich gar nicht verletzend gemeint, da es in La Paz wegen der zahlreichen Botschaften und NGOs (Non-governamental organizations) von ausländischem Personal wimmelt, das etwa alle drei Jahre ausgewechselt wird.

Obwohl Gestalttherapeuten als Kontaktspezialisten gelten, hinterfrage ich regelmäßig mich und meine berufliche Wirksamkeit in einer Umgebung, die mir wohl immer fremd bleiben wird. Es gibt solche eigenartigen Gewohnheiten und Ausdrücke, die ich auch nach anderthalb Jahrzehnten in Lateinamerika noch nicht ganz verstehe. Zudem gelingt es den Menschen hier ziemlich oft, mich zu überraschen. Folglich gehe ich möglichst offen auf sie ein, hake immer wieder bei einem Wort oder einer Geste nach und bin ständig darauf bedacht, sie nicht zu vereinnahmen. Im Grunde genommen habe ich gerade als europäische Gestalttherapeutin in Bolivien eine spezifische Rolle und Aufgabe. Indem ich nämlich den Menschen zuhöre, ohne mir ein Urteil anzumaßen, ihnen mit tiefem Respekt begegne und mich auf die gleiche Ebene stelle, gebe ich ihnen gleichsam zurück, was die Conquistadores ihnen – neben dem Gold und Silber – weggenommen haben: das Vertrauen in sich selbst, in die eigene Kraft und besondere Fähigkeiten.

1.2 Die Geschichte Boliviens

Das Leben in Bolivien sieht anders aus als das in Europa, es spielt sich unter anderen Bedingungen und Umständen ab. Mir scheint es notwendig, den Kontext gleich am Anfang dieses Buches zu schildern, weil eine Figur ohne klaren Hintergrund nicht deutlich wahrgenommen werden kann – eine Erkenntnis, die aus der Gestaltpsychologie stammt. Ein echtes Verständnis der Resultate des Forschungsprojektes und meiner persönlichen bzw. beruflichen Erfahrungen in Bolivien ist nur aufgrund eines Wissens um dessen Geschichte und aktuelle Gesellschaft möglich. Zahllose Gegebenheiten, heftige Emotionsausbrüche, extreme Meinungen und Konflikte in der Gegenwart,2 die in den Augen eines Außenstehenden völlig unverständlich und irrational erscheinen, lassen sich größtenteils aus der Vergangenheit und dem zeitgenössischen sozio-politischen und wirtschaftlichen Kontext erklären.

Interessanterweise haben die bolivianischen Schulkinder ein Pflichtfach, das inhaltlich unter anderem aus dem Studium der Französischen Revolution besteht, während die Kinder in Europa in der Schule doch eher selten etwas über die Zeit der Militärdiktatur in Bolivien erfahren. Die heutige Regierung hat sich erst neulich zum Ziel gesetzt, das Erziehungswesen und überhaupt die öffentlichen Einrichtungen zu »entkolonialisieren«, wie sie selbst diesen politischen Schritt bezeichnet. In diesem Sinne war ich erstaunt, als ein Mitglied der Forschungsequipe,3 das ich beauftragt hatte, die Geschichte und aktuelle Lage seines Landes zu resümieren, mir eine trockene Abhandlung aufeinander folgender Epochen überreichte. Aus irgendwelchen Gründen hatte er keine einzige der haarsträubenden geschichtlichen Ungerechtigkeiten erwähnt und keinen einzigen der unpatriotischen Präsidenten beim Namen genannt. Wollte er nach einer nicht existierenden Objektivität vorgehen, sich gegenüber den Herrschenden seiner Heimat loyal zeigen oder sich nicht emotional aufwühlen lassen? Hatte er eine Lücke in seinem Geschichtsverständnis oder ausgerechnet diese Fakten einfach ›vergessen‹?

Ich bin mir durchaus bewusst, dass die folgende Darstellung der Geschichte und aktuellen Lage Boliviens subjektiv ist. Selbstverständlich habe ich mich an die Fakten gehalten, wobei ich nicht auf alle Einzelheiten eingehen konnte, sondern besondere Geschehnisse und Sachverhalte herausgenommen habe. Bei dieser Schilderung des Hintergrundes geht es mir darum, in erster Linie einen kurzen historischen Überblick, in zweiter Linie aber auch die jeweilige kollektive Bedeutung und inhärente Gefühlsladung zu vermitteln.

Die Geschichte Boliviens ist von Jahrhunderten langer blutiger Gewalt gekennzeichnet: von der Eroberung durch die Inkas und der darauf folgenden Conquista durch die Spanier, dem kolonialen System, dem Unabhängigkeits- (1809-1825) und Bürgerkrieg (1899), der Revolution von 1952 mit anschließender Agrarreform und vielen Verstaatlichungen, den verschiedenen Militärdiktaturen zwischen 1964 und 1982 mit ihren Staatsstreichen und Massakern bis hin zur Wiederherstellung der Demokratie, den soziokulturellen Aufständen wegen einer unvorstellbaren Hyperinflation, den erzwungenen Umsiedlungen von Minenarbeitern und den rigorosen Privatisierungen mit großer Arbeitslosigkeit.

