Mädchen und Frauen in der deutschen Jugendbewegung im Spiegel der historischen Forschung

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Mädchen und Frauen in der deutschen Jugendbewegung im Spiegel der historischen Forschung
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Christiane Kliemannel

Mädchen und Frauen in der

deutschen Jugendbewegung

im Spiegel der

historischen Forschung

Edition Roter Drache

Impressum

Über die Autorin

Christiane Kliemannel, M.A. (Pädagogik), Jahrgang 1981, studierte an der Universität Erfurt Erziehungs- und Religionswissenschaft. Zur Zeit promoviert sie an der Philosophischen Fakultät der Universität Erfurt zum Thema Religiöse Sinnstiftung für Mädchen und Frauen in der völkischen Jugendbewegung.

Sie lebt mit ihrer Familie in einem kleinen Dorf südlich von Weimar.

2. Auflage 2010

Copyright © 2010 by Edition Roter Drache.

Edition Roter Drache, Postfach 100147, D-07391 Rudolstadt.

email: edition@roterdrache.org, Internet: www.roterdrache.org.

Buch & Umschlaggestaltung: Edition Roter Drache

Lektorat der Magisterarbeit: Frances Hoffmann

Gesamtherstellung: Books on Demand GmbH, Norderstedt.

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013

Alle Rechte der Verbreitung in deutscher Sprache und der Übersetzung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Ton- und Datenträger jeder Art und auszugsweisen Nachdrucks sind vorbehalten. Die Rechte erstrecken sich nicht auf die zugrunde liegenden Texte und Schriften in ihrer Originalform.

ISBN 9783944180427

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Einleitung

I Rezeptionsgegenstand

1. Entstehung und Entwicklung der deutschen Jugendbewegung

1.1 Hintergründe zur Entstehung der Jugendbewegung in Deutschland

1.1.1 Gesellschaftlicher Wandel und Generationenkonflikt

1.1.2 Jugend als soziale Konstruktion und jugendliche Lebensperspektiven im Kaiserreich

1.2 Entwicklung der deutschen Jugendbewegung

1.2.1 Begründung des Wandervogels

1.2.2 Entwicklung bis zum Eintritt der Mädchen

2. Mädchen und Frauen in der deutschen Jugendbewegung

2.1 Geschlecht als soziale Konstruktion und weibliche Lebensperspektiven im Kaiserreich

2.2 Weibliche Jugendbewegung

II. Mädchen und Frauen in der deutschen Jugendbewegung im Spiegel der historischen Forschung

3. Untersuchungen zur weiblichen Jugendbewegung zur Zeit der deutschen Jugendbewegung

3.1 Männerbündischer Antifeminismus und die darauf folgenden Reaktionen

3.2 Untersuchungen zu den Mädchen und Frauen in der Jugendbewegung bündischer Prägung

4. Nationalsozialistische Deutungsversuche

4.1 Mädchen als Problem für die (männliche) Jugendbewegung

4.2 Mädchen und Frauen als Teil der (männlichen) Jugendbewegung – Die deutschen jugendbewegten Mädchen und Frauen in der Volksgemeinschaft des nationalsozialistischen Deutschlands

5. Historische Betrachtung der Mädchen und Frauen der deutschen Jugendbewegung nach 1945

5.1 Im Zeichen der „Vergangenheitsbewältigung“

5.2 Offizielle Standardwerke der deutschen Jugendbewegung

5.3 (Jugend-)soziologische und theoretische Untersuchungen

5.4 Erste Untersuchungen zur weiblichen Jugendbewegung nach 1945

6. Mädchen und Frauen in der deutschen Jugendbewegung als Objekt der Geschlechterforschung

6.1 Weibliche Jugendbewegung und Emanzipation

6.2 Selbstkonstruktionen der weiblichen Jugendbewegten – Die Heilige Insel

6.3 Weiblichkeitskonstruktionen im Zusammenhang der Geschlechterbeziehungen/-verhältnisse

6.4 Soziale Konstruktion von weiblicher Jugend in der Jugendbewegung – Eine thematische Einordnung in die moderne Geschlechterforschung

Zusammenfassung

Ausblick

Quellen- und Literaturverzeichnis

Anhänge

Vorwort

Die hier vorliegende Untersuchung wurde am 31. 05. 2005 als Magisterarbeit an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Erfurt eingereicht und von Prof. Jürgen Reyer und Prof. Theresa Wobbe geprüft, anerkannt und mit der Note 1,0 bewertet.

Inhaltlich befasst sie sich mit der Rezeptionsgeschichte der Mädchen und Frauen in der deutschen Jugendbewegung (weiblichen Jugendbewegung) in der historischen Forschung (1912 - 2003). Sie versteht sich, zum einen als Aufarbeitung der diversen Publikationen zum Thema, zum anderen soll sie den Interessenten an der weiblichen Jugendbewegung als Einführung und Nachschlagewerk dienen. Denn die Auswahl und Unterschiedlichkeit der Publikationen auf dem Forschungsgebiet der deutschen Jugendbewegung und ihrer weiblichen Mitglieder mag zwar überschaubar sein, im Vergleich zur wissenschaftlichen Beachtung der männlichen Jugendbewegten, jedoch bürgen diese für Experten und noch mehr für Einsteiger durchaus Überraschungen, Enttäuschungen u. a. Hier versucht die Arbeit Aufklärung zu betreiben. Darüber hinaus bietet die Untersuchung eine Darlegung der Wissensbestände bzw. Entstehungshintergründe, in denen die jeweiligen Publikationen entstanden sind, und arbeitet unter Berücksichtigung der Erkenntnisse der Geschlechterforschung den Wandel der Geschlechtersemantik in jenen Studien heraus, spezifiziert an den Semantiken bzw. den bereits in der Jugendbewegung etablierten Weiblichkeitsvorstellungen der Kameradin, der bürgerlichen Frau und Mutter.

Entstanden ist die Idee für diese Untersuchung durch persönliche Kontakte zu Nachfahren der Jugendbewegung und der Wandervögel, denen ich für ihre Inspirationsgabe danke. Die Fertigstellung und letztendliche Veröffentlichung der Arbeit in dieser Form wäre ohne die Hilfe und Unterstützung der folgenden Personen nicht möglich gewesen, denen ich an dieser Stelle meinen Dank ausdrücken möchte: meinen/​meiner BetreuerIn und PrüferIn der Universität Erfurt, dem Archiv der deutschen Jugendbewegung, Daniel Junker; meiner Familie, meinen Freunden und D.R.. Im Besonderen möchte ich mich aber bei meinem Mann Holger Kliemannel für seine diversen Unterstützungen, seine Ratschläge, seinen Ansporn und seine Aufmunterungen bedanken.

Christiane Kliemannel, Remda-Teichel im Oktober 2006

Einleitung

Die deutsche Jugendbewegung bzw. klassische oder historische Jugendbewegung, die um die Jahrhundertwende begann und bis in das „Dritte Reich“ hineinreichte, gilt als eine soziale Bewegung, die auf die Gesellschaftsgeschichte Deutschlands bemerkenswerten Einfluß genommen hat. Angesichts dessen ist es zunächst überraschend, daß unter der Fülle an Literatur und historischen Untersuchungen1 zur deutschen Jugendbewegung kaum Studien zu deren weiblichen Mitgliedern zu finden sind und vergleichsweise wenig über die Rolle der Mädchen und Frauen2 innerhalb der deutschen Jugendbewegung gesagt wurde bzw. wird (vgl. Schade, 1996, S. 14).

