Traumafolge(störung) DISsoziation

Text
Autor:
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

5


Dissoziation



Dissoziation ist in der Chemie der Zerfall einer chemischen Verbindung in frei bewegliche Ionen, elektrisch geladene Teilchen, da Elektronen abgegeben oder aufgenommen werden. Ein Stoff dissoziiert unter Energiezufuhr oder wegen der Wirkung von Wasser. So ähnlich ist das bei uns auch. Bei uns zerfällt aber die Integration des Selbst und unser Erleben bzw. dessen Verarbeitung im Gehirn, wobei tatsächlich auch Ionen beteiligt sind. Dies geschieht ebenfalls durch extreme Energiezufuhr, da bei Todesangst massive Kräfte entstehen. Und gleichermaßen wie verschiedene Stoffe leichter bzw. vollständiger dissoziieren, gibt es auch Menschen, die eine größere Fähigkeit/(epi)genetische Veranlagungen dazu haben. Und wenn wir diese Fähigkeit schon früh viel nutzen müssen, entwickelt sich unser Gehirn so, dass die Dissoziation eine unbewusst automatisch gewählte Art der Stressbewältigung wird, weil wir keine anderen Wege erlernt haben, mit bedrohlichen Situationen umzugehen. Leider ist das eine Systematik, die sehr schwer zu verändern ist, weil wir, solange wir immer mit Dissoziation reagieren, auch keine anderen Bewältigungsstrategien erlernen können.



Nun können wir die Welt abspalten, bestimmte Erfahrungen oder alle Erfahrungen in einem bestimmten Kontext abspalten oder einzelne Emotionen abspalten oder auch gespalten sein oder in so einen Spalt hineinrutschen – und all dies auf verschiedene Art und in unterschiedlicher Komplexität. So ist Dissoziation ein Überbegriff für verschiedene Phänomene und wird oft auch sehr weitläufig oder unklar definiert verwendet. Dissoziation ist zunächst einfach mal das Gegenteil von Assoziation. Es wird also nicht Bekanntes mit Unbekanntem verknüpft, sondern voneinander getrennt bzw. erst gar nicht einander angenähert.



Grundlegend ist Dissoziation, sowohl in der Chemie als auch (neuro)biologisch und psychologisch, ein Vorgang in einem Spektrum. Die Psychologie betreffend gibt es Modelle verschiedener Spektren, die je als Dissoziation bezeichnet werden, aber unterschiedlicher Natur sind. Allerdings kommen meist mehrere bei Traumatisierung vor, jedoch das der strukturellen Dissoziation

ausschließlich

 als Folge von Traumata.








5.1 „Alltags-Dissoziation“





In Spektren gibt es immer zwei Extreme, die nicht unbedingt klar definiert sein müssen, und ganz viel zwischendrin, ohne dass es immer klar zu trennen ist. Es gibt verschiedenste Formen, deren verschiedenes Auftreten ich unten ausführe. An einem Ende des ersten Spektrums gibt es „normale“ bzw. „nicht

pathologische

“ Formen der Dissoziation, die in allen Menschen ablaufen. Doch auch in diesem Spektrum gibt es Bereiche, die wir als „krankhaft“ bezeichnen, am anderen Ende eben.



Nicht pathologisch sind z. B. intensive Tagträume oder andere Verluste der Aufmerksamkeit, während derer alles per „Autopilot“ abläuft und du danach nicht weißt, was und wie du konkret gehandelt hast. So auch das „Versinken im Moment“, beispielsweise im Spiel, wie es Kinder so gut können, und den Rest der Welt „vergessen“ bzw. abspalten. Von außen wirkst du zwar nicht verändert, du befindest dich nur in einem anderen Bewusstseinszustand: Du bist nicht bewusstlos oder hast auch nicht unbedingt die Augen geschlossen, als wärst du eingeschlafen. Vielleicht kennst du dies von Wegen, die du regelmäßig gehst oder fährst. Auf einmal bist du zu Hause und hast gar nicht wahrgenommen, dass du weitergegangen oder -gefahren bist, weil du in Gedanken versunken warst, wobei diese Gedanken nach dem „Aufwachen“ im Hier-und-Jetzt meist auch nicht mehr klar greifbar sind. Ein Kind, das sorglos im Spiel versunken war, fragt dann: „Waas? Ist es schon vorbei? Neeein. Ich habe doch gerade erst angefangen.“ – Genau so fühlt es sich an, weil die Zeit „zwischendrin“ quasi nicht zählt. Ähnlich ist es auch, wenn du beispielsweise eine monotone Aufgabe verrichten musst oder einer Vorlesung zuhörst, für die dir das Interesse oder die Konzentration oder auch beides fehlt. Es passiert, ohne dass du es bemerkst, dann erwachst du aus deiner Langeweile-Müdigkeits-Trance und wunderst dich, dass die Vorlesung schon vorbei ist. Oder du hast morgens in die Luft gestarrt, warst noch nicht ganz im Tag angekommen, und erschrickst heftig, wenn du die Uhr siehst, weil es plötzlich so spät geworden ist. – Genau wie die Kinder verlässt auch dich, als erwachsene Person, in solchen Zuständen das Zeitgefühl. Das ist eine gute Art, um zwischendurch abzuschalten, und auch, um sich auf Wesentliches konzentrieren zu können, also Unwichtiges zu dissoziieren, damit die Energie für das, was wir benötigen, genutzt wird. Ein entscheidender Unterschied zur Dissoziation als Reaktion auf ein Trauma ist hier, dass dabei der Parasympathikus kein Hypoaraousal, welches den Organismus auf den Tod vorbereitet, herstellen muss. Sondern, aus einem grundlegend bestehenden Sicherheitsgefühl heraus, das Erregungsniveau sehr niedrig ist. Du befindest dich hierbei eben nicht in einer Gefahrensituation, sondern eher gegenteilig in einem fokussierten, auf der Schwelle zum Unterbewusstsein, oder entspannten, meditativen oder auch „dösigen“ Zustand.



Auch das Gefühl, in einer unechten Welt zu leben, in Irrealität, dass alles, was wir empfinden, nicht stimmt, dass es uns in dieser Welt eigentlich gar nicht gibt, ist ein Abspalten des Hier-und-Jetzt, weil es nicht auszuhalten ist, da zu sein. Das ist die sogenannte Derealisation. Für mich war das eine Zeitlang, oder ist es in Überforderungssituationen immer noch, „normal“, während „echte“ und sehr intensive Empfindungen eher außergewöhnlich sind.



Was in der Theorie gerne vergessen wird, ist, das die praktischen Auswirkungen für uns mehr sind, als Nebel und Fremdgefühl. Für uns kommt es durch die empfundene Distanz und den nebligen Schwindel auch zu Fehlwahrnehmung, diesbezüglich in Form von Fehleinschätzungen. Wir wissen also nicht, wie schwer etwas ist, und heben es dann entweder mit zu viel Schwung an oder brauchen einen zweiten Versuch mit mehr Kraft. Ähnlich ist es mit Abständen, bspw. dem zwischen Bein und Tischkante, oder die Höhe von Treppenstufen, was zu einem Vor-sich-hin-Stolpern führen kann. Ich weiß, dass manche von uns eine Zeitlang nicht einschätzen konnten, wie hoch sie die Füße ziehen müssen, damit diese beim Laufen nicht über den Boden schlurfen. Das Schlurfen haben wir aber auch nicht mitbekommen, sodass ein Lehrer damals immer wieder raunte: „Jetzt heb doch mal deine Füße richtig an.“ –

Was? Meine Füße? Das sind nicht meine. Das sieht nur so aus.

