Buch lesen: «Kunst des Lebens, Kunst des Sterbens»
Yungdrung Wangden Kreuzer
Kunst des Lebens Kunst des Sterbens
Wie wir den Traum von Ich und Welt mit Achtsamkeit, Mitempfinden und offenem Gewahrsein meistern und befreiende Luzidität erlangen können
Arbor Verlag
Freiburg im Breisgau
Impressum
© 2021 Arbor Verlag GmbH, Freiburg
Alle Rechte vorbehalten
E-Book 2021
Lektorat: Ralf Lay; Lektorat Glossar: Tina Draszczyk
Coverabbildung: © Yungdrung Wangden Kreuzer
Umschlaggestaltung und Satz: mediengenossen.de
ISBN E-Book: 978-3-86781-346-4
Inhalt
Widmung
Erster Teil
Kunst des Lebens – Kunst des Sterbens
1 Ars longa, vita brevis: Eine Einleitung in die Thematik des Buches
2 Vanitas oder Der Traum des Sisyphos
3 Der Vergänglichkeit aller Erscheinungen gewahr werden
4 Wenn wir träumen, dass wir träumen, sind wir dem Erwachen nah
5 Der Traum des Denkens und Sprechens und das Vorbild der Meister
6 Das Leben und Sterben von einem, der die Weisheit liebt
7 Erkenntnistheorie, selektive Wahrnehmung und Traumdeutung
8 Thanatologie als die Lehre über Sterben und Tod und ihre möglichen Quellen
9 Erlebnisberichte von Todesnähe und außerkörperlicher Erfahrung
10 Warum wir der Unzerstörbarkeit unseres Gewahrseins gewiss sein können
11 Die außerkörperlichen Erfahrungen heutiger Menschen und die Kunst der Entdopplung
12 Einige in allen Kulturen wiederkehrende Grundmotive der Seelenreise
13 Zufriedenheit ist der größte Schatz und Selbstvertrauen der beste Freund
14 Die Schwächung des Egos in Krankheit und im Sterben als Chance für Metanoia, Katharsis und Selbsterkenntnis
Zweiter Teil
Leben und Sterben im Licht des erleuchteten Geistes von Weisheit und Mitgefühl
15 Von der alles verwirklichenden Kraft des Wünschens und der Intention
16 Wie in unserer Vergänglichkeit schon unsere Erlösung vollendet ist
17 Die sechs Bardos oder Zwischenzustände nach der Lehre des Dzogchen und des Tibetischen Totenbuchs
18 Wie wir rückblickend auf einen Tag und eine Nacht die sechs Bardo-Zustände verstehen können
19 Über die Kontinuität unseres Geistes, der niemals geboren wurde, der in nichts verweilt und der niemals vergeht
20 Wie wir die Unsterblichkeit unseres eigenen Gewahrseins unmittelbar erkennen und in allen Erfahrungen achtsam erinnern können
Dritter Teil
Drei Übungen für ein gutes Sterben und ein gutes ewiges Leben
21 Der unzerstörbare Atem von Segen und Mitgefühl
22 Der alles befreiende Atem des A
23 Die Befreiung durch Erinnern und durch Hören im Sterben und im Postmortem
Literatur
Glossar
Abbildungsverzeichnis
Über den Autor
Widmung
Die Arbeit an diesem Buch war im Herbst 2019 beendet. Es sei dem langen Leben und segensreichen Wirken aller erleuchteten Meister und der baldigen Befreiung und Erleuchtung aller Wesen gewidmet.
Erster Teil
Kunst des Lebens – Kunst des Sterbens
1
Ars longa, vita brevis: Eine Einleitung in die Thematik des Buches
Wer ein gutes Leben führt, der stirbt auch gut.
Motto der Ars Moriendi
Leeres Gewahrsein hat keinen Anfang und kein Ende. Weil es nicht geboren wurde, stirbt es nicht.
Longchen Rabjam Gyalpo
Schlechtes wird von der Seele nie als solches gewählt, sondern als vermeintlich Gutes.
Proklos
Wie du selbst nicht behandelt werden willst, so behandle auch die anderen nicht.
Konfuzius
Die Freiheiten eines menschlichen Lebens gefunden zu haben und zu versäumen, mich im Heilsamen zu üben – könnte es eine größere Dummheit geben als diese?
Shantideva
Die Weisen haben ihre Handlungen, ihre Worte und ihre Gedanken gemeistert. In der Tat – sie sind vollkommene Meister ihrer selbst geworden.
Dhammapada
Es ist mir eine große Freude, nun diese Sammlung von Texten in Buchform vorlegen zu können, in denen Betrachtungen, Lehren und Methoden zur Kunst eines gelassenen und achtsamen Lebens und deren Fortsetzung im Sterben und über den Tod des Körpers hinaus in eine neue, wenn möglich erleuchtete und leidensfreie Form des Daseins und Erlebens im Zentrum stehen.
Die Kunst des Lebens und die Kunst des Sterbens sind, was den Okzident betrifft, von Platon zu Plotin, Cicero und Seneca und den christlichen Autoren von Gregor dem Großen bis hin zu Seuse, Anselm von Canterbury, Thomas von Kempen und Erasmus von Rotterdam noch ganz selbstverständlich nicht voneinander zu trennen. Der nach authentischer Weisheitserkenntnis strebende Mensch widmet sich der Philosophie, indem er sich täglich im Sterben, in der Loslösung von allem Unwesentlichen übt. Seneca sagte: »Leben muss man ein ganzes Leben lang lernen und … während des ganzen Lebens muss man sterben lernen.« Was die Meister des Orients betrifft, so ist ihnen seit frühester Zeit der Tod die Richtschnur zur klaren Unterscheidung des Wesentlichen vom Unwesentlichen, vom wandellosen Wesen des Geistes und seinen wandelbaren, vergänglichen Erfahrungen. Nur was bleibt, ist wirklich, und alles andere ist unwirklich. Das Bleibende im Wandel, die ewig gültigen Wahrheiten und Gesetze des Lebens zu erkennen und aufzuzeigen ist von jeher die Aufgabe und das Ziel der »ewigen Philosophