Vorsprung für alle!

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Catherine Walter-Laager, Manfred Pfiffner & Karin Fasseing Heim (Hrsg.)

Vorsprung für alle

Erhöhung der Chancengerechtigkeit durch Projekte in der Frühpädagogik

ISBN Print: 978-3-0355-0078-3

ISBN E-Book: 978-3-0355-0105-6

1. Auflage 2014

Alle Rechte vorbehalten

© 2014 hep verlag ag, Bern

www.hep-verlag.com

Vorwort

«Vorsprung für alle!» – dies ist ein durch seine Paradoxie provozierender Buchtitel. Denn wenn alle einen Vorsprung haben: gegenüber wem können sie diesen dann haben? Der Buchtitel führt unmittelbar zu dem ersten Beitrag «Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit – eine Übersicht», der eine Eröffnung und einen Rahmen für die folgenden Forschungsbeiträge darstellt: Wie stellen wir uns dem Problem, dass Kinder von Geburt an unterschiedliche Entwicklungs-, Bildungs- und Lernchancen haben und wie stellt sich die Frühpädagogik mit ihren facettenreichen Maßnahmen und Projekten dieser Problematik?

Die folgenden Einzelbeiträge sind (Forschungs-)Beiträge zu verschiedenartigen, aber allesamt wichtigen frühpädagogischen Themen, die auch immer wieder unter dem Gesichtspunkt mitbetrachtet werden, was frühpädagogische Maßnahmen und Handlungsfelder zur Förderung des Kindes in den verschieden Bereichen beisteuern. Dies gilt für den Beitrag «Lernchancen für Kinder in fokussierten Spielumwelten» ebenso wie für den Beitrag «Eltern-Kind-Interaktionen mit Bildungsgehalt», in dem elterliche Lehrtechniken mit dem Fokus auf verbale Kommunikation untersucht werden. In diesem Zusammenhang spielt die zweisprachige Bildungsförderung von Kindern mit Migrationshintergrund eine besondere Rolle; sie wird im Projekt BiLiKiD in einem erfahrungsgesättigten Bericht thematisiert.

Einen Kernteil der verschiedenen Beiträge bildet der Beitrag «Beobachten und Dokumentieren», in dem nicht nur ein differenziertes und in vielerlei Hinsicht innovatives, für die Praxis gleichwohl sehr gut handhabbares Beobachtungssystem vorgestellt wird, sondern auch der Frage nachgegangen wird, inwieweit gute Beobachtungsdokumentationen zur Erhöhung der Chancengleichheit beitragen und als Grundlage für die pädagogische Alltagsgestaltung dienen können.

Der abschließende Beitrag «Jetzt geht’s los! Transitionen von der Familie in den Kindergarten» fokussiert auf die hohe Bedeutung benachbarter Sozialisations- und Bildungsbereiche für die Biografie des Kindes und auf ihre notwendige Abstimmung.

Die hier vorliegenden Beiträge können als eine exemplarische Sammlung frühpädagogischer Forschungsbeiträge in der Schweiz betrachtet werden. Sie zeugen von großer Lebendigkeit und innovativen Ansätzen im auch in der Schweiz noch relativ jungen Feld frühpädagogischer Forschung. Mehr als die Hälfte der Beiträge entstand unter der wissenschaftlichen Leitung von PD Catherine Walter-Laager (Co-Leiterin Institut für Elementar- und Schulpädagogik IESP, ehemals Leiterin des Zentrums für frühkindliche Bildung ZeFF an der Universität Fribourg).

Die in diesem Band vereinigten Beiträge haben nicht zum Ziel, einer nur abstrakten wissenschaftlichen Rationalität zu folgen. Sie beinhalten vielfältige und reichhaltige pädagogische Veranschaulichungen und dürften deshalb bei ganz unterschiedlichen Lesergruppen auf ein hohes Interesse stoßen.