 Wenn wir also im Außen kaum etwas wahrnehmen, oder das wenige als surreal, oder auch im Tunnelblick auf etwas schauen, und es nichts mehr gibt, alles irgendwie ganz weit weg ist, dann ist das das andere Ende des Spektrums. Denn es ist vielleicht noch mit Humor zu nehmen, wenn eine Person aus Müdigkeit Löcher in die Luft starrt, ohne mitzubekommen, dass Witze über sie gemacht werden. Es kann aber „pathologisch“ werden, wenn dies mehrere Stunden am Tag und über längere Zeit der Fall ist oder, wie in unserem Fall, ein solcher Zustand nicht einfach so „aufgelöst“ werden kann. Wenn wir nicht mit: „Hey, guten Morgen“ rausgeholt werden können, aber auch nicht mit Eispackungen oder einfacher Ansprache, und am wenigsten von allein. Derealisation oder

Depersonalisierung

 sind Phänomene, die neben den Traumafolgen in verschiedenen Krankheitsbildern (u. a. Angststörungen, Depressionen, Suchterkrankungen) auftreten und nicht zwangsläufig mit einem Trauma zu tun haben. Auch können sich dissoziative Symptome körperlich äußern bspw. in Bewegungsstörungen und Krampfanfällen, die von außen einem

Grand mal

 gleichen. So ist zunächst nicht leicht zu unterscheiden, ob sie traumabedingter dissoziativer Natur sind oder nicht. Im Falle von dissoziierten Persönlichkeitsanteilen, also einer komplexen/ausgeprägten dissoziativen Störung, nicht „nur“ einzelnen dissoziativen Symptomen, leiden dann aber nur einzelne Anteile, wenn sie draußen sind, unter dieser Symptomatik, andere nicht.








5.2 Dissoziation im Trauma





Auch in einer traumatischen Situation ist Dissoziation eine normale Reaktion unseres Organismus, der tut, was er tun soll, um Unerträgliches zu ertragen. Die Aktivierung des Parasympathikus hat auch biologisch praktische Folgen, wenn bspw. bei einer Verletzung der Blutverlust reduziert wird, indem Blutdruck und Puls sinken. Es gibt verschiedene (Arbeits-)Modelle, um Strukturen und Komplexität von Dissoziation zu unterscheiden. Das wohl bekannteste ist das der Strukturellen Dissoziation auf Grundlage oder in Kombination mit der „Janetian psychology of action“: Das Abspalten von „action systems“, also Persönlichkeitsanteilen, in drei Stufen (primäre, sekundäre, tertiäre Dissoziation). Dieses Modell beschreibt quasi unsere Zerbröselung als Persönlichkeits-System, welche in Kap. 3 mehr beschrieben ist.



Zunächst zu den verschiedenen Möglichkeiten, Elemente zu trennen. Wenn wir uns an Dinge „erinnern“ (die Anführungszeichen, weil es für mich kein Erinnern ist, da mir die Inhalte ja zunächst neu sind, obwohl Flashbacks meist „Wiedererinnern“ genannt werden), kann es geschehen, dass wir zwar brutale Bilder sehen, wir aber keinerlei Gefühle dazu empfinden. Wenn also solche Bilder ins Bewusstsein kommen und es einfach noch keine Verbindung zwischen diesen Elementen gibt, ist die Emotion noch weiter/tiefer/stärker dissoziiert. Die Emotion wird von einem anderen Anteil getragen, der uns zunächst nicht oder eben nicht automatisch gleichzeitig zugänglich ist. Möglich, dass dieser Anteil nur Empfindung trägt und ein anderer die sachliche Erinnerung dazu, oder dass dieses Material einfach nur Schritt für Schritt integriert werden kann. Beobachtbares ist also vom Gefühlsleben getrennt, wodurch die Erinnerungen so fremd oder surreal sind. Ebenso können körperliche Schmerzen von Beobachtung abgespalten sein oder Gefühle von ihrer Bewertung.

