Klassen führen (E-Book)

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Aus der Reihe: Kerngeschäft Unterricht #2
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Christoph Städeli, Manfred Pfiffner, Saskia Sterel, Claudio Caduff



Klassen führen



mit Freude, Struktur und Gelassenheit



Mit einem Vorwort von Fritz Oser



Kerngeschäft Unterricht, Band 2



ISBN Print: 978-3-0355-1307-3



ISBN E-Book: 978-3-0355-1308-0



Die Reihe «Kerngeschäft Unterricht» erscheint in drei Bänden:



1 Unterrichten



2 Klassen führen



3 Prüfen



1. Auflage 2019



Alle Rechte vorbehalten



© 2019 hep verlag ag, Bern





www.hep-verlag.com






Inhalt





VORWORT







EINLEITUNG







1KLASSEN FÜHREN – WAS ICH WISSEN MUSS







Merkmale von Unterricht







Führung im Kontext von Schule







Klassenführung: Definitionen







Wirkung von Klassenführung







Prinzipien der Klassenführung







Klassenführung und Disziplin







Klassenführung als ein Element von Unterrichtsqualität







Merkmale erfolgreichen Führungsverhaltens







Verhalten von Lehrkräften und Lernenden







Klassenführung und Gesundheit







Führung und Struktur







2DER UMGANG MIT DEN LERNENDEN







Lehren und Lernen ist Beziehungsarbeit







Wichtige Faktoren des Unterrichtsklimas







Klassenklima als vorausplanendes Handeln







Erziehungsstil







Das strategische Impression Management







Resonante Beziehung im Unterricht







Die kommunikative Haltung







Kommunikation und die Ordnung von Unterricht







Kommunikation im Unterricht







Der personale Sprechstil







EXKURS







3STRUKTUR UND KLARHEIT







Bedeutung von Struktur und Klarheit







Unterricht vorbereiten







Unterricht durchführen







EXKURS







4EINSTIEGSSITUATIONEN GESTALTEN







Einstiegssituation: neue Klassen







Einstiegssituationen im Schulalltag







EXKURS







5REGELN, RITUALE UND UNTERRICHTSSTÖRUNGEN







Klassenregeln







Rituale







Umgang mit Störungen im Unterricht







6DER GEWINN GUTER KLASSENFÜHRUNG







Klassenführung – Bedeutung für die Lehrkraft







Klassenführung – Bedeutung für die Schülerinnen und Schüler







Unterrichten mit Freude, Struktur und Gelassenheit







7ANHANG







Literaturverzeichnis







Register







DIE AUTORIN UND DIE AUTOREN








Vorwort





Dieses reiche und überzeugende Buch ist nicht eine Führungslehre, es ist viel mehr, es ist eine Anleitung zur Gestaltung einer umsichtigen Lebenswelt: eben Unterricht. Lehrkräfte sind kreative Unternehmer und Unternehmerinnen, die in ihrem Bewusstsein auf Gewinn aus sind; aber dieser Gewinn besteht nicht aus Geld, sondern aus dem Leben, der Motivation, den Kompetenzen, der Lernwelt der Kinder und Jugendlichen. Es ist ein großes Investment, das umfangreiche humane Gewinne abwirft. Es verlangt eine Gestaltungskraft, die situativ je anderes abruft, einmal Organisation, einmal Inhalte, einmal Differenzierung, einmal Didaktik, einmal Unterstützung, einmal individuelles Bedürfnis. Und all dies ist hier zu finden. Die Sicht ist die der Lehrkraft; sie soll zum Wohl der Lernenden die Lebenswelt Schule kräftig, aber eben achtsam gestalten.



Das Buch ist aber auch eine – zurzeit – sehr gute Übersicht über die Forschung und die normativen Ableitungen für die erwähnte Gestaltung des Unterrichts. Es ist dahingehend reich, dass weder bloß Classroom Management noch bloß Disziplinfragen und auch nicht nur Störungsanfälligkeit oder nur Autoritätsprobleme angesprochen werden. Es wird stets das Ganze gesehen, es wird stets die situative Einbettung angesprochen, und die Komplexität der täglichen Gestaltung des Lernverlaufs bleibt auch dann bestehen, wenn einzelne Elemente herausgegriffen und bearbeitet werden. Wir haben vor uns einen Ratgeber, der nicht wie viele andere versucht, komplexe Situationen auf simple Techniken zu reduzieren. Unterkomplexität ist der Tod jeder Suche zur Lösung komplexer Fragen. In dieser Schrift wird sehr klug vorgegangen, stets wird ein Aspekt herausgehoben und beleuchtet, anderes aber nicht zum Verschwinden gebracht; es bleibt immer im Hintergrund erhalten.



