Europa

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Europa benötigte/wünschte beides – Reichtümer, um die leeren königlichen Schatztruhen aufzufüllen, und Länder, um Männer und Frauen unterzubringen, für deren physisches Überleben oder soziales Streben zu Hause nicht genügend Raum war. Die Erde war jenes Vakuum, das die Natur in ihrer krönenden, obersten europäischen Verkörperung verabscheute und mit kühnen, phantasievollen, geschäftstüchtigen, verbissenen und standfesten Männern zu füllen strebte, die wussten, was was war und wie man kostbare Metalle aus dem ursprünglichen Erz gewinnen konnte. Und es gab sogleich Menschen, die bereit waren, das Vakuum zu füllen – riesige, schnell wachsende Massen.

Tatsächlich war es so, dass, je wagemutiger und aufregender Europas Abenteuer zu Hause wurden, desto zahlreicher seine Kollateralschäden wurden. Es gab Menschen, die an den immer anspruchsvoller werdenden Prüfungen der Qualität, Angemessenheit und Relevanz scheiterten, es gab Leute, die aufgrund ihrer inhärenten Fehler für die Prüfung gar nicht erst in Frage kamen, und Menschen, die sich weigerten, die Prüfung anzutreten, weil ihnen die ausgesetzten Preise, die den Erfolgreichen winkten, gleichgültig waren oder die fürchteten, disqualifiziert zu werden, wie auch immer die Resultate aussehen mochten. Zum Glück für die „Untauglichen“ und für diejenigen, die sich darum kümmerten, wie man sie loswerden konnte, gab es einen leeren Planeten oder einen Planeten, der leer gemacht oder als leer angesehen, behandelt und verwendet werden konnte. Ein Planet mit genügend leeren Räumen, auf denen Europas Probleme (und, am wichtigsten, die „Problemmenschen“) abgelagert werden konnten.

Jetzt, am Ende des langen Tages, mag sehr wohl deutlich werden, dass das fortwährende Bedürfnis, sie abzulagern, eine der primären, vielleicht sogar die prinzipielle bewegende Kraft von Europas planetenweiter Expansion war – Europas „Globalisierungsmission“.

Jahrhundertelang empfand Europa sich als König des Planeten und handelte als solcher. Inmitten der höfischen Pracht konnte das Unbehagen darüber, als Monster denunziert und als Muster an Verworfenheit hingestellt zu werden, als ein geringfügiges und vergängliches Ärgernis heruntergespielt und der Stumpfheit der auserwählten Begünstigten der königlichen Gnadenbeweise angelastet werden: ihrer Unfähigkeit, die Wohltaten zu würdigen, die die europäische Herrschaft in der Fülle der Zeiten zwangsläufig über die Beherrschten ausschütten würde. Europa bot die überlegene Lebensform – besser ausgestattet, sicherer, reicher, weniger riskant und würdevoller. Es bot die Vision einer Rechtsordnung, mit der verglichen alle anderen (Un)ordnungen einem Dschungel ähnelten. Europäische Eroberung war ein adelnder Akt, der die Unterworfenen auf die Höhe wahren Wissens und einer höheren Moralität führte. Zumindest Europa glaubte das.

Mit Ausnahme einiger weniger schwer zugänglicher Nischen ist der gesamte Planet nach dem Muster Europas neu geschaffen worden; er hat die transgressive Existenzweise, die Europa als Erstes beherzigt und dann bis in die fernsten Weiten des Globus verbreitet hat, entweder freiwillig angenommen oder sich ihr widerstrebend unterworfen. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts war Europas Auftrag vollendet – obgleich nicht notwendig in der Form und mit den Ergebnissen, die sich die Propheten und Fürsprecher der „zivilisierten“, menschenfreundlichen, friedlichen, anheimelnden und hospitablen Welt von Immanuel Kants allgemeiner Vereinigung der Menschheit* oder der von den französischen philosophes verkündeten hellen Welt der Lumières, der Gerechtigkeit und Gleichheit, der Herrschaft des Rechts, der Vernunft und der menschlichen Solidarität erträumt hatten. Mehr als alles andere erwies sich der „wirklich erfüllte Auftrag“ als die globale Ausbreitung eines zwanghaften, besessenen und süchtigen Ordnungs- und Neuordnungsdrangs (Deckname: Modernisierung) und als ein unwiderstehlicher Druck, die vergangenen und gegenwärtigen Lebensweisen herabzustufen und abzuwerten und den eigenen Lebensunterhalt dadurch zu gewinnen, dass man sie ihres Überlebenswertes und ihrer lebenserweiternden Fähigkeit entblößte (Deckname: ökonomischer Fortschritt): die beiden spécialités de la maison européenne, die für den üppigsten Nachschub an „menschlichem Abfall“ verantwortlich waren.