 

Forschungsliteratur

Bei einer ersten Betrachtung der Literatur, die zu diesem Thema existiert, stößt man heute auf eine Reihe an Studien zu den weiblichen Jugendbewegten von Forscherinnen, die sich seit den achtziger Jahren des 20. Jh. im Rahmen der Geschlechterforschung mit dem Thema auseinandersetzen. Aus diesem heutigen Blickwinkel ist auch meine Arbeit geschrieben worden. Neben Bestandsaufnahmen der Organisationen und ihrer historischen und ideologischen Entwicklung entstanden in diesem Forschungsbereich Darstellungen einzelner Mädchenbünde sowie Aussagen bzw. intensive Untersuchungen über die spezifischen Weiblichkeitskonstruktionen der weiblichen Jugendbewegung.3 In jenen Schriften findet sich zumeist ein Verweis auf die Studie „Die Frau und die Jugendbewegung“ (1920) von Elisabeth Busse-Wilson, die sich als erste Forscherin ausführlich mit den Mädchen bzw. Frauen in der deutschen Jugendbewegung beschäftigt hat.4 Dies ist ein Hinweis darauf, daß man sich schon vor den achtziger Jahren des 20. Jh. mit den Mädchen und Frauen in der deutschen Jugendbewegung in der historischen Forschung befaßt hat. Das Besondere an dieser Studie ist, daß sie bis in die achtziger Jahre hinein eine der wenigen zusammenhängenden Arbeiten zur Situation der Mädchen und Frauen in der deutschen Jugendbewegung darstellte, denn über die Jahrzehnte hinweg lassen sich nur vereinzelte veröffentlichte und unveröffentlichte Untersuchungen und Erwähnungen (Artikel, usw.) zu diesem Thema finden.5 Doch auch diese haben für die heutige Forschung auf diesem Gebiet nicht an Bedeutung verloren, da sie zum Teil noch sehr intensiv darin rezipiert werden (vgl. Andresen, 2003, Klönne,6 2000/​1990; Schade, 1996). In der aktuelleren Forschung wird auch der Versuch gemacht, die bisher verfaßten Studien in Epochen bzw. thematisch einzuordnen (vgl. Klönne, 1990, S. 8 ff, Schade, 1996, S. 15 ff).7 Jedoch habe ich keine einzige Arbeit finden können, die sich explizit mit der Rezeptionsgeschichte der weiblichen Jugendbewegung befaßt. Es existiert keine umfassende Analyse der Rezeption der Mädchen und Frauen der deutschen Jugendbewegung in der historischen Forschung.

Fragestellung

Aus diesem Grund möchte ich mich in dieser Ausarbeitung damit beschäftigen, wie sich die historische Forschung mit dem Thema Mädchen und Frauen in der deutschen Jugendbewegung auseinandergesetzt hat. Dabei werde ich in meiner Untersuchung die Jugendbewegung in dem Zeitraum von 1901 (Begründung des Wandervogels) bis 1933 (Beginn des „Dritten Reiches“) beleuchten. Im Zentrum dieser Arbeit steht folglich die Frage, ob und inwiefern die Mädchen und Frauen in der deutschen Jugendbewegung in den wissenschaftlichen Forschungen behandelt wurden. Ich werde in dieser Arbeit nicht nur implizit, sondern auch explizit mehrere Rezeptionsphasen unterscheiden. Zum einen unterscheide ich historisch die zeitgenössischen (1901 - 1933) und nationalsozialistischen Rezeptionen sowie diejenigen nach 1945 und die gegenwärtigen Rezeptionen (bis 2003). Zum anderen wähle ich eine wissenssoziologische Perspektive: Welches Wissen stand ForscherInnen zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt zur Verfügung, und in welchen Wissensfeldern haben sie das Problem behandelt, welche politischen, kulturellen und sozialen Resonanzen sind darauf zu identifizieren?