Etwas wird hier ebenfalls sichtbar: Es ist der Wille, auf zweierlei Arten zu gestalten, zu formen und stets neu Bedingungen der Möglichkeit für Veränderung zu schaffen, einmal durch das, was man selbst will, dann aber auch durch das, wessen die Situation und die Lernenden bedürfen. Das wird etwa sichtbar in den Darstellungen zum Schulanfang, zum Umgang mit schwierigen Situationen und zur Herausarbeitung von Regeln und Ritualen. Man spürt diesen Willen zur Transformation, man wird im Lesen immer sensibler für das, was wir sinnvollen Eingriff nennen, für die sogenannte pädagogische Notwendigkeit. Dieser Begriff meint, dass Schülerinnen und Schüler stets etwas benötigen – einmal Material zum Bearbeiten, einmal ein starkes Feedback, einmal eine Aufforderung, einem andern zu helfen, einmal Zeit für Entdeckungen, einmal eine organisatorische Maßnahme, einmal ein Zuzwinkern – und wir darauf reagieren. Die pädagogische Notwendigkeit steuert neben dem allgemeinen Unterrichtsverlauf die Bedürfnisse der Lernenden. Sie erzeugt jene berufsspezifische Sensibilität, die Signaturcharakter hat, die nur, und wirklich nur Lehrkräften zukommt, die nur für sie spezifisch sind.



In diesem Zusammenhang sprechen wir oft von der beruflichen Souveränität. Sie besteht nicht darin, dass alles leicht geht, leicht gemacht wird, oder linear gedacht werden soll. Professionelle Souveränität richtet sich auf die in dieser Schrift dargestellte Vielfalt der Probleme und auf den stetigen Versuch, sie zu lösen. Auch wenn dies nur teilweise gelingt, und jede engagierte Lehrkraft am Ende des Tages erschöpft und ausgelaugt ist, so besteht Souveränität genau darin, nicht einfach Außenunterstützung zu suchen, sondern hier und jetzt mit den Gegebenheiten zu kämpfen, sie zum Besten aller zu bewältigen. Und dazu ist diese Schrift eine subtile Hilfe und eine große Unterstützung.



Wer genau hinschaut, findet in diesem Buch ein originelles Lehrermenschenbild. Hinter der Geschäftigkeit des Technischen, hinter dem Wissen und Können und hinter der Haftung und Verantwortung für das, was wir tun, steht der Glaube, dass Auszubildende fähig sind, eine eigene Lebenswelt aufzubauen, autonom zu sein und fruchtbare Beziehungen zu pflegen. In vielen Details wird sichtbar, dass hier zugemutet wird, dass die Lernenden es schaffen. So heißt es etwa auf

Seite 37

: «Hier geht es darum, gegenüber sogenannten schwierigen Schülerinnen oder Schülern die eigenen Einstellungen zu überdenken. Eine negative Einstellung erschwert ganz sicher, eine positive Beziehung gegenüber solchen Schülerinnen und Schülern aufzunehmen. Hier kann es helfen, bevor man an einem neuen Tag in eine Klasse kommt, an die Schülerinnen und Schüler zu denken, mit denen es zu Problemen kommen könnte. Dabei stellt man sich vor, inwieweit sich diese Schülerinnen und Schüler auch positiv engagieren könnten. Wenn man ihnen dann begegnet, soll man sich an diese positiven Gedanken erinnern – auch eine Art Reframing.» Solches weist darauf hin, dass es letztlich um das Ethos des Vertrauens und des Engagements geht. Es geht nicht darum, an seinen eigenen Lehrererfolg zu glauben, es geht darum, an die Schülerin und an den Schüler zu glauben. Es geht darum, das Gute zu erwarten. Es wird erscheinen.