Heutzutage scheint die Wahl zwischen der Rolle des König- tums und der unglücklichen Situation des Monsters dem Abenteurer namens Europa aus den Händen geglitten (oder gerissen worden) zu sein, und keine der Kriegslisten, die es in seiner langen Laufbahn ausprobiert hat, scheint geeignet, sie zurückzugewinnen. Bei seinem Besuch in Poznań im Jahre 1997 rezitierte Wolf Lepenies eine lange Liste von Gründen für Europa, jenen „alten Kontinent in einer jungen Welt“ (zu dem es, wie Goethe vorausgesagt hatte, unvermeidlich am fernen Ende seiner aufregenden und nützlichen, wenn auch zeitgebundenen Abenteuer werden würde), der doch vor kurzer Zeit noch so selbstsicher war, sich jetzt beschämt, verwirrt und immer furchtsamer zu fühlen.10 Europa wird grauhaarig in einer Welt, die mit jedem Jahr jünger wird: Die Demographen sagen uns, dass in der gegenwärtigen Dekade die Zahl der Europäer unter zwanzig Jahren um elf Prozent fallen, während die Anzahl der über Sechzigjährigen um die Hälfte anwachsen wird. Wie es scheint, wird ein kleinerer Laib Brot unter einer größeren Anzahl von Essern aufzuteilen sein.

Die Gesamtentwicklung lässt der Phantasie nur wenig Raum: Deutschland, Großbritannien, Frankreich – vor Kurzem noch die wirtschaftlichen Riesen unter Zwergen – sind im Begriff, im Weltranking auf die 10. bzw. 19. und 20. Stelle abzusteigen. Gut möglich, dass sie zu den „neuen niedergehenden Ländern“ (NDC, new declining countries) werden, zu Opfern des überschäumenden Wachstums und unaufhaltsamen Aufstiegs der 1.Version von NDCs (der neuen sich entwickelnden Länder, new developing countries) und von ihnen mit immer größerer Wucht die Leiter weiter und weiter abwärtsgestoßen bis zum Ende der Hackordnung. Nach der Prognose des Internationalen Währungsfonds (IWF) werden im Jahre 2010 drei europäische Länder aus der reichsten Gruppe von sieben (Italien, Großbritannien und Frankreich) durch andere, jüngere wirtschaftliche Mächte ersetzt werden müssen, wenn sich die Veränderungen der wirtschaftlichen Stärke in der Zuteilung politischer Ehren widerspiegeln sollen.

Und „in dem Maße, wie sich die produktive Überlegenheit Europas verschlechtert“, schließt Lepenies, „verblassen europäische Ideale unter anderen führenden intellektuellen Systemen“. Nur wenig Trost lässt sich in dem Gedanken finden, dass die wunderbare und spektakuläre Transformation der Adressaten und passiven Objekte der „europäischen Mission“ – bis vor Kurzem noch als mehr oder weniger überzählig angesehen im von Europa geschriebenen und auf der planetarischen Bühne produzierten Spiel – in tapfere, schwer arbeitende und vor allem überraschend talentierte und schöpferische Schauspieler ersten Ranges das Ergebnis von Europas erfülltem Auftrag sein könnten. Selbst wenn diese Transformation, zumindest teilweise, eine Leistung war, die von Europa vollbracht wurde, so stellt sie sich am Ende nicht als für Europa vollbracht heraus, und die Nutznießer räumen weder selber ein, zu Europa zu gehören, noch werden sie so eingestuft.