Aufgrund der Fülle an Literatur, die es zum Thema deutsche Jugendbewegung gibt, werden in dieser Arbeit vorwiegend jene Werke bzw. Untersuchungen berücksichtigt, die in den aktuelleren Studien der ForscherInnen ab den achtziger Jahren des 20. Jh. erwähnt werden. Im wesentlichen werde ich mich jedoch aufgrund der mir vorliegenden Quellen auf die bürgerliche Jugendbewegung beziehen müssen, da andere Strömungen, wie konfessionelle, proletarische und Pfadfinder-Jugendbewegung, in der Literatur weniger Beachtung gefunden haben.8

Daneben liegt ein weiterer Schwerpunkt dieser Ausarbeitung auf der Frage, wie die weibliche Jugend bislang in den wissenschaftlichen Untersuchungen betrachtet wurde. Anhand welcher Leitbegriffe, Vorstellungen von Geschlechterbeziehungen und -verhältnissen9 und Weiblichkeitsbildern/​-konstruktionen10 (Kameradin, Frau und Mutter) ist die weibliche Jugendbewegung rezipiert worden? Hat sich die Sichtweise auf die Mädchen und Frauen im allgemeinen und hinsichtlich der eben genannten Punkte im Laufe der Zeit in jenen Studien möglicherweise verändert? Lassen sich über die verschiedenen Jahrzehnte wissenschaftlicher Forschung hinweg eventuelle Ähnlichkeiten und Differenzen erkennen? Wenn ja, welche Schwerpunkte wurden gesetzt, und sind vielleicht neue Gesichtspunkte in den Studien hinzugekommen?

Zur Beantwortung dieser Fragen sind die Untersuchungen der beiden Forscherinnen Leupold und Reese11 zum kulturellen Wandel in dem Verständnis der Geschlechterbeziehungen in dieser Arbeit grundlegend: Danach wurde seit Beginn der bürgerlichen Gesellschaft, aus der auch die Jugendbewegten entstammten, der Verhaltenskodex in den Geschlechterbeziehungen immer weniger von Liebe und Sexualität bestimmt, wie sie für Intimbeziehungen bzw. die Ehe bestimmend sein sollte. Dafür gewann das Konzept der Kameradschaft unter Ausschluß von Liebe und Sexualität (Reese, 1993, S. 59), wie sie für gesellschaftliche Beziehungen bzw. Außenbeziehungen bestimmend sein sollte, immer mehr an Bedeutung (vgl. Leupold, 1983, S. 298). Diese Vorstellungen von Geschlechterbeziehungen glaubt Reese auch in der deutschen Jugendbewegung wiederzufinden, und zwar in Form des Konzepts der Kameradschaft bzw. des Weiblichkeitsbildes der Kameradin. Dieses beschränkte sich im Kontext der Jugendbewegung auf die jugendspezifische Altersgruppe, während es zuvor, im 19 Jh., auch in der bürgerlichen Gesellschaft erfolglos erprobt wurde (vgl. 1991, S. 9). Weiterhin wird in dieser Arbeit deutlich werden, daß die Kameradschaft in der Rezeptionsforschung zur weiblichen Jugendbewegung eine zentrale Bedeutung eingenommen hat. Überdies spielt auch das klassische Weiblichkeitsbild der bürgerlichen Frau und Mutter in der Analyse der Rezeptionsforschung eine entscheidende Rolle, also die Beschränkung der Frau bzw. des Mädchens auf ihre reproduktiven Fähigkeiten und ihre Funktion als Gegenpol zum bürgerlichen Mann (vgl. ebd., S. 10). Hier kommt auch der Gedanke der Geschlechterpolarität mit ins Spiel.