 



Diese Abspaltungen finden nur statt, weil ein Erlebnis zu überwältigend ist, als dass wir ausreichende andere Bewältigungsmöglichkeiten hätten, um damit umzugehen. Eine Fragmentierung (siehe unten) ist, weil die erfolgreiche Integration ja blockiert ist, für das Überleben aber sehr sinnvoll. Wenn uns nämlich schon kleine Teile reichen, um Lebensgefahr zu erkennen, können wir umso schneller reagieren. Und wenn wir bei Wiederholungen einzelne Instanzen bilden, die jeweils für eine Alarmreaktion ausgebildet werden, können wir extrem schnell und effektiv handeln – was alles unbewusst passiert. Das Ausbilden von Mustern passiert immer und bei allen, auch auf anderen Ebenen wie der des komplexen Verhaltens. Auch scheinbar einfache Bewegungsabläufe, wie bspw. das Anheben und zum Mund führen von Besteck, sind ein hochkomplexer Prozess, der unglaublich viele Muskulaturzellen und noch mehr Synapsen beansprucht. Eine Anstrengung, die wir nur als Kleinkinder spüren (in der Zeit verbraucht unser Gehirn unglaubliche 60 Prozent des Energiehaushaltes, bei Erwachsenen sind es ca. 20 Prozent), da sich durch die Wiederholung Muster ausbilden, damit dies als Gesamtablauf und nicht in Einzelelementen vonstattengeht. Die Energieeffizienz und Automatisierung ist für die auf Überleben gerichtete Evolution sehr logisch und richtig (gewesen). Dadurch passieren solche Dinge, aber auch mit fehlender Achtsamkeit (es sei denn, wir richten diese gezielt und willentlich darauf zurück), denn die Repräsentation von automatisierten kognitiven Aufgaben findet in einem Areal statt, welches unterhalb der Großhirnrinde liegt. Somit ist der

präfrontale Cortex

 entlastet und beschäftigt sich mit anderen Dingen.



Ein weiterer Grund dafür, dass Integration nicht nur nicht stattfinden

kann

, sondern auch in Zeiten der wiederkehrenden Gefahr nicht stattfinden

soll

, ist der, dass durch Integration narrative Erinnerungen entstehen, die sich mit der Zeit und unserer Entwicklung verändern. Wenn Reize, die Überlebens-Kettenreaktionen auslösen, sich aber durch Integration und Verblassung verzerren würden, wären sie für das Überleben nicht mehr nützlich. Darum müssen sie akut bleiben, darum können wir es nicht einfach glauben, wenn es heißt: „Es ist schon vorbei“, weil das ein aktiver Lernvorgang ist, den einzelne Instanzen/Anteile durchlaufen müssen. Dies braucht gewisse Voraussetzungen, denn wir lernen durch Erfahrung, und um diese möglich zu machen, braucht es unglaublich viel Mut, weil wir uns und unserem Leben eine Chance geben, Interesse, weil wir sonst ja nichts Neues erfahren können, und irgendeine Art von Anliegen im Leben, um all diese Kräfte, entgegen der evolutionären Energieersparnis-Impulse, aktivieren zu können.



Etwas zu lernen, bedeutet im Allgemeinen, dass unser Nervensystem Informationen aus einer Erfahrung speichert, die beim nächsten Mal unser Verhalten beeinflussen. Dank unserer Neuroplastizität können sich Synapsen an ihre Beanspruchung anpassen. Die

Axone

 viel beanspruchter Verknüpfungen breiten ihre Endköpfchen aus und verbessern ihre Übertragungsstärke. Sie wachsen sozusagen und werden sensibler, damit Informationen einfacher/effizienter übertragen werden können. Des Weiteren lernen wir auch mit der/durch die weiße Substanz, durch welche das Gehirn quasi seine Nervenleitgeschwindigkeit an Lernerfahrung anpasst. Daraus schließt sich, dass Lerninhalte durch Wiederholung gefestigt werden und zudem die Synapsen sensibler werden, also schon bei kleineren Aktivierungen Informationen übertragen.