Zu seinem großen Kummer und seiner nicht geringeren Bestürzung entdeckt Europa eine Möglichkeit, ja die Wahrscheinlichkeit der „Modernisierung ohne Verwestlichung“ (sprich: ohne „Europäisierung“); eine Perspektive, in der die selbsternannten Lehrer von ihren ehemaligen Schülern überholt und überboten werden, ohne dass ihre Lehren dankbar anerkannt würden. In der gegenwärtigen Literatur ist diese Mischung aus Verblüffung und Frustration „Krise der europäischen Identität“ getauft worden. „Wir haben den Willen und die Fähigkeit zu einer langfristigen Orientierung verloren“, klagt Lepenies. Und „nachdem wir die Fähigkeit verloren haben, langfristig zu denken …, haben die europäischen Eliten aufgehört, ein attraktives Vorbild für eine Nachfolge zu sein.“

Eine weitere unerwartete, wenn auch retrospektiv kaum unvorhersagbare Folge des weltweiten Erfolgs des europäischen Mission: Die zuletzt „europäisierten“ Teile des Globus sehen sich einem Phänomen gegenüber, das ihnen früher unbekannt war – einem „Bevölkerungsüberschuss“ und den Problemen seiner Entsorgung, und das zu einer Zeit, da der Planet schon voll ist und keine „leeren Länder“ mehr übrig sind, die als Abfallentsorgungsflächen dienen können. Weder benachbarte noch weit entfernte Länder sind in diesen Tagen bereit, den Überschuss aufzunehmen, noch lassen sie sich leichthin zwingen, ihn zu akzeptieren und unterzubringen, wie es mit ihnen selbst in der Vergangenheit geschehen ist. Den „Spätankömmlingen in der (europageborenen) Moderne“ bleibt nur, in ihrem eigenen Saft zu schmoren und, verzweifelt und dennoch vergeblich, lokale Lösungen für global verursachte Probleme zu suchen.

Stammeskriege und Massaker, die starke Vermehrung von „Guerilla-Armeen“ (oft wenig mehr als Räuberbanden in dürftiger Verkleidung), die eifrig damit beschäftigt sind, die jeweiligen Gegner zu dezimieren und dabei den „Bevölkerungsüberschuss“ zu absorbieren und zu vernichten (zumeist perspektivlose Jugendliche, die zu Hause ohne Arbeit sind), stellen eine derartige „lokale Lösung eines globalen Problems“ dar, wie sie die „Spätankömmlinge in der Moderne“ zu entfalten neigen. Hundertausende von Menschen werden aus ihrer Heimat verjagt, ermordet oder gezwungen, aus ihren zerstörten und verwüsteten Ländern zu fliehen und um ihr Leben zu rennen. Die vielleicht blühendste Industrie in den Ländern der Spätankömmlinge (die tückisch und trügerisch „Entwicklungsländer“ genannt werden) ist die Massenproduktion von Flüchtlingen. Sie ist das immer fruchtbarere Produkt jener Industrie, und der britische Premierminister nahm nur die im Rest eines aufgeschreckten und alarmierten Europas vorherrschenden Gefühle vorweg (oder sprach sie aus), als er vorschlug, die Flüchtlinge in Ländern abzuladen, die ihrer jeweiligen Heimat benachbart sind, in dauerhaft zeitweiligen Lagern (tückisch und trügerisch „sichere Häfen“ genannt), um „lokale Probleme“ lokaler Völker lokal zu halten und so alle Versuche von Spätankömmlingen im Keim zu ersticken, dem Beispiel der Pioniere der Moderne zu folgen, globale (und die einzigen wirksamen) Lösungen für lokal erzeugte Probleme zu suchen.

 

Die Anstrengungen der europäischen Regierungen, die Flut von „Wirtschaftseinwanderung“ zu bremsen und scharf zu kontrollieren, sind, so ernsthaft sie auch betrieben werden, nicht erfolgreich und können wahrscheinlich auch nicht hundertprozentig erfolgreich gemacht werden. Lang andauerndes Elend treibt Millionen in die Verzweiflung und in einer Ära globalisierten Verbrechens kann man kaum erwarten, dass es einen Mangel an Dienstleistungen von Kriminellen gibt, die nur darauf aus sind, ein paar oder ein paar Millionen Dollar zu verdienen, indem sie von dieser Verzweiflung profitieren. Von daher rühren die Millionen von Migranten, die die Wege gehen, die einst von der Überschussbevölkerung gebahnt worden sind, die aus den europäischen Treibhäusern der Moderne entlassen wurden – nur in umgekehrter Richtung und (wenigstens bislang) nicht von den Armeen der conquistadores, Händler und Missionare unterstützt. Das volle Ausmaß jener Konsequenz und ihre vielfachen Auswirkungen müssen erst noch entwirrt, absorbiert, zur Kenntnis genommen und eingeschätzt werden.