 



Ich habe am Anfang die Metapher der Unternehmensführung mit dem Gewinnstreben nach positiver Veränderung der Lernenden verwendet. Lehrkräfte haben eine große Wirkung hinsichtlich dieser Lern- und Lebenswelt. Wir haben viele Interviews mit Unterrichtenden durchgeführt, aber auch mit Menschen, die von unterschiedlichen Biografien her auf die damals von ihren Lehrkräften gestaltete Lernwelt zurückblicken. Wenn sie sagen: «Hat sie mir doch gesagt: Probiere es noch einmal, du schaffst das. Und dann ist mir so vieles gelungen.» Da wird deutlich, wie viel sich in dieser Schrift verbirgt. Eigentlich könnte man sagen, es sind Techniken der Hoffnung. Denn alles, was präsentiert wird, soll mit der oben erwähnten Gestaltungskraft verbunden und mit dem Gestaltungswillen in Zusammenhang gebracht werden.



Fritz Oser



Im Herbst 2019







Einleitung





Klassen führen ist eine zentrale Aufgabe jeder Lehrkraft. Eine Klasse gut führen zu können ist für Lehrkräfte, die neu in den Beruf einsteigen, ein wichtiger Indikator für die Zufriedenheit und den zukünftigen Lehrerfolg. Aber auch Lehrkräfte, die schon seit Jahren erfolgreich unterrichten, müssen ihre Vorstellung von Klassenführung immer wieder hinterfragen, um die Herausforderungen zu meistern, die die Gesellschaft an die Bildungseinrichtungen stellt. Wie definieren wir Klassenführung? Und warum orientieren wir uns bei unseren Ausführungen an den drei Prinzipien Freude, Struktur und Gelassenheit? Wie ist das Buch aufgebaut?



Bei der Umschreibung von «Klassenführung» lehnen wir uns eng an die Definition von Kiel, Frey und Weiß (2013) an. So sehen wir Klassenführung als «eine Interaktion im institutionalisierten Rahmen einer Schulklasse, die durch ein hohes Maß an Unsicherheit und Komplexität geprägt ist» (ebd., S. 16). Durch die aktive Führung werden Unsicherheit und Komplexität strukturiert und reduziert. Dadurch wird einerseits Lernarbeit beziehungsweise echte Lernzeit ermöglicht, andererseits ein Rahmen für die (Potenzial-)Entfaltung sowie den Schutz jeder und jedes Einzelnen geschaffen. Beides geschieht hauptsächlich dadurch, dass Störungen durch präventive oder interventive Maßnahmen unterbunden werden (vgl. ebd.).



Eine Klasse gut zu führen ist kein technischer Akt. Aus diesem Grund durchleuchten wir die einzelnen Aspekte der Klassenführung indirekt auch nach den drei Prinzipien der Freude, Struktur und Gelassenheit.



Gelassenheit oder innere Ruhe ist die Fähigkeit, vor allem in schwierigen Situationen die Fassung zu behalten. Sie ist das Gegenteil von Stress und Unruhe. Gelingt es einer Lehrkraft angesichts eines Missgeschicks locker und freundlich zu bleiben, sich der menschlichen Schwächen bewusst zu sein und auch einmal großzügig über kleine Fehler hinwegzuschauen, spornt dies die Schülerinnen und Schüler an, am Lernen dranzubleiben (vgl. Brohm 2016). Es gibt kaum etwas Entspannenderes, als wenn im Unterricht zwischendurch herzlich gelacht werden kann. So lässt sich manche kritische Situation mit Humor entschärfen. Menschen, die über eine humorvolle Haltung verfügen, sind besser in der Lage, Unzulänglichkeiten zu verstehen und zu verzeihen (vgl. Peterson & Seligman 2004).



Unter Struktur verstehen wir den geordneten Ablauf des Unterrichts, von den einzelnen Lektionen über den Schultag bis hin zur Semester- und Jahresplanung. Für den Unterricht ist ein roter Faden, der die einzelnen Teile untereinander verbinden kann und daraus ein Ganzes schafft, von zentraler Bedeutung. Zur Struktur gehört auch die Regelklarheit. Die Schülerinnen und Schüler müssen sich auf die Lehrkraft verlassen können. Sie ist es, die dafür sorgen muss, dass das Lernen nicht ständig durch eigene ergänzende Bemerkungen oder störendes Verhalten einzelner Schülerinnen oder Schüler unterbrochen wird. Die Lehrkraft ist letztlich dafür verantwortlich, dass die Regeln von allen eingehalten werden.