Prof. Dr. Wolfgang Tietze, Berlin

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit – eine Übersicht

Alex Knoll

1Einleitung

2Pädagogik der frühen Kindheit in der Schweiz

3Skepsis und Kritik

4Fazit

Lernchancen für Kinder in fokussierten Spielumwelten

Lars Eichen, Luzia Tinguely, Hilda Geissmann & Catherine Walter-Laager

1Chancengerechtigkeit diskutiert zwischen Normierung und Selbstbildung

2Entstehung von Interesse in der frühen Kindheit

3Sprachentwicklung

3.1Zweitspracherwerb

3.2Sprachförderung

4Die Untersuchung «Spielumwelten für Kinder unter zwei Jahren»

5Interessen entstehen durch Erfahrungen

6Sprachfortschritte durch anregende Spielumwelten

7Spielideen im Erfahrungsfeld ‹Technik›

7.1Spielsequenz «Achtung, fertig, los!»

7.1.1Schiefe Ebene

7.1.2Kreisel

7.1.3Froschhüpfen und Tierrennen

7.2Spielsequenz «Auf und zu»

7.2.1Flaschen und Deckel

7.2.2Portemonnaies, kleine Taschen und Tastsäcke

7.2.3Riegel und Verschlussfunktionen

7.3Spielsequenz «Konstruktion und Zahnrad»

7.3.1Brücken- und Turmbau mit Zahnrad

7.3.2Tunnelbau

8Spielideen im Erfahrungsfeld ‹Bildnerisches Gestalten›

8.1Spielsequenz «Abreiben und drucken»

8.1.1Materialdruck mit Linolwalzen

8.1.2Frottage mit Wachsmalstiften

8.1.3Collage

8.2Spielsequenz: «Schmieren, malen, matschen»

8.2.1Malen mit flüssiger Malfarbe

8.2.2Fingermalfarben

8.2.3Kleisterfarben

9Anhaltspunkte zur Sprachförderung im Kita-Alltag

Eltern-Kind-Interaktionen mit Bildungsgehalt

Kathrin Brandenberg, Catherine Walter-Laager, Naxhi Selimi

1Einleitung

2Sozialisation und Kultur

3Kulturvergleichende Forschung

4Elterliche Handlungsweisen

5Kindliche Lern- und Entwicklungsprozesse

6Erziehungs- und Bildungseinstellungen

7Elterliche Lehrformen

7.1Lehren und Lernen in unterschiedlichen Situationen

7.2Selbstwertstärkende Rückmeldungen geben

8Reflexionspunkte für die Praxis

BiLiKiD-Spielgruppen. Zweisprachige Bildungsförderung als Brückenangebot zwischen Spielgruppe und Kindergarten: Ziele und Erfahrungen

Mesut Gönç & Therese Salzmann

1Einleitung

2Die vier Grundprämissen von BiLiKiD

2.1Förderung der Mehrsprachigkeit

2.2Förderung der Literalität

 

2.3Förderung der Elternzusammenarbeit

2.4Förderung des Selbstwertgefühls und Stärkung der Identität

3Das Angebot BiLiKiD

3.1Die Entstehungsgeschichte von BiLiKiD

3.2Ziele der BiLiKiD-Spielgruppen

3.2.1Das pädagogische Konzept

3.2.2Lernziele und Methoden

3.2.3Ablauf eines Spielgruppenhalbtages

3.2.4Teamarbeit der Spielgruppenleitung und Umgang mit beiden Sprachen

3.2.5Regelvermittlung

3.3Qualifikation der Spielgruppenleiterinnen

3.4Elternzusammenarbeit

4Evaluationen

4.1Befunde der Evaluation durch KiDiT®

4.2Evaluation des Programms «Integrationsförderung im Frühbereich»

4.3Evaluationsbesuch einer albanisch-schweizerdeutschen BiLiKiD-Spielgruppe

5Schlusswort

Beobachten und Dokumentieren. Basis zur chancengerechten Gestaltung des pädagogischen Alltags