Gegenwärtig scheinen Europa und seine überseeischen Sprösslinge/Außenposten (wie die Vereinigten Staaten oder Australien) nach einer Antwort auf ihnen unvertraute Probleme in ähnlich unvertrauten Strategien zu suchen, die kaum je in der europäischen Geschichte praktiziert worden sind; in Strategien, die eher nach innen als nach außen gerichtet sind, eher zentripetal als zentrifugal, eher implosiv als explosiv – wie Selbstbeschränkung, Rückzug auf sich selbst, Errichtung von Zäunen, die mit einem Netzwerk von Röntgenanlagen und Überwachungskameras ausgestattet sind, Einstellung von immer mehr Beamten in den Einwanderungsbüros und von immer mehr Grenzwachen außerhalb, Engerfassung der Einwanderungs- und Einbürgerungsgesetze, Unterbringung von Flüchtlingen in streng bewachten und isolierten Lagern und Zurückweisung von anderen, bevor sie eine Chance haben, Flüchtlings- oder Asylantenstatus zu beanspruchen – kurzum: Absicherung des eigenen Reichs gegen die Massen, die an die Türen klopfen, während sie wenig, wenn überhaupt etwas tun, um einen solchen Druck durch die Beseitigung seiner Ursachen zu mindern.

Naomi Klein hat eine noch stärkere und weiter verbreitete Tendenz (zuerst von der Europäischen Union eingeführt, aber schnell von den Vereinigten Staaten nachgeahmt) hin zu einer „vielschichtigen regionalen Festung“ notiert:

Eine kontinentale Festung ist ein Block von Nationen, die sich zusammenschließen, um sich günstige Handelsbedingungen von anderen Ländern zu sichern, während sie ihre gemeinsamen äußeren Grenzen bewachen, um Menschen aus diesen Ländern herauszuhalten. Aber wenn ein Kontinent es ernst damit meint, eine Festung zu sein, dann muss er auch ein oder zwei arme Länder in seine Mauern einladen, weil ja irgendjemand die Schmutz- und Schwerstarbeit tun muss.11

NAFTA, der um Kanada und Mexiko erweiterte US-Binnenmarkt wurde im Juli 2001 durch den „Plan Sur“ ergänzt, demgemäß die mexikanische Regierung die Verantwortung für die massive Polizeiüberwachung ihrer südlichen Grenzen übernahm, um die Flutwelle des verarmten menschlichen Abfalls wirksam aufzuhalten, die aus lateinamerikanischen Ländern in die USA strömte („nach Öl“ erklärt Naomi Klein, „sind Immigrantenarbeitskräfte der Kraftstoff, der die südwestliche Wirtschaft“ der Vereinigten Staaten antreibt). Seitdem sind Hunderttausende von Migranten von der Polizei aufgehalten, inhaftiert und abgeschoben worden, bevor sie die amerikanische Grenze erreichten. Was die Festung Europa angeht, so macht Naomi Klein geltend: „Polen, Bulgarien, Ungarn und die Tschechische Republik sind die postmodernen Leibeigenen, Niedriglohnarbeitskräfte für die Fabriken, in denen Kleider, Elektronik und Autos zu 20 bis 25 Prozent der Herstellungskosten in Westeuropa gefertigt werden“. Innerhalb kontinentaler Festungen entstand im Rahmen des Versuchs, eine Art Ausgleich zwischen offensichtlich kontradiktorischen, trotzdem gleichermaßen vitalen Postulaten zu schaffen „eine neue soziale Hierarchie“: zwischen luftdichten Grenzen und einem leichten Zugang zu billigen, anspruchslosen, gelehrigen Arbeitskräften, die bereit sind, alles zu tun, was angeboten wird; oder zwischen Freihandel und der Notwendigkeit, populären Anti-Immigrations-Gefühlen entgegenzukommen – jenem Strohhalm, an den sich Regierungen klammern, die über die sinkende Souveränität von Nationalstaaten zu wachen haben. „Wie kann man offen fürs Geschäft und verschlossen für die Menschen sein?“ fragt Klein. Und antwortet: „Ganz einfach. Erst erweitert man den Umfang. Und dann schließt man ab.“

Die Summen, die die Europäische Union am bereitwilligsten und ohne jedes Feilschen in die osteuropäischen und zentraleuropäischen Länder überwiesen hat, die um Zugang ersucht haben, waren die, welche für die Befestigung ihrer östlichen Grenzen bestimmt waren.