In einer Längsschnittstudie konnte Victoria Bleck (2018, S. 249) aufzeigen, dass die Begeisterung beziehungsweise die Freude einer Lehrkraft für deren Kerntätigkeit, das Unterrichten, mit einer positiven Entwicklung der effizienten Klassenführung einhergeht. Oder anders formuliert: Erleben Lehrkräfte ihren Unterricht als störungsarm, so entwickelt sich ihr Enthusiasmus für das Unterrichten in den folgenden Jahren positiv. Einer effizienten Klassenführung «kommt damit nicht nur für das Lernen der Schüler eine hohe Relevanz zu, sondern auch für das Erleben der Lehrkräfte. Ausgehend von den Ergebnissen scheinen eine effiziente Klassenführung und Disziplin nicht nur für Lehrkräfte in der Phase des Berufseinstiegs von zentraler Bedeutung zu sein, sondern auch für solche Lehrkräfte, welche sich bereits in der Phase der beruflichen Konsolidierung befinden» (ebd., S. 262 f.).



Unter Freude verstehen wir in diesem Zusammenhang die emotionale Reaktion auf positive Erinnerungen und angenehme Begegnungen mit Lernenden, aber auch mit Kolleginnen und Kollegen. Solche Emotionen gehören in jeden Unterricht. Sie übertragen sich von den Lehrkräften auf die Schülerinnen und Schüler und tragen dazu bei, dass diese sich motiviert mit den Inhalten des Unterrichts auseinandersetzen. Das Erleben positiver Emotionen unterstützt den Aufbau personaler Ressourcen wie Problemlösekompetenzen, das schnellere Lernen von Inhalten, die Qualität von Beziehungen im Klassenverband und das Entwickeln von Optimismus und Zielorientierung (vgl. Brohm 2016, 22 f.).



Eine gute und effiziente Klassenführung ist auch eine wichtige Ressource für die Gesundheit aller am Unterricht Beteiligten (vgl. Haag 2008, S. 25). Psychisch gesunde Lehrkräfte lassen sich nach Schaarschmidt und Kieschke (2007, S. 22) wie folgt umschreiben: Sie zeichnen sich durch ein hohes, aber nicht exzessives berufliches Engagement und ein positives Lebensgefühl aus. Diese Lehrkräfte verfügen über eine hohe Widerstandsfähigkeit gegenüber Belastungen und über offensive Problembewältigungsstrategien, werden von den Schülerinnen und Schülern als ruhig und ausgeglichen eingestuft, sind erfolgreich im Beruf und erleben eine breite soziale Unterstützung im Lehrerkollegium. Lehrkräfte mit diesem Profil sind in der Lage, sich den beruflichen, privaten und gesellschaftlichen Anforderungen mit Zuversicht, Elan und Freude zu stellen. Wie unterscheiden sich Personen aus diesem Profil von anderen Personen, die eher «ungesunde Muster» aufweisen? In einer Untersuchung zu den «Charaktereigenschaften bei der Arbeit» konnten Gander, Proyer, Ruch und Wyss (2012) aufzeigen, dass vor allem die Charaktereigenschaften «Begeisterung», «Hoffnung», «Neugier» und «Ausdauer» für ein gesundes und ehrgeiziges Arbeitsverhalten eine Schlüsselrolle spielen.



Und die Schülerinnen und Schüler? Eigentlich ist zu erwarten, dass sie, wenn sie sich in der Schule und im Unterricht wohlfühlen, wenig Anlass zu störendem Verhalten haben. Über welche Charaktereigenschaften verfügen diese Schülerinnen und Schüler, die im Unterricht kein störendes Verhalten zeigen? Unterschiede im Vergleich zu den Schülerinnen und Schülern, die im Unterricht durch Verhaltensweisen wie Verweigerung, Störungen, Abwesenheit, aggressives Verhalten und Verstöße gegen die Hausordnung auffallen, zeigen sich vor allem in der Ausprägung der Charaktereigenschaften wie «Liebe zum Lernen», «Ausdauer», «Authentizität/Aufrichtigkeit», «Neugier», «Hoffnung» und «Urteilsvermögen» (Bienengräber & Instenberg 2016). Die Ergebnisse sind eigentlich wenig überraschend, da Schule ja vorwiegend aus Lerntätigkeiten besteht und die erfolgreichen Schülerinnen und Schüler über ein gutes Durchhaltevermögen verfügen müssen, damit sie am Unterricht über eine längere Zeit aktiv teilnehmen und die Aufgaben vollständig bearbeiten können.



Für eine gute und effiziente Klassenführung kann dies bedeuten, dass eine förderliche Einflussnahme der Lehrkraft auf diese relevanten Charaktereigenschaften dazu führen kann, dass die Schülerinnen und Schüler im Unterricht weniger störendes Verhalten zeigen. «Die gezielte, förderliche Einflussnahme auf die relevanten Charaktereigenschaften devianter Schüler scheint demgegenüber im Sinne eines präventiven Vorgehens gegen das Auftreten störenden, abweichenden Verhaltens eine erfolgversprechende Strategie zu sein – und darüber hinaus eine genuin pädagogische Aufgabe im Sinne der förderlichen Einflussnahme auf die Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen» (Bienengräber & Instenberg 2016, S. 451).



In den folgenden Kapiteln führen wir zuerst einen theoretischen Rahmen zum Thema «Klassenführung» ein. Anschließend greifen wir in den einzelnen Kapiteln verschiedene Aspekte der Klassenführung auf und legen dar, wie die Umsetzung im Unterricht gelingen kann. Wir gehen dabei jeweils indirekt auf die drei Prinzipien Freude, Struktur und Gelassenheit ein und zeigen auf, wie beim Unterrichten die oben aufgeführten Charaktereigenschaften gefördert werden können. Am Ende des Buches fassen wir die Erkenntnisse zusammen und legen nochmals dar, warum Klassen führen mit Freude, Struktur und Gelassenheit einen positiven Einfluss auf das Verhalten der Schülerinnen und Schüler im Klassenverband und auf ihre Leistungen im Unterricht hat.







1







KLASSEN FÜHREN – WAS ICH WISSEN MUSS








1 Klassen führen – was ich wissen muss



«Teachers find classroom management difficult because it is a difficult skill.»



(Emmer & Stough 2008, S. 141)



Für jede Lehrkraft – ob Anfängerin oder Expertin – ist eines klar: Ohne Klassenführung kann kein sinnvoller und ertragreicher Unterricht stattfinden. Diese Binsenwahrheit ist so alt wie brisant. Helmke und Helmke (2015) halten denn auch fest: «Effiziente Klassenführung ist nicht alles, aber ohne sie geht alles andere gar nicht». In der Forschung zur Klassenführung wird denn auch festgestellt, dass die von Lehrkräften empfundene Belastung besonders hoch ist, wenn Klassenführungsmaßnahmen nicht greifen; wenn also Disziplinstörungen auftreten und das Klassenklima schlecht ist (vgl. Byrne 1999). Aber nicht nur für eine Lehrkraft stellt die gelungene Klassenführung eine Ressource dar. Regeln für ein sozial akzeptables Gesprächsverhalten bilden beispielsweise ebenfalls Ressourcen für Lernende (vgl. Kiel, Frey & Weiß 2013, S. 15 f.).





Merkmale von Unterricht





Um den Gestaltungsraum von Lehrkräften zu erfassen, muss Unterricht definiert werden: Unterricht ist die planmäßige Zusammenarbeit von Lehrenden und Lernenden an selbst- oder fremdgestellten Aufgaben zum Zwecke der Persönlichkeitsbildung und zum Aufbau von Sach-, Methoden- und Sozialkompetenz . Unterricht



–ist zielorientiert



–ist inhaltsbezogen



–hat seinen eigenen zeitlichen Rhythmus



–findet in verschiedenen Sozialformen statt



–wird durch das didaktisch-methodische Handeln der Lehrkraft und der Schülerinnen und Schüler inszeniert



–bedarf einer vorbereiteten Umgebung (vgl. Meyer 2007, S. 56)

 



Kiper und Mischke erweitern diese Sichtweise, indem sie die Perspektive verschiedener Akteure einnehmen. Zwei Ergänzungen machen die Bandbreite der Anliegen, die mit Unterricht verbunden sind, deutlich:



–«Unterricht wird als Ort der Sozialisation, Qualifikation, Integration und Selektion verstanden.



–Unterricht erscheint als Sozial- und Lebenswelt der Kinder, als Ort kindlicher Kommunikation und Interaktion, als Ort des Umgangs der Geschlechter, als Ort der Anbahnung und Gestaltung von Freundschaften» (Kiper & Mischke 2006, S. 16 f.).