Catherine Walter-Laager, Manfred Pfiffner, Julia Bruns & Jürg Schwarz

1Beobachten und Dokumentieren als Teil des Berufsauftrages

2Beobachtungsdokumentation als Grundlage für die pädagogische Alltagsgestaltung

2.1Wahrnehmung und Informationsverarbeitung

2.2Diagnostische Fähigkeiten von Pädagoginnen und Pädagogen

2.3Ausgewählte Beobachtungsverfahren der Elementarpädagogik

2.3.1Vorstellungen von Bildung in der frühen Kindheit

2.3.2Beobachtungsverfahren und Bildungsverständnisse

3Das KinderDiagnoseTool KiDiT ® – ein Projekt mit verschiedenen Zielsetzungen

3.1Entwicklung und Qualität

3.2Funktionen des KiDiT®

4Beobachtungs- und Dokumentationsverhalten

4.1Unterschiede in der Beobachtungs- und Dokumentationsintensität

4.2Unterschiede in der Beobachtungsintensität aufgrund von Kindermerkmalen

4.3Unterschiedliche Einschätzungen derselben Kinder

5Herausforderungen und Optimierungsmöglichkeiten der Beobachtungspraxis

5.1Alle Kinder be(ob)achten

5.2Verschiedene Bereiche, Situationen und soziale Konstellationen beobachten

5.3Beobachtungen dokumentieren

5.4Bedürfnisse, Interessen und Fähigkeiten aufgrund dokumentierter Beobachtungen und Fachkenntnisse einschätzen

6Fazit

Jetzt geht’s los! Den Übergang von der Familie in den Kindergarten professionell gestalten

Karin Fasseing Heim

1Einleitung

2Die vielfältigen Anforderungen der Transition

2.1Transitionen – eine Begriffsbestimmung in Kürze

2.2Der Transitionsprozess als Entwicklungsaufgabe

2.2.1Die individuelle Ebene

2.2.2Die interaktional-soziale Ebene

2.2.3Die kontextuelle Ebene

2.3Stress und Stressbewältigung im Transitionsprozess

2.3.1Stress, ein mehrdeutiger Begriff

2.3.2Stressoren

2.3.3Stressprozess

2.3.4Coping

2.3.5Soziale Unterstützung und ihre Folgeeffekte

3Das Forschungsprojekt «Jetzt geht’s los!»

4Charakteristische Merkmale des Übergangs von der Familie in den Kindergarten

4.1Merkmale auf der Ebene der Kinder und Eltern

4.1.1Identität: Ich bin stolz, ein Kindergartenkind zu sein!

4.1.2Institutionsbezogenes Vorwissen

4.1.3Bildungsrelevantes Vorwissen und vorgängige Gruppenerfahrungen der Kinder

4.1.4Ablösung als gegenseitiger Prozess von Mutter und Kind

4.1.5Wünsche der Kinder an die Lehrpersonen

4.1.6Elterliche Unterstützung

4.2Merkmale auf der Ebene der Lehrpersonen

4.2.1Kind- und familienbezogenes Vorwissen

4.2.2Kognitive, emotionale und körperliche Präsenz

4.2.3Zeigen von Spielangeboten, Tätigkeiten und sozialem Verhalten

4.2.4Merkmale auf der Ebene der Gruppe

4.2.5Gruppendynamik

4.2.6Gruppenbildung

5Transitionsprozesse professionell gestalten

5.1Informationen und Aktivitäten vor dem ersten Kindergartentag

5.1.1Schriftliche Kontakte

5.1.2Besuche und «Schnupperhalbtage»