Die ursprüngliche Bevölkerung wurde seit 1535, der Ankunft von Diego de Almagro in Nuevo Toledo (dem heutigen Bolivien), mit den traumatischen Ereignissen der Conquista konfrontiert. Im Verlaufe der Zeit wurde sie dann in Indígenas (einheimische Urbevölkerung), Criollos (Spanier, die in der Kolonie geboren sind) und Mestizos (Mischlinge) aufgeteilt. In der Vergangenheit standen die Einheimischen immer wieder den Mischlingen und Weißen gegenüber; die Bauern, Minenarbeiter und Gewerkschafter immer wieder den Soldaten und Polizisten, die auf der Seite der herrschenden Klasse standen. Die Bevölkerung wurde andauernd fremdbestimmt, sie wurde missioniert, unterdrückt und ausgebeutet.

Ein Beispiel früher institutionalisierter Ausbeutung der Bevölkerung war die Mita, was auf Ketschua »Arbeitsschicht, Arbeitszeit, Jahreszeit« bedeutet. Sie wurde zur Inkazeit als System der Tributleistung durch Arbeit eingeführt. Die Mitayuq oder Fronarbeiter bekamen keinen Lohn, sondern wurden vom Inka-Staat lediglich verpflegt. Dieser öffentliche Frondienst wurde allerdings später von den Spaniern in verschärfter Form fortgeführt. Diese zwangen nämlich einen erheblichen Teil der indigenen Bevölkerung aus den Dörfern zur Mita. Obwohl das System formal streng reguliert war, beuteten die Spanier die Arbeitskräfte aufs Schärfste aus, insbesondere in den Bergwerken. Das goldene Zeitalter in Europa war nur durch den Raubbau der europäischen Mächte möglich, und die industrielle Revolution im Abendland wurde vor allem auf diese Weise finanziert.

Die Spanier schickten vor allem zahllose indigene Dorfbewohner nach Potosí, einem aufstrebenden Minendorf auf etwa 4.000 Metern Höhe, und zwar ins Innere des Cerro Rico (»Reicher Berg«), auf Ketschua Sumaq Urqu, mit den größten Silbervorkommen der spanischen Kolonialzeit. Die Stadt Potosí hatte damals (17. Jahrhundert) gleichviel Einwohner wie London und übertraf europäische Städte wie Madrid, Paris oder Berlin. Hunderttausende von Zwangsarbeitern, die vielfach nicht einmal aus dem andinen Hochland stammten und trotz der dünnen Luft zu Höchstleistungen unter riskanten Bedingungen angetrieben wurden, kamen dort ums Leben. Wie hoch die menschlichen Opfer tatsächlich waren, ist wissenschaftlich umstritten. Im Jahre 1719 raffte der Typhus allein in Potosí in zehn Monaten 22.000 Menschen dahin. Nach dem Forscher Dobyns starben in den ersten 130 Jahren nach der Ankunft Kolumbus’ etwa 95 Prozent der gesamten indigenen Bevölkerung Amerikas aufgrund des Genozids, unbekannter Seuchen und Erschöpfung (Dobyns 1983). Obwohl in Bolivien genaue Angaben fehlen, haben die Menschen dieses kollektive traumatische Geschehen in Form eines packenden Bildes in Erinnerung. Man erzählt sich hier nämlich, dass man mit dem gesamten Silber, das während der Kolonialzeit aus dem Cerro Rico zutage gefördert wurde, eine Brücke über den Atlantischen Ozean von Bolivien nach Spanien bzw. eine ebenso lange Brücke aus den Gebeinen der Toten, die in den Minen des Berges umgekommen sind, bauen könnte. Dieses Bild mag sehr dramatisch anmuten, dennoch trifft es annähernd die historischen Tatsachen.

In den Kriegen gegen Chile (1879-1883) und Paraguay (1932-1935) sowie in den Grenzverhandlungen mit Argentinien, Brasilien und Peru war Bolivien immer wieder der Verlierer.4 Innerhalb eines Jahrhunderts hat das Land über die Hälfte seines Grundgebietes – zum Teil reich an Salpeter, Kupfer und Kautschuk – an die umliegenden Staaten abtreten müssen. Zahlenmäßig verlor Bolivien seit seiner Unabhängigkeit im Jahre 1825 1.265.188 Quadratkilometer, sodass das nationale Territorium heute noch 1.098.581 Quadratkilometer beträgt. Der sogenannte Pazifikkrieg (1879) mit Chile ist im Bewusstsein der Menschen noch immer verankert, da den Kindern im Geschichtsunterricht beigebracht wird, Chile als Erzfeind zu betrachten und den verloren gegangenen Meereszugang von Chile zurückzufordern. Hinsichtlich des sogenannten Chacokrieges (1932-1936) erinnern sich viele Bolivianer daran, wie ihre Großväter oder Großonkel von dieser Hölle erzählt haben. Dieser für ganz Amerika größte und blutigste Krieg des 20. Jahrhunderts fand in einer Steppen- und Sumpflandschaft statt. Während der Grabenkämpfe kamen auf bolivianischer Seite etwa 55.000 und auf paraguayischer Seite 40.000 Soldaten durch Kugeln, Malaria oder Wassermangel ums Leben.5 Paraguay verdoppelte sein Staatsgebiet, aber die vermuteten Bodenschätze stellten sich als fiktiv heraus. Die Hoffnung Boliviens, via Río Paraguay einen Zugang zum Atlantik zu ergattern, nachdem es den Zugang zum Pazifik verloren hatte, erfüllte sich so nicht.