Irgendwie hat die Welt „dort draußen“ für Europäer aufgehört, sich wie ein Schauplatz aufregender Abenteuer und belebender Herausforderung anzufühlen. Der Globus erscheint nicht mehr als einladend und gastlich; und er sieht auch nicht länger aus wie eine leere Bühne für zahllose Heldentaten und unerhörte Bravourstücke. Er scheint jetzt feindselig und bedrohlich, gespickt mit allen möglichen Arten von Fallen, Hinterhalten und anderen unaussprechlichen Gefahren für die Unaufmerksamen; voll von Ländern, die vor Hass brodeln, angefüllt mit Komplotte schmiedenden und Verschwörungen anzettelnden Schurken – verräterischen und niederträchtigen Halunken, die auf alle nur erdenklichen oder nicht erdenklichen Übeltaten lauern. Da gehen „wir“ nicht hin (wenn nicht im Urlaub – am besten zu den Strandhotels, die für alle Eingeborenen außer den Barkeepern, Obern und Serviererinnen gesperrt sind). Und was „sie“ anbetrifft – sie sollten daran gehindert werden, hierher zu kommen.

„Geschaffen, um den freien Verkehr innerhalb der europäischen Union zu sichern, ist der Schengen-Raum ein mächtiges Werkzeug für die Kontrolle und Überwachung der Bewegungen seiner Bürger geworden“, entdeckt Jelle van Buuren.12 Unter weit über einer Million Personen, die im Jahr 2001 in den Schengen-Computern registriert waren, befanden sich mehr als neunzig Prozent „Unerwünschte“. Seitdem sind die Dinge schnell vorangeschritten, verstärkt durch die neuen Bedingungen von Sicherheitsalarm und einem halben Kriegsrecht. Geplant ist jetzt, eine Fülle von Personaldaten über jeden Mann und jede Frau anzulegen, die mit einem Visum in den Schengen-Raum einreisen (die Vereinigten Staaten waren, wie gewöhnlich, hier die Ersten, als sie entschieden, von allen Ausländern mit einem Visum Fingerabdrücke zu nehmen und Photos zu machen; wenn in der erlaubten Zeitspanne keine Ausreise gemeldet wird, wird der Schuldige für „illegal“ erklärt, der arretiert und auf unbegrenzte Zeit aus Europa verwiesen werden kann. Im Zuge einer radikalen Verschiebung der ursprünglichen Absicht, die niemals öffentlich diskutiert worden ist, hat der Europäische Rat am 6. November 2001 ein Dokument veröffentlicht, das verkündete, das Schengen-System solle dazu dienen, „die innere Sicherheit“ der Einwohner Europas durch eine strikte Kontrolle aller Ankömmlinge „zu verbessern“. Verbunden mit den neuen strengen Restriktionen, die für die Asylgewährung gelten, war das unmittelbare Resultat (mit den Worten von Amnesty International) „eine Beleidigung für alle, die vor Verfolgung, Folter und möglichem Tod geflohen sind“.13

Wie sehr bald klar wurde, würde die Last des neuen Sicherheitssystems, während Außenseitern (Flüchtlingen, Brot-und-Wasser- oder Asylsuchenden) einige ihrer Menschenrechte verweigert werden konnten, die Bürger der Europäischen Union und ihrer Mitgliedsstaaten keineswwgs verschonen. Im Namen der Sicherheit, die von der Feindseligkeit des Planeten bedroht war, wurden in einem Land nach dem anderen Maßnahmen eingeführt, wie es sie beinahe seit den Zeiten des Habeas-Corpus-Acts nicht mehr gegeben hatte, um „präventive“ Inhaftierung nach dem geheimem Ermessensspielraum der Polizei und ohne Verfahren, routinemäßige Verletzung der Privatsphäre, Zugang der Geheimdienste zu den intimsten Information jedes beliebigen Verdächtigen zu erlauben – wie schwach auch immer oder regelrecht falsch die Gründe für den Verdacht sein mochten.