5.1.3Elternkontakte

5.2Beziehungsaufbau und Interaktion

5.2.1Der Aufbau der Pädagoginnen-Kind-Beziehung

5.2.2Einfühlsame Interaktionen

5.2.3Unterstützung der Peerbeziehungen

5.3Unterrichtsarrangements

5.3.1Orientierung und Sicherheit

5.3.2Bekannte Elemente

5.3.3Konzentration

5.3.4Gruppenbildende Elemente

5.4Ablösungsprozesse individuell begleiten

5.4.1Klare individuumsbezogene Rahmenbedingungen schaffen

5.4.2Eltern und Kind anleiten

5.4.3Eltern und Kind unterstützen

5.4.4Elternbeteiligung

5.4.5Kontakte, Gespräche, Vertrauen

5.4.6Erwartungen klären

5.4.7Einblicke und Miterleben ermöglichen

6Frühförderung als unterstützende Maßnahmen vor der eigentlichen Transition

7Schlussfolgerungen

Autorinnen und Autoren

Grundlagen für die Artikel im Buch

Chancengleichheit und Chancen­gerechtigkeit – eine Übersicht
Alex Knoll
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Einleitung

«Gleiche Chancen beim Schuleintritt!» – Diese Forderung ist in der aktuellen bildungspolitischen Diskussion allgegenwärtig und bleibt scheinbar unwidersprochen. Wer kann schon etwas dagegen haben, dass alle die gleichen Möglichkeiten haben sollen, sich zu bilden? Trotzdem oder vielleicht gerade weil die Antwort auf diese Frage so klar erscheint, lohnt es sich genau hinzuschauen, was mit «Chancengleichheit» oder «Chancengerechtigkeit» gemeint ist.

Was bedeutet Chancengleichheit und warum besteht ein stillschweigender Konsens darüber, dass Chancengleichheit ein zentrales Ziel pädagogischer Maßnahmen sein soll? Was versteht man in der Pädagogik der frühen Kindheit darunter? Was hat Chancengleichheit mit Chancengerechtigkeit, Bildungschancen und sozialer Ungleichheit zu tun? Soll Chancengleichheit überhaupt angestrebt werden, und ist sie erreichbar? Um diese Fragen dreht sich dieser Beitrag.

Chancengleichheit: Der Begriff Chancengleichheit hat sein Fundament in der Philosophie der Aufklärung (Fuchs 2012; Bellenberg 2010; Böhm 2005). In den 1960/70er-Jahren wurde intensiv und öffentlich über Chancengleichheit diskutiert, bevor die Debatte bis in die 90er-Jahre in den Hintergrund rückte. Seit den PISA-Untersuchungen ist sie wieder zurück auf der Tagesordnung.

 

Was ist mit Chancengleichheit gemeint? Diese Frage ist vor allem deshalb so brisant, weil die Antwort darauf große Auswirkungen hat, und zwar sowohl auf die Ausgestaltung und den Auftrag des Bildungswesens als auch darauf, wie die Gesellschaft mit ihren verschiedenen Mitgliedern umgeht und deren Leben und Alltag strukturiert und (mit-)bestimmt. Deshalb verwundert es wenig, dass Chancengleichheit als «dehnbarer Begriff» bezeichnet wird, der «politisch entzündet» sei und in Konflikt stehende «wertgeladene Bedeutungen» enthalte, die «zu einem gewissen Ausgleich gebracht werden» müssten (Heckhausen 1981, S. 54).

In einer sehr offenen Auslegung meint Chancengleichheit, «dass allen Menschen die gleichen Möglichkeiten zur freien Entfaltung ihrer Persönlichkeit offenstehen sollen» (Bellenberg 2010, S. 65). Die Frage ist aber, wann, wie und von wem dies eingelöst werden soll.