Die oben beschriebene Bewusstseinsverminderung, der Tunnelblick oder das Verlorengehen im eigenen Kopf, wenn alles zu viel und anstrengend ist, ist oft auch ein Teil von traumaassoziierter Dissoziation. Hier werden Wahrnehmungen allerdings gar nicht erst richtig aufgenommen bzw. so gespeichert, dass sie nie für den Verstand zu entziffern sein werden. Das macht Amnesien für diese Momente auf kognitiver Ebene unauflöslich, weil das Geschehen gar nicht tatsächlich wahrgenommen wurde. Es war wer da, der_die die Sinneswahrnehmung so eingeschränkt hat, dass gar nichts aufgenommen wurde, was hätte abgespalten werden müssen. Passiert ist es trotzdem und es ist auch da, die Empfindungen sind irgendwo im Körper, jedoch nicht beschreibbar. Ein grundlegender Unterschied zwischen diesen beiden Spektren ist also der Zustand unseres Nervensystems im Moment der Dissoziation: Handelt es sich primär um Energieersparnisse oder um eine ganz akute Überlebensstrategie.













5.3 Erinnerungen und Trigger





Laut Brauns BASK-Modell findet das Erleben von Menschen in nicht dissoziativem Zustand, außerhalb einer traumatischen Situation auf vier Dimensionen statt:



Behaviour (Verhalten): Wie verhält sich wer, und was passiert?



Affects (Affekt): Welche Erregung findet statt, wie ist mein seelischer Zustand?



Sensations (Körperempfindungen): Was sehe, höre, rieche, schmecke, fühle ich? Habe ich Gleichgewicht, vibriert etwas, was spüre ich, wie ist die Temperatur?



Knowledge (Wissen): Was denke ich über die Umweltkonstellation, mich und andere Personen?



(Es gibt Erweiterungen davon bzw. Modelle, welche genauer differenzieren, aber grundlegend geht es immer um diese Bereiche.)



Ein Mensch erinnert sich also an verschiedene Ebenen, wenn er_sie etwas erzählt, weil alle Hirnareale, in denen verschiedene Teile dieser Erinnerung abgespeichert sind, zusammenarbeiten bzw. verknüpft sind. Denn verschiedene Aspekte einer integrierten und dadurch zusammengehörigen, Erinnerung sind in verschiedenen Hirnarealen gespeichert. Eine Erinnerung liegt nicht als ein Bündel an einem Platz im Gedächtnis. Was aber kein Problem ist, solange der Hippocampus den Überblick bei der Sortierung behält. Das sogenannte „Seepferdchen“ (es lässt sich darüber streiten, wie sehr dieses eingerollte Stück Cortex einem Seepferdchen ähnelt) spielt nämlich das Ordnungsamt, wenn es um die Archivierung von Gedächtnisinhalten im Langzeitspeicher geht. Dann weißt du, dass es (dir) passiert ist, und kannst parallel abrufen, was passiert ist, in welchem Kontext, was du gedacht/gefühlt hast, vor allem kannst du selbst daran denken und Dinge gezielt abrufen. Das sind narrative Erinnerungen, die sich verändern und angepasst werden (können), was ohnehin immer mehr oder weniger bewusst passiert, je nachdem, wie es die geht, in welcher Lebensphase du daran denkst, mit wem du Erinnerungen teilst. Narrative Erinnerungen verändern sich mit uns, denn sie werden beim Abrufen rekonstruiert.