Zum Aufbau der Arbeit

Einleitend beschäftige ich mich mit dem Rezeptionsgegenstand. In diesem Kontext werde ich zunächst den Begriff der Jugendbewegung erläutern. Im Anschluß daran werde ich einen Einblick in den historischen Rahmen geben, welcher zur Begründung jener Bewegung führte. Zudem soll auch das frühere Gesellschaftsbild von Jugend erörtert werden, da Jugend als eigenständige Lebensphase mit Rechten und Verpflichtungen als eine Erscheinung des neunzehnten Jahrhunderts betrachtet wurde. Demnach geht es um die Besonderheiten, die dieser gesellschaftlichen bzw. sozialen Konstruktion von Jugend zugrunde liegen, sowie um ihr Selbstverständnis und die Anforderungen, die Ende des neunzehnten Jahrhunderts an sie gestellt wurden. Daneben befaßt sich das erste Kapitel auch mit der Entwicklung der deutschen Jugendbewegung bis zum Eintritt der Mädchen. Ziel ist es, eine kurze Einführung in das Phänomen der Jugendbewegung in Deutschland zu geben, die zunächst von der männlichen Jugend dominiert worden ist. Das zweite Kapitel beschäftigt sich konkret mit den Mädchen und jungen Frauen in der deutschen Jugendbewegung und soll unter Berücksichtigung der folgenden Fragen auf den Schwerpunkt der Arbeit hinführen: „Wie sahen die weiblichen Lebensperspektiven aus? Seit wann und warum wurden Mädchen und Frauen in der deutschen Jugendbewegung aktiv? Wie wurde innerhalb der Jugendbewegung auf die Mädchen reagiert?“ Um die Mädchen in ihrem Dasein in der Jugendbewegung analysieren zu können, wird unter anderem in dieser Einführung die Struktur und das Erscheinungsbild sowie die besondere Anziehungskraft der Jugendbewegung aufzuzeigen sein. Des weiteren geht es mir vor allem darum, Unterschiede in den damaligen Gesellschaftsbildern bzw. sozialen Konstruktionen von Mädchen und jungen Frauen im Vergleich mit den Jungen, d. h. der Geschlechter, hervorzuheben. Denn die Geschichte der Mädchen und Frauen in der deutschen Jugendbewegung ist immer auch Geschlechtergeschichte gewesen, wie in dieser Arbeit noch deutlich werden wird. Diese einführenden Kapitel dienen dazu, die möglicherweise divergierenden Perspektiven diverser ForscherInnen auf die weiblich „Jugendbewegten“ über die Jahrzehnte der historischen Forschung hinweg besser zu verstehen.

Im Anschluß daran werde ich mich der Betrachtung der Mädchen und Frauen in der deutschen Jugendbewegung in der historischen Forschung zuwenden. Dabei werden chronologische und systematische Aspekte miteinander verbunden, da einige der Schriften, die ich untersucht habe, auf die wissenschaftliche Betrachtungsweise der weiblichen Jugendbewegung und zur Zeit der historischen Jugendbewegung auf die weiblich Jugendbewegten selbst Einfluß hatten (vgl. Klönne, 1996, S. 248). Zum besseren Verständnis werde ich in die Rezeptionsphasen einführen und die Auswahl der von mir untersuchten Studien begründen. Beginnen werde ich im dritten Kapitel mit jenen Untersuchungen zur deutschen Jugendbewegung, deren Fokus auf den weiblichen Anhängerinnen liegt und die direkt aus der „jugendbewegten“ Zeit (1912 - 1933) stammen. Diese Studien werden auch in den nachfolgenden Betrachtungen häufig diskutiert werden. Bedeutsam sind die zu beleuchtenden Studien insofern, da sie in der Erlebniszeit der Jugendbewegung entstanden sind und damit eine unmittelbare Nähe zur Bewegung aufweisen. Dadurch können bestimmte Denkmuster der Zeit rekonstruiert werden, und mögliche Ähnlichkeiten bzw. Differenzen in den zeitlich darauf folgenden Untersuchungen werden besser ersichtlich. Hieran folgt eine Diskussion der nationalsozialistischen Deutungsversuche der deutschen Jugendbewegung. In diesen hat man versucht, die Ideen der Jugendbewegung, vor allem die der Bündischen Phase, für die nationalsozialistischen Ideologien zu vereinnahmen, auch in Bezug auf das Geschlechterverhältnis. An dieser Stelle lassen sich auch gedankliche Verbindungen zu den Schriften aus der jugendbewegten Zeit aufweisen.