Man kann (und sollte) dagegenhalten, dass auf einem Planeten, der als feindselig, hinterhältig und tückisch angesehen wird (mit Ausnahme einiger weniger Enklaven, die im Augenblick gerade als „freundlich“ angesehen werden), die Verteidigung der Demokratie und der persönlichen Freiheit in einem einzelnen Land oder auch in einer Föderation verschiedener Länder hinter den Mauern der „regionalen Festung“ eine entmutigende, vielleicht unmögliche Aufgabe ist. Die Verteidigung der Freiheit ist jetzt zu einer globalen Aufgabe geworden – und in ihrem Fall wie in allen anderen Fällen, die einst lokal behandelt wurden, aber jetzt in einem alles andere als lokalen Netz von Abhängigkeiten verfangen sind, können Lösungen für global erzeugte Probleme nur global sein.

Zeit, zu unserer Frage zurückzukehren: Verliert das jahrhundertelange europäische Abenteuer an Fahrt und kommt es allmählich zum Stehen?

Wolf Lepenies scheint so zu denken. Auf jeden Fall machte er in der schon zitierten Vorlesung seine Zuhörer auf die Tatsache aufmerksam, dass Europa in großem Ausmaß seine langfristige Orientierung verloren habe, samt dem Willen, sie wiederzufinden und erneut in Besitz zu nehmen. Er stellte fest, dass Europa, einmal seiner Qualitäten beraubt, die sein Markenzeichen gewesen waren, aufgehört hat, ein attraktives Beispiel für andere Bewohner des gemeinsamen Planeten zu sein.

Wir können einen Schritt weitergehen und festhalten, dass die Regierungen Europas ihre Vision, besonders ihre langfristige Vision verloren haben – im Unterschied zu den „Problemlösungs“- und „Krisenmanagements“-Strategien, die für Zeiten bestimmt waren, die kaum jemals über die nächste Parlamentswahl hinausreichen. Schlimmer als das, Europa als Ganzes hat seinen Drang und Willen zum Abenteuer verloren – zur Aufregung, die es bedeutete, Risiken einzugehen, neue und unerforschte Horizonte zu erkunden und neue und unerprobte Pfade zu bahnen. Dies zumindest ist der Eindruck, den man bekommt, wenn man den Leuten zuhört, die von den Nationen Europas gewählt wurden, um in ihrem Namen zu sprechen und zu handeln. Liest man den Text des Maastricht-Vertrags – jenes Dokuments, das die Zukunft Europas und das Ziel skizziert, auf das eine halbe Milliarde Europäer aufgerufen sind hinzuarbeiten – wird man kaum von einem „Verfassungspatriotismus“ der Art überwältigt, in der Jürgen Habermas eine im Entstehen begriffene entgiftete Version nationaler und gemeinschaftlicher Gefühle erkennt; oder überhaupt von irgendeinem anderen starken Gefühl außer Langeweile und Lustlosigkeit. Wenn der Vertrag von Maastricht oder der Beitrittsvertrag, der ihm folgte, das zeitgenössische Äquivalent der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung oder des Kommunistischen Manifests ist, dann scheint nur noch wenig Hoffnung für die nächste Ausgabe des europäischen Abenteuers zu sein, spezifischer: dafür, dass Europa an seinem Schicksal/seiner Berufung festhält, die globale Hefe einer gemeinsamen globalen Geschichte zu sein …

Die Anpreisung der „westlichen Lebensform“ als überlegenes Vorbild für alle anderen ist nicht länger, wie Couze Venn treffend bemerkte, „legitimiert im Sinne der humanistischen großen Erzählungen der Aufklärung“.14 In der Tat versuchen „die Kräfte der neuen Disziplinarmacht“ „die neue Weltordnung“, über die sie den Vorsitz führen, im Namen der Effizienz, der Flexibilität und der Vermarktlichung zu verkaufen – Ausdrücke, die, wie wir hinzufügen können, eine bedrohliche Bedeutung von Unsicherheit, Verlust des Lebensunterhalts, Existenzgefährdung, Leugnung der Würde und Streichung von Lebensaussichten annehmen, sobald sie erst einmal fern von den Metropolen in den einheimischen Jargon übersetzt worden sind. „Das Ende des Kalten Krieges/Dritten Weltkriegs“, macht Venn geltend, „hat den Kapitalismus von der Notwendigkeit befreit, auf die Aufforderungen, Verantwortung zu übernehmen, zu antworten … Er hat die Fähigkeit verloren, auf Leiden zu reagieren.“