Das funktioniert bei dissoziierten Traumaerinnerungen nicht ganz so. Sie werden aktuell, jedes Mal, wenn sie getriggert werden und durch ihre Gegenwärtigkeit verändern sie sich nicht, solange sie nicht integriert sind. Traumatische Erinnerungen bilden durch die Fragmentierung kein Narrativ, sondern bleiben in einzelne Aspekte getrennt. Durch die fehlende Integration und die Hemmung des Hippocampus haben traumatische Erinnerungen keinen Erinnerungscharakter. Wir nehmen sie als akute Empfindung wahr. Tatsächlich reproduziert unser Nervensystem die Reize, wodurch die physischen Empfindungen echt sind. Das, was als Körpergedächtnis bezeichnet wird. Ausgelöst werden solche Intrusionen oder Flashbacks durch Trigger, welche konditionierte Reize darstellen. Jedoch unterscheidet unsere Großhirnrinde, wie in der Konsolidierung von Gedächtnisinhalten, nicht zwischen „echt“ und „reproduziert“. Das erklärt vielleicht auch, weshalb wir, wenn sich Anteile melden/Erinnerungsschnipsel auftauchen, wir nicht direkt in Sympathie zu ihnen stehen, auch wenn es alles für den Weg in Richtung Integration und mehr Halt ist. Auch weil es erst einmal noch weniger Kontrolle ist, weil wir uns der Kontrollverluste gewahr werden, was ein sehr verunsicherndes Chaos schafft, welches sich nicht anfühlt, als wären wir dabei, Selbstbestimmung für unser Leben zu erstreben. Keine Sympathie, weil sie uns schreckliche/eklige/verbotene Emotionen und Schmerzen „(wieder)bringen“, für die es zunächst keinen Grund oder Auslöser gibt. Das sind dann „positive“ dissoziative Symptome, weil etwas addiert wird. Diese Additionen sind die Intrusionen, die Zeichen, die sie uns schicken. Einzelne Aspekte, die Anteile durch die Mauer der Amnesie lassen und sie so ins Bewusstsein kommen. Es war also schon da, nur nicht zugänglich, Intrusionen sind nichts, was nur durch „Fehlmeldungen“ im Gehirn aus dem Nichts halluziniert wird.



Die vier Dimensionen sind also voneinander getrennt. Der Hippocampus war aufgrund der zu hohen Stressbelastung nicht mehr gefragt und Erinnerungen wurden nicht passend beschriftet. So sind Anteile, die in der traumatischen Situation aus Angst entstanden, oft im Moment bzw. Kontext erfroren. Sie sind voller Schmerz oder Gefühl, sind in dem Kontext steckengeblieben. Sie hängen in Dauerschleife dort fest und mit der Integration ist es unsere Aufgabe, sie davon zu entlasten, indem wir verstehen können, was wir all die Jahre nicht wussten. Die dissoziativen Amnesien sind ein Teil dessen, was uns andauernd Kontrolle nimmt. Jedenfalls denke ich oft, auf dem Weg zu erlebter Selbstwirksamkeit alles zu verlieren, weil ich jetzt die Zeitverluste bemerke, was ich früher nicht tat, und nie mit Sicherheit sagen kann, was wir getan haben oder was in den nächsten Minuten mit uns passieren wird. Ebenso verunsichernd ist der Verlust von dem, was ich dachte, es sei unsere Geschichte. Das Bemerken von all diesen Lücken, von den verzerrten Erinnerungen. Unsere Biografie ist ein Buch, in dem unzählige Seiten verändert, überklebt oder herausgerissen wurden, von deren Verlust wir jedoch nie wussten. Wir haben das Vergessen vergessen, damit der Schutz des Vergessens funktionieren kann. Wobei vergessen bedeutet, das Wissen mit einem anderen Anteil als Träger_in der Erinnerung abzuspalten, also ist „vergessen“ hier eigentlich nicht das richtige Wort. Um etwas zu vergessen, müssten wir es schon mal gewusst haben. Solange es kein Co-Bewusstsein und kein Mehr an Integration anderer Persönlichkeitsanteile gibt, liegen auch heute die Zeiten zwischen den Switches, wenn andere Anteile „draußen“ sind, hinter amnestischen Barrieren. So gänzlich vergessen, als dass es „nie passiert“ ist, können wir jedoch gar nicht, oder zumindest nur kognitiv. Dafür ist unser Körper viel zu schlau, denn auch all das, was unseren Kopf überlasten würde, bleibt in der Peripherie gespeichert. Wir lernen mit jeder Erfahrung, auch wenn unser Verstand das nie begreifen kann.