Wer selbst Unterricht erteilt, erfährt deshalb ganz schnell, dass Unterricht ein höchst komplexes Interaktionsgefüge ist. Er ist durch die folgenden Merkmale gekennzeichnet:



–Multidimensionalität: Es findet eine große Anzahl an Ereignissen statt, die zum Teil vernetzt sind und multiple Konsequenzen mit sich bringen.



–Simultanität: Verschiedene Ereignisse finden gleichzeitig statt.



–Unvorhersehbarkeit: Viele Ereignisse nehmen eine unerwartete, unvorhersehbare Wendung. Sie werden gemeinsam produziert und sind daher nur sehr schwierig antizipierbar.



–Öffentlichkeit: Schulen und Klassenzimmer sind öffentliche Räume. Ereignisse werden in der Regel von einem Großteil der Lernenden miterlebt.



–Historizität: Frühere Erfahrungen in Klassen können die nachfolgenden Ereignisse beeinflussen.



–Unmittelbarkeit: Ereignisse in Klassenzimmern geschehen sehr schnell und folgen rasch aufeinander (vgl. Doyle 1986; Haag 2018).



Damit eine Lehrkraft erfolgreich unterrichten kann, erfordern diese Merkmale neben einer guten Analysekompetenz der Lehrkraft vor allem eine gute Klassenführung (vgl. Syring et al. 2013, S. 75). «Der Klassenführung kommt deshalb eine Schlüsselfunktion im Unterricht zu», bringt es Weinert (1996, S. 124) auf den Punkt.





Führung im Kontext von Schule





Es stellt sich nun die Frage, was Führung im Kontext von Unterricht bedeutet. In den 1980er-Jahren wurden die Tätigkeiten, Herausforderungen und Führungsaufgaben von Lehrkräften einmal wie folgt dargestellt: «Wahrscheinlich gibt es nicht viele Berufe, an die die Gesellschaft so widersprüchliche Anforderungen stellt: Gerecht soll er sein, der Lehrer, und zugleich menschlich und nachsichtig, straff soll er führen, doch taktvoll auf jedes Kind eingehen. Begabungen wecken, pädagogische Defizite ausgleichen, Suchtprophylaxe und AIDS-Aufklärung betreiben, auf jeden Fall den Lehrplan einhalten, wobei Hochbegabte gleichermaßen zu berücksichtigen sind wie Begriffsstutzige. Mit einem Wort: Der Lehrer hat die Aufgabe, eine Wandergruppe mit Spitzensportlern und Behinderten bei Nebel durch unwegsames Gelände in nordsüdlicher Richtung zu führen, und zwar so, dass alle bei bester Laune und möglichst gleichzeitig an drei verschiedenen Zielorten ankommen» (Müller-Limmroth 1988, zit. in: Schratz & Schrittesser 2011, S. 177). Was hier in überspitzter Form dargelegt wurde, lässt sich in einen Kanon von Führungsaufgaben von Lehrkräften verdichten. Sie sollen (so Thiel 2016):



–Initiativen ergreifen



–Aktivitäten planen, organisieren und koordinieren



–Ausführungen kontrollieren



–Entscheidungen treffen und begründen



–Interessen von Individuen, von anderen Klassenmitgliedern und von der Gesamtklasse systematisch berücksichtigen



–Informationen bereitstellen



–Transparenz über Informationen, Kommunikation sowie Leistungserwartungen ermöglichen



–Beratungen sachverständig durchführen



–Feedback konstruktiv geben



–sozial integrierend wirken



–Möglichkeiten für Autonomie und Beteiligung schaffen



–individuelle Leistungen sowie Klassenleistungen wertschätzen



–im Sinne des Erfolgs einer Lerngruppe situationsgerecht agieren und reagieren



–die Klasse nach außen vertreten



–Interesse am persönlichen Wachstum der Lernenden zeigen



Diese lange Aufzählung von Führungsaufgaben macht deutlich, dass Unterricht – wie eingangs beschrieben – ein komplexes Geschehen ist und hohe Anforderungen an Lehrkräfte stellt.