Will man von Chancengleichheit sprechen, müssen zuerst einige Aspekte auseinandergehalten werden. Zu unterscheiden sind grundsätzlich Chancengleichheit beim Start (Lernvoraussetzungen), auf dem Weg (Lehr-Lern-Aktivitäten in der Schule) und am Ziel (Lernergebnis) (Fuchs 2012; Heid 1988). Soll Gleichheit der Chancen beim Startpunkt (meist: beim Eintritt ins Bildungswesen) erreicht werden, muss bereits vorher interveniert werden, um familiär bedingte unterschiedliche Entwicklungschancen an- oder auszugleichen. Die Kinder müssen also vor der Schulzeit eine ungleiche Behandlung erfahren, damit Startchancengleichheit hergestellt werden kann (Böhm 2005; Heckhausen 1981). Orientiert man sich an der Gleichheit der Chancen am Ziel, also nach Ende der obligatorischen Schulzeit, ist das Bildungswesen hingegen aufgefordert, beim Austritt aus der Schule bei allen Schülerinnen und Schülern möglichst gleiche Niveaus zu erzielen (Heckhausen 1981). Auch hier müssen die Kinder ungleich behandelt werden, aber nicht vor, sondern während der Schulzeit. Chancengleichheit bezieht sich dann eher auf den Zugang zu höherer Bildung oder zum Arbeitsmarkt. Die Chancen auf den Übertritt in die Tertiärbildung, auf eine gute Arbeitsstelle und somit auf gute Lebensbedingungen sollen gleich sein.

Weiter lässt sich Chancengleichheit individuell oder sozial verstehen. Individuell betrachtet bedeutet Chancengleichheit, dass jeder Mensch die gleiche Zugangschance zu höherer Ausbildung erhält, unabhängig davon, welchem Geschlecht, welcher sozialen Schicht oder Bevölkerungsgruppe er angehört. Dies bezeichnet man als formale Chancengleichheit. Soll dagegen die materiale Chancengleichheit erfüllt sein, müsste die Möglichkeit für alle bestehen, vom Recht auf höhere Bildung auch tatsächlich Gebrauch machen zu können – wie auch immer das gewährleistet werden könnte. Der soziale Aspekt von Chancengleichheit bezeichnet gleiche Zugangschancen oder gleiche Beteiligung an schulischer Bildung für Mitglieder aller Bevölkerungsgruppen, und zwar proportional zu ihrem Bevölkerungsanteil. Dies bezeichnet man als repräsentative Chancengleichheit (Böhm 2005; Heid 1988).

Chancengerechtigkeit: Neben Chancengleichheit ist auch der Begriff Chancengerechtigkeit gebräuchlich. In den 1960/70er-Jahren sprachen Erziehungswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler von Chancengerechtigkeit, um sich von kontroversen bildungspolitischen Debatten um Chancengleichheit abzugrenzen (Fuchs 2012). Inzwischen werden beide Begriffe nebeneinander verwendet, wobei häufig nicht klar ist, worin der Unterschied zwischen ihnen besteht. Teilweise werden sie als Synonyme verstanden (z.B. bei Heckhausen 1981; Fuchs 2012), manchmal aber auch mit unterschiedlichen Bedeutungen versehen.

Auf den kleinsten Nenner gebracht, ist mit Chancengerechtigkeit in Bezug auf Bildung üblicherweise gemeint, dass für alle Menschen die gleichen Lebensaussichten geschaffen werden sollen. Die Idee der Gerechtigkeit lehnt sich also an diejenige der Gleichheit an. Was diese Gleichheit der Lebensaussichten aber genau bedeutet und wie sie realisiert werden soll, ist kontrovers. Und neuerdings wird auch ein Verständnis von Chancengerechtigkeit vertreten, das sich nicht mehr an Gleichheit orientiert (Dietrich et al. 2013).

Es lassen sich drei Wertprinzipien zur Gerechtigkeit unterscheiden: Bedürftigkeit, Billigkeit und Gleichheit. Gemäß dem Bedürftigkeitsprinzip muss allen Menschen ein Minimum an materiellen und kulturellen Lebenschancen garantiert werden. Mit dem Prinzip der Billigkeit (engl.: equity) ist gemeint, dass nur Fähigkeiten und Leistungen für die Verteilung von gesellschaftlichen Gütern wie dem Zugang zu Bildung entscheiden sollen. Das Gleichheitsprinzip besagt, dass allen gleich viele Ressourcen und Chancen zugeteilt werden müssen, unabhängig davon, ob sie sie nutzen (können). Diese drei Prinzipien müssen so zueinander in Beziehung gesetzt werden, dass keines eine übermäßige Bedeutung erhält (Heckhausen 1981).