Wenn wir auch Stück für Stück mehr wissen, ist es lange keine wirkliche „Geschichte“, die wir erzählen können, da wir nur einzelne Aspekte, einzelne Teile von verschiedenen Ebenen kennen. Das, was zurückkommt, ist oft erst mal kein beschreibbares Bild, sondern einzelne Empfindungen oder kleine Teile eines Bildes, wie ein Blick in ein Kaleidoskop. Es dauert eine Ewigkeit, in der einzelne Fetzen in unser Bewusstsein gelangen und wir endlich so etwas wie klare Momente oder Zusammenhänge erkennen. Zudem ist alles nur selten absichtlich hervorzurufen, sondern kommt halt, wenn es getriggert wird, und Trigger fragen nicht, ob es gerade passt.



Wenn ich Dinge nicht weiß, mir Informationen fehlen oder ich mich frage, wie wir dies und das auf die Reihe bekommen haben, warum jenes (doch) geklappt hat, dann komme ich meist relativ schnell auf die Lösung, dass das am Viele-Sein liegt. Dissoziation kenne ich, wage ich sogar zu behaupten, einen Teil davon verstanden zu haben. Aber wenn ich jetzt plötzlich Dinge weiß, die ich eigentlich nicht wissen kann, wenn ich nicht weiß wohin, nicht wo wir sind, nicht wo oben und unten ist und mir plötzlich wer eine Karte hinhält und Orientierung gibt, die ich eigentlich nicht habe, dann ist das oft noch verunsichernd. Für mich. Ich weiß, dass es anderen anders geht. Denn die Lösung des Rätsels ist dieselbe. Jedoch ist das Bewusstsein dafür, dass wir sehr wohl zusammen funktionieren, dass wir, auch dann, wenn wir es nicht wissen, zusammen handeln, fühlen, denken, dass wir immer mitbeeinflusst werden, von den anderen, dass wir zusammen sind, nur zusammen existieren, sehr viel neuer und scheint undurchsichtiger und fragiler, als die bekannte, schwarze Fremde.

 



Trotz des vielem dichten Nebel, zeigen sich die gegenwärtig essentiellen Themen. Sie strecken ihre Pranken nach mir, zeigen sich in Schmerzen und anderen plötzlichen, „unerklärlichen“ Körperempfindungen, sie verfolgen mich mit kreischenden Albträumen, um mir Zeichen zu schicken. Erst pickst mich eine einzelne Krallenspitze, wenn ich diese kennenlerne und mich ihr zuwende, kann ich ihre Kratzer spüren. Nachts erwache ich aus panischem Schmerz und es zeigen sich ganze Risse. Dann bekommt sie mehr und mehr Kraft und auf einmal greift die ganze Kralle nach mir. Sie zerfetzt mich in der Luft, Wunden reißen auf, von denen ich nichts wusste, für deren Entstehung ich keinerlei Erklärung habe, weil ich mich an die Verletzungen nicht erinnere.