In den nachfolgenden Studien zur Jugendbewegung ist versucht worden, einen Umgang mit dieser möglichen Verbindung zwischen Jugendbewegung und Nationalsozialismus zu finden. Vielfach wurde diese auch intensiv in Form einer Art „Vergangenheitsbewältigung“ diskutiert. Ob sich das auch auf die Betrachtung der jugendbewegten Mädchen und Frauen ausgewirkt hat, soll u. a. im ersten Abschnitt des fünften Kapitels untersucht werden. Weitere Analysepunkte des fünften Kapitels sind dann vorrangig die historischen Betrachtungen der deutschen Jugendbewegung nach 1945, d. h. die Chroniken bzw. offizielle Standardwerke, historische Bestandsaufnahmen der deutschen Jugendbewegung, aber auch, wie in einem weiteren Abschnitt deutlich wird, wichtige (jugend-)soziologische und -theoretische Studien. Auch die ersten Untersuchungen der weiblichen Jugendbewegung nach 1945 dürfen in dieser historischen Analyse nicht unbeachtet bleiben. Dabei geht es sowohl um eine soziologische Betrachtung (Mancke/​Wolf, 1961) als auch um ihre historische Bestandsaufnahme (Mancke, 1961), die im letzten Abschnitt des fünften Kapitels vorgestellt werden. Diese Studien sollen den Übergang zu den differenzierteren wissenschaftlichen Auseinandersetzungen bilden, die ab den achtziger Jahren des 20. Jh. einsetzten.

Die Studien vor allem junger ForscherInnen, die dieses Thema scheinbar zum ersten Mal ausführlich ins Zentrum der historischen Forschung zur deutschen Jugendbewegung gerückt haben, möchte ich im sechsten und letzten Kapitel dieser Arbeit vorstellen. Kennzeichnend für diese Untersuchungen ist, daß ihr Arbeitsschwerpunkt auf die Geschlechterforschung gelegt wurde, die sich in diesem Zeitraum besonders etabliert hatte. Hierdurch wurden die Mädchen und Frauen in der deutschen Jugendbewegung in einem vermutlich vollkommen anderen bzw. neuen Licht betrachtet. Dies läßt vermuten, daß wir hier im Vergleich mit bisherigen Studien gänzlich neue Perspektiven auf die weiblichen Jugendbewegten zu erwarten haben, vor allem für den Bereich der Geschlechterverhältnisse, Geschlechter- bzw. Weiblichkeitskonstruktionen, mit dem sich die Geschlechterforschung schwerpunktmäßig befaßt.

 
I Rezeptionsgegenstand

1. Entstehung und Entwicklung der deutschen Jugendbewegung

Um das Phänomen Jugendbewegung angemessen verstehen zu können, gilt es zunächst, einige allgemeine Hinweise zum Begriff zu liefern. Vermutet wird, daß die Bezeichnung Jugendbewegung durch Hans Blühers Werk „Der Wandervogel. Geschichte einer Jugendbewegung“ populär gemacht wurde (vgl. Schröder, 1996, S. 39). Im Prinzip ging diese Bezeichnung aus dem „Wandervogel – Ausschuß für Schülerfahrten“12 (AfS) (vgl. 1.2.1) hervor und umfaßte im wesentlichen den Wandervogel (Kaiserzeit), die Freideutsche Jugend und Bündische Jugend (Weimarer Republik) (vgl. Schneider, 1990, S. 6). Ein Deutungsversuch von Viktor Engelhardt lautet: „Jugendbewegung im allgemeinsten Sinne des Wortes bezeichnet eine geistige Bewegung, in der junge Menschen Träger neuer, meist gegen die bestehende Ordnung gerichteter Gedanken sind“ (1927, S. 1).