Nun stellt sich die Frage, wann das Bildungswesen als gerecht bezeichnet werden kann. Das hängt von den Kriterien ab, nach denen etwas als gerecht beurteilt wird. Drei wichtige Kriterien sind: Begabung, Leistung und Anerkennung.

Ein begabungsgerechtes Bildungswesen verteilt den Zugang zu Bildung sowie Bildungsabschlüsse nach den Begabungen, Potenzialen oder kognitiven Ausgangsvoraussetzungen der Kinder. Von diesen wird angenommen, dass sie genetisch-biologisch vorgegeben und relativ unveränderbar sind und deshalb schon vor Schuleintritt bestehen (Stojanov 2013). Die Möglichkeiten, Ungleichheiten auszugleichen, sind für das Bildungswesen sehr beschränkt, und dies zu versuchen wird auch nicht als sinnvoll erachtet, da man sonst den verschiedenen Begabungen der Kinder nicht gerecht würde. Ein begabteres Kind kann in dieser Logik mehr mit Bildung anfangen als ein weniger begabtes, deshalb erscheint es als gerecht und sinnvoll, dafür zu sorgen, dass es mehr davon bekommt. Gleichheit wird hier nur in dem Sinne angestrebt, dass bei gleichen Voraussetzungen (Begabungen) auch die gleichen Chancen auf Verwirklichung (Zugang zu Bildung) bestehen sollen (Stojanov 2013; Rolff 1989).

Das Bildungswesen ist leistungsgerecht, wenn es denjenigen mehr und höhere Bildung zugesteht, die sich durch höhere Leistung auszeichnen. Wie bei der Begabungsgerechtigkeit soll also die Zuteilung von Bildungsangeboten explizit nicht nach persönlichen Merkmalen wie dem Geschlecht oder Herkunftskriterien wie dem sozialen Status der Eltern erfolgen, da dies in dieser Optik zu Bildungsungerechtigkeit führt. Das Kriterium der Leistungsgerechtigkeit setzt voraus, dass Leistungen exakt gemessen und verglichen werden können. Außerdem muss man sich auf Leistungen in bestimmten Bereichen beschränken, die quantifizierbar und standardisierbar sind (Stojanov 2013). Üblicherweise wird der Schwerpunkt auf individuelle kognitive Leistungen gelegt (Intelligenz, Sprachfähigkeiten). Zwar orientiert sich die Leistungsgerechtigkeit wie die Begabungsgerechtigkeit am Gleichheitsprinzip. Aber auch hier geht es nicht um «gleiche Chancen für alle», sondern darum, dass bei gleichen Leistungen alle die gleichen Chancen (auf Zugang zu Bildung) haben sollen.

Von Begabungs- und Leistungsgerechtigkeit grundsätzlich abzugrenzen ist die Anerkennungsgerechtigkeit (vgl. Honneth 1992). Hier liegt der Fokus darauf, die Autonomiefähigkeit des Individuums zu stärken. Dieses soll mit seinen spezifischen Fähigkeiten anerkannt werden, es soll ihm Empathie, moralischer Respekt und soziale Wertschätzung entgegengebracht werden, damit es seine Potenziale entwickeln und verwirklichen kann. Das Bildungswesen gilt dann als gerecht, wenn es diese Anerkennungsformen ins Zentrum des pädagogischen Handelns stellt. In Übereinstimmung mit der Position des Philosophen John Rawls wird eher eine Gleichheit von allen und Gleichheit beim Ziel angestrebt: Kinder, die als weniger begabt gelten, sollen vergleichsweise mehr Mittel für Bildung erhalten, um die Gerechtigkeitsanforderungen erfüllen zu können (Stojanov 2013).