Trigger sind Zeichen für das, was sich hinter dissoziativen Barrieren befindet. Für Dinge, die jetzt dran sind, angeschaut und verarbeitet zu werden, Altlasten, die integriert werden wollen. Eigentlich zeigen sie nur eine Bedrohung an, sind Auslöse-Reize und wollen uns nicht quälen, indem sie uns zurück in den Schrecken des Dort-und-Dann katapultieren, noch bevor wir überhaupt einen rationalen Gedanken fassen können. Aber das ist nun mal ein Teil des Weges zu mehr Integration. Wenn wir welche kennenlernen, vermeiden wir sie zunächst meistens. Koste es, was es wolle. Wir halten das nicht aus, wir wollen nicht völlig verstört sein, Hauptsache unser Organismus wird nicht zum panischen Ekelpaket. Wir vermeiden sie lieber, weil sie uns in Zustände bringen, die wir uns nicht ausgesucht haben, die wir abscheulich finden, und wenn wir auf ihre Zeichen hören, nehmen sie uns am Ende noch alle Argumente zur Verleugnung. So sind viele Reize überfordernd, die andere gar nicht wahrnehmen, auch wenn bei uns (Außen)Wahrnehmung manchmal sehr eingeschränkt oder nur auf einen bestimmten Fokus gerichtet ist. Viele Reize sind für mich in ihrer Masse einfach „zu viel“, überlasten unser Nervensystem, aktivieren Überforderung und dann traumatische Ohnmacht, und dann ist es völlig vorbei. Und viele Reize, einzelne, die ganz subtil sein können, für Außenstehende kaum oder nicht wahrnehmbar, sind für uns Trigger, können Flashbacks, Wechsel, Panik auslösen.



Ich frage mich manchmal, wie wir eigentlich alles andere noch hinbekommen, wenn wir ständig und unaufhörlich vom Angst-Terror verfolgt und beeinträchtigt werden. (Damit es doch funktioniert, sind wir eben viele.) Aber niemand, wirklich niemand kann an unserem hochaktiven limbischen System etwas ändern, wenn wir es nicht versuchen. Es ist schrecklich, wenn jemand mitbekommt, dass wir getriggert wurden, weil wir uns schämen. Hier ist sie wieder. Die Scham. Weil wir so „übertrieben schreckhaft“ sind. Aber da ist nichts übertrieben, das ergibt alles viel Sinn, bleibt aktuell, weil es noch nicht bearbeitet und richtig einsortiert ist.

„Sobald man sich in Gefahr befindet, reagiert man schon. Die Evolution denkt für dich“ (Joseph LeDoux).



Ja, danke Evolution. Kannst jetzt wieder aufhören. Die Amygdala, ist durch eine Nervenverbindung u. a. auch am motorischen System angeschlossen. Super, wenn wir bedroht werden. Blöd, weil die Evolution keinen Kalender dabei hat, um zu bemerken, dass die Angstreaktion ein bisschen spät kommt bzw. langsam Feierabend hat. Wir schämen uns, weil

das

 doch kein Trigger sein kann. Weil wir uns nicht „zusammenreißen“ können, weil wir Anteile abstoßen und nicht haben wollen. Ich fasse mal kurz zusammen, was ein potentieller Trigger ist:



Alles.



Es gibt keinen lächerlichen Trigger. Ein Geruch, ein Wort, ein Geräusch, eine bestimmte Bewegung, die wir sehen, oder auch das Gefühl davon, bestimmte Berührungen, eine Umweltkonstellation, bestimmte Orte, Gegenstände, spezielle Klamotten, Farben – alles. Alles, weil die Dimensionen und Ebenen der Erinnerungen zerfetzt sind und es nur einen kleinen Teil geben muss, um auszulösen. Es geht nicht um den Auslöser, es geht um das, was ausgelöst wird. Unser Gehirn greift sich nur etwas, dass es greifen kann, da reicht ein kleiner Fetzen aus dem Puzzle, der aus dem Nebel ragt und mit dem Trauma assoziiert ist. Das, was schlimm ist, ist das, was von uns als Hier-und-Jetzt erlebt wird. An einer Pistole ist auch nicht der Auslöser, Englisch: Trigger, das Problem. Das ist nur ein Metall- oder Plastikstück. Das Schreckliche ist, was durch das Auslösen passiert.



Heutzutage steht oft irgendwo „Trigger-Warnung“. Ich bin dann immer ganz gespannt, was nun kommt, weil diese „Warnung“ suggeriert, dass gewusst wird, was triggert. Das finde ich schon mal interessant. Natürlich mag es „große Trigger-Situationen“ geben, die auch Außenstehende als solche identifizieren können, weil sie vermutlich sehr viele von

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?