Klassenführung: Definitionen





Doch was versteht man eigentlich unter Klassenführung? In der fachwissenschaftlichen Literatur lässt sich eine Vielzahl an Definitionen finden. So halten Gold und Holodynski (2011) und Ophardt und Thiel (2013) zusammenfassend fest, dass Klassenführung die Art und Weise bezeichnet, wie eine Lehrkraft die einzelnen Unterrichtsaktivitäten wie beispielsweise das Unterrichtsgespräch, die Lehrerinstruktionen oder -demonstration einvernehmlich mit den Lernenden einrichtet und ihren reibungslosen, störungsfreien Ablauf gewährleistet. So besteht das Ziel von Klassenführung in der Maximierung der Lernzeit für jede und jeden Lernenden. Sie bildet damit eine wesentliche Voraussetzung, um eine anregende Lernumgebung für eine Gruppe von Schülerinnen und Schülern zu gestalten.



Helmke und Helmke (2015, S. 8) definieren Klassenführung wie folgt: «Sie umfasst Konzepte, Strategien und Techniken, die dem Ziel dienen, einen störungsfreien und reibungslosen Unterrichtsverlauf zu ermöglichen und damit aktive Lernzeit zu maximieren: durch Regeln und Prozeduren, die Allgegenwärtigkeit der Lehrkraft, den Aufbau erwünschten Verhaltens und einen angemessenen Umgang mit Störungen».



Kiel, Frey und Weiß (2013, S. 16) nehmen zusätzlich eine didaktische Dimension in ihre Definition auf: «Klassenführung steht für eine Interaktion im institutionellen Rahmen einer Schulklasse, die durch ein hohes Maß an Unsicherheit und Komplexität geprägt ist. Klassenführung will Unsicherheit und Komplexität strukturieren und reduzieren, um einerseits Lernarbeit zu ermöglichen und andererseits einen Rahmen für die Entfaltung und den Schutz des Einzelnen zu etablieren. Beides, das Ermöglichen von Lernarbeit und die Etablierung eines geschützten Rahmens, geschieht wesentlich dadurch, dass Störungen durch präventive oder interventive Maßnahmen unterbunden werden. Beides, die Entwicklung eines geschützten Rahmens und die Ermöglichung von Lernarbeit, wird



–aktiviert



–angeleitet



–begleitet durch Beratung



–unterstützt (durch Zielsetzung, Diagnostik, angemessene Interventionen; durch die Bereitstellung oder das Kreieren von Ressourcen)



–zur Verpflichtung von Schülerinnen und Schülern gemacht



–verpflichtend durch Lehrpersonen geplant, durchgeführt und evaluiert »



Bei den aufgeführten Definitionen zur Klassenführung spiegelt sich wider, dass Unterricht in allen seinen Facetten ein komplexes Interaktionsgefüge ist, das nie nur monokausale Zusammenhänge bringt.



Immer wieder ist auch der Begriff Classroom Management zu hören. Classroom Management bündelt verschiedene Unterrichts(qualitäts)merkmale und umfasst deutlich mehr als Klassenführung. Beim Classroom Management geht es verstärkt um die Aktivität von Schülerinnen und Schülern, um Selbstregulation und -verantwortung – womit eine Lernendenorientierung erkennbar wird (vgl. Syring et al. 2013, S. 75 ff.).





Wirkung von Klassenführung





Die Bedeutung der Klassenführung für den Lernerfolg von Lernenden konnte in Metaanalysen klar bestätigt werden (vgl. Seidel & Shavelson 2007; Wang, Haertel & Walberg 1993). In der viel beachteten Studie von Wang, Haertel und Walberg (1993) war das Klassenmanagement als eines von 28 verschiedenen Merkmalen am stärksten mit dem Lernerfolg der Lernenden verknüpft, und zwar noch vor der Metakognition und der Kognition. Bei Hattie findet sich eine mittlere Effektstärke (d = 0,35) (Beywl & Zierer 2018). Die Hattie-Studie ist für einen Bericht des Forschungsstandes zur Klassenführung allerdings nicht sonderlich ertragreich, weil sich Hattie (2013, S. 122; S. 124 f.) auf sehr wenige Metaanalysen zur Klassenführung und zum «Reduzieren von Unterrichtsstörungen» stützen kann (vgl. Helmke & Helmke 2015, S. 7).



Helmke dagegen stellt fest, «dass kein anderes Merkmal so eindeutig und konsistent mit dem Leistungsniveau und dem Leistungsfortschritt von Schulklassen verknüpft ist wie die Klassenführung» (Helmke 2003, S. 78). Es ist daher nicht verwunderlich, dass der Klassenführung in den Merkmalskatalogen zu gutem Unterricht jeweils eine besondere Stellung eingeräumt wird (vgl. bspw. M