Im groben stimmt diese Begriffsbestimmung überein mit dem gängigen Verständnis von sozialen Bewegungen, definiert als „Prozeß des Protests gegen bestehende (soziale) Verhältnisse“ (Rammstedt, 1978 in Thiel, 1999, S. 868) sowie mit der Intention gesellschaftlicher Veränderung (Jugend als Träger neuer Gedanken, C.K.).13 Sozial deshalb, weil sie – im wesentlich getragen von Gymnasiasten – sich gegen die soziale Ordnung wandte, „gegen einengende, konventionelle Autoritäten (Eltern und Schule, C.K.) und eine mechanische Großstadtkultur“. Stattdessen sah sie „im Jugendlichensein selbst den Ausdruck positiv besetzter Werte wie Gemeinschaft, Einfachheit, Emotionalität und Vitalität (…) und (brachte, C.K.) diese im gemeinsamen Wandern (…) mit Lagerleben, Spielen und Musik zum Ausdruck“ (Raschke, 1988, S. 47). Die Jugendlichen fanden sich in den entsprechenden Wandergruppen – den außerschulischen Organisationen – zusammen, die von einem kaum älteren Führer geleitet wurden, um nach „einer Verwirklichung jugendlicher Verkehrsformen neben und in Abschließung von industriellen und politischen Entwicklungen“ (ebd.) zu suchen. Das hatte den Erfolg, daß Jugend als Lebensphase weitere Anerkennung fand und die jugendbewegten Ideale in gewandelter Form in die verschiedensten Berufs- und Lebensbereiche eingebracht wurden (vgl. ebd., S. 49 f). Damit beinhaltet die Jugendbewegung fast alle wesentlichen Merkmale sozialer Bewegungen: Kollektive Aktionen (Wandern) von individuellen, aber auch korporativen Akteuren (Führer), die der Durchsetzung gemeinsam gesetzter Ziele (Gemeinschaft, Einfachheit, Emotionalität) dienen. Die Akteure sind untereinander vernetzt und haben eine Gruppe (Wandergruppe) oder eine kollektive Identität (gemeinsames Wandern mit dem dazugehörigen Lagerleben, Spielen und Musik). Die kollektiven Aktionen sind auf Dauer gestellt (weitere Anerkennung von Jugend als Lebensphase). Ihre Gründung findet außerhalb des Bereiches etablierter Institutionen statt (es sind außerschulische Organisationen). Ihre wichtigste Aktionsform ist der Protest (Protesthaltung gegenüber den einengenden, konventionellen Autoritäten und der mechanischen Großstadtkultur) (vgl. Schnabel, 2003, S. 37).

Abzugrenzen ist der Begriff der sozialen Bewegung, und damit auch die Jugendbewegung, von Organisationen, wie beispielsweise einzelnen Vereinen (AfS), da jene Bewegung mehrere solcher Vereinigungen beinhaltete (Jungwandervogel, Akademische Freischar usw.) und dennoch geschlossen auf dem Meißnerfest zusammen auftrat (vgl. 2.2), als auch vom kollektiven Verhalten, welches ausschließlich auf die Verfolgung individueller, nicht aber gemeinsamer Ziele ausgerichtet ist (vgl. Schnabel, 2003, S. 35 f). Auch wenn sich in der späteren Bündischen Jugend eindeutige politische Tendenzen in der Jugendbewegung breit machten (vgl. 2.2), kann nicht von einer politischen Mobilisierung, wie z. B. Parteien, gesprochen werden. Felix Raabe zeigte für die Bündische Jugend eine mehr oder weniger eindeutige Ablehnung von Parteien, wie der NSDAP, in verschiedenen Gruppen auf (vgl. 1961, S. 108). Außerdem ist die Bündische Jugend trotz des nicht unerheblichen Umfangs an „Schnittstellen“ mit dem Gedankengut des Nationalsozialismus (vgl. Klönne, A., 1987, S. 210) dennoch in ihrem politischen Denken sehr mannigfaltig gewesen ist. Sie besaß keine einheitliche politische Idee oder gar politisches Programm (vgl. Raabe, 1961, S. 198), die Offe als wesentliches Merkmal von Parteien nennt (vgl. 2003, S. 430).

Die Entstehung sozialer „Bewegungen“, wie der Jugendbewegung, sind nach Raschke zumeist Reaktionen auf Situationen, die als Krise/​-n erlebt wurden (vgl. u. a. 1988, S. 11 ff). Was also war für wen kritisch geworden?