 

Was bietet denn der Westen, wie er sich in den Augen des Planeten durch seine selbsternannten amerikanischen Führer darstellt, dem leidenden Teil des Globus wirklich? Ein paar Beispiele, die den Strategien entnommen sind, die im Nachkriegs-Irak unter dem Decknamen „Wiederaufbau“ [reconstruction] zur Anwendung kamen und in jüngster Zeit von Antonia Juhasz vom Internationalen Forum für Globalisierung15 analysiert worden sind, enthüllen den latenten – gleichwohl für die Empfänger deutlich spürbaren – Sinn des gegenwärtigen weltweiten Freihandelskreuzzugs. Lassen wir – weil sie umfassend publiziert und als (unvermeidliche und wohl vorübergehende) Nebenwirkungen des Krieges übergangen wurden – solche direkten Konsequenzen der militärischen Intervention des Westens wie die fünfzig- bis siebzigprozentige Arbeitslosigkeit, das steile Ansteigen der Müttersterblichkeit wie auch von Krankheiten, die durch verschmutztes Wasser hervorgerufen sind und durch Impfung verhinderbar wären, sowie eine Verdoppelung des Niveaus akuter Unterernährung beiseite und richten wir unser Augenmerk stattdessen auf die Art und Weise, wie die Nachkriegs-Rekonstruktion des Iraks unter den Auspizien der „westlichen effizienzsteigernden Vermarktlichung“ vor sich gehen sollte. Der Aufbau der Wasserversorgung geschah im Auftrag der Bechtel Corporation, obwohl sich in einem vergleichbaren Fall nicht allzu lange vorher in Chochabamba, Bolivien, die Wasserpreise verdreifacht hatten, und Familien, die 60 Dollar im Monat verdienten, Wasserrechnungen über 20 Dollar erhielten, nachdem die lokale Wasserversorgung „modernisiert“ worden war (es folgten Aufstände der Bevölkerung, welche die bolivianische Regierung zwangen, den Vertrag aufzukündigen – worauf Bechtel mit einer 25-Millionen-Dollarklage antwortete). Eine andere Gesellschaft, MCI, die angeklagt und des Betrugs für schuldig befunden wurde, begangen, als sie noch unter ihrem früheren Namen WorldCom Handel trieb, ist dafür bezahlt worden, das drahtlose Telefonnetz im Irak zu konstruieren. Eine weitere Gesellschaft wurde beauftragt, zum Preis von 15 Millionen Dollar eine Zementfabrik zu bauen, die schließlich von einem irakischen Geschäftsmann für 80 000 Dollar errichtet wurde. Aber Order 39, erlassen von dem von der Koalition ernannten Irak-Gouverneur Paul Bremer, verbietet den zukünftigen einheimischen Herrschern des Iraks, „den Zugang ausländischer Eigentümer zu irgendeinem Sektor der Wirtschaft zu beschränken“, während sie gleichzeitig ausländische Investoren autorisiert, „ohne Verzögerung alle Gelder ins Ausland zu transferieren, die mit Investment assoziiert sind, einschließlich Aktien oder Gewinne und Dividenden“. Man könnte die Einheimischen entschuldigen, wenn sie „Triumph von Freiheit und Demokratie“ mit „von Syndikaten begangener Raub von Ressourcen und Förderung organisierter wie offiziell unterstützter Korruption“ über-setzen würden.

Neben den Amerikanern und Japanern sind die Europäer heute die eifrigsten und unermüdlichsten Reisenden: Die Anzahl der von Europäern pro Person per annum zurückgelegten Kilometer lässt die Zahlen, deren sich die Bewohner andere Kontinente rühmen können, wahrscheinlich winzig erscheinen. Aber Europa schaut nach innen. Für die meisten europäischen Globetrotter ist der Rest der Welt nicht länger eine Mission; sie ist jetzt ein Aufenthalt für Touristen. Vorausgesetzt natürlich, die Bedienung ist schnell und die Dienstleistenden lächeln, der Zimmerservice und der Nachschub in der Bar sind tadellos, das Catering ist von guter Qualität, bewaffnete Wachen und Überwachungskameras sind auf ihrem Posten – und der Preis stimmt.

Touristen lassen sich selten auf längere Debatten mit Einheimischen ein. Wenn sie streiten, geschieht es meist beim Feilschen um den Preis von Gütern auf dem Markt. Die Beziehungen Tourist-Einheimischer ruhen fest auf der Dienstleistung-für-Geld-Basis. Die Touristen treffen auf die Einheimischen als Käufer und Verkäufer – lächelnd, ja, aber nichts Persönliches, wissen Sie … Ist die Transaktion erledigt, gehen wir – jeder von uns – wieder unserer Wege. Handel ist das, was uns gerade so lange zusammenbringt, wie es braucht, Waren für Geld einzutauschen, und dann mag der Rest der Welt da bleiben, wohin er gehört und wo er bleiben sollte: im Schweigen. Was du und ich einander anzubieten haben, hat seinen Marktpreis. Sobald der Markt gesprochen hat, gibt es nichts mehr zu sagen – und wer bist du und wer bin ich, über die Urteile des Markts zu streiten?

Nicht alle Europäer (so wenig wie die Amerikaner) bereisen die Welt als Touristen. Einige kommen zu entfernten Orten, um Produkte zu verkaufen. Im Falle einiger weniger von ihnen, derer im diplomatischen Dienst oder in einer anderen offiziellen Mission, ist das „Produkt“, das sie verkaufen, ihr eigenes Land oder ihr Kontinent. Worauf sie aus sind, ist ihr Recht und das Recht jener, für die sie als Sprecher handeln, den Rest des Planeten auch weiterhin als eine Ansammlung von Touristenaufenthalten und Handelsaußenposten anzusehen und zu behandeln. Naomi Klein schildert die Erfahrung einer solcher Handlungsreisenden, Charlotte Beers, Unterstaatssekretärin für öffentliche Diplomatie und öffentliche Angelegenheiten (also nicht Europäerin der ersten Generation, trotzdem auch nicht so weit weg von der Art der Europäer), die von der US-Administration mit der Aufgabe betraut war, das US-amerikanische Bild im Ausland neu zu gestalten:

Als Beers im Januar [2002] auf eine Mission nach Ägypten ging, um das Bild der USA unter arabischen Meinungsmachern zu verbessern, lief es nicht allzu gut. Muhammed Abdel Hadi, Herausgeber der Zeitung Al Ahram, verließ das Treffen mit Beers völlig frustriert, weil sie mehr daran interessiert schien, vage über amerikanische Werte zu reden als über spezifische US-Strategien. „Wie sehr man auch versucht, sie dazu zu bringen, einen zu verstehen“, sagte er, „sie tun’s nicht.“16

Klein bezieht sich auf den Unilateralismus der USA angesichts internationaler Gesetze, auf die Initiierung oder Förderung der sich ausweitenden Reichtumsunterschiede, auf das Durchgreifen bei Immigranten und auf die Verletzung von Menschenrechten – um zu schließen, dass Amerikas Pro-blem „nichts mit seiner Marke, sondern mit seinem Produkt zu tun hat“. „Wenn sie [die Einheimischen, die die Hauptlast solcher Strategien zu tragen haben] zornig sind, wie es Millionen offensichtlich sind, dann sind sie es angesichts der von der US-Politik gebrochenen Versprechen.“ Was „sie“ sehen und zur Kenntnis nehmen, sind nicht nur die bequemen Nike-Sneakers und verführerischen Barbie-Puppen, die als Lockvögel für amerikanische (westliche) Werte und die Freuden eingesetzt werden, die Freiheit und Demokratie versprechen. „Sie“ wissen aus ihrer eigenen Erfahrung, dass die „Reisen von Nike-Sneakers“ bis zu den „Missbrauch betreibenden Sweatshops von Vietnam zurückverfolgt werden können, Barbies winzige Ausstattungen auf die Kinderarbeit von Sumatra“ – und dass einige multinationale Firmen, im Vertrauen auf die Unterstützung und den Schutz intelligenter Geschosse, die bereitstehen, amerikanische und westliche Werte auch da zu fördern, wo sie nicht willkommen sind, „weit davon entfernt, das globale Feld mit Jobs und Technologie für alle zu ebnen, in Wirklichkeit damit befasst sind, in den Ärmsten des Planeten nach unvorstellbaren Gewinnen zu graben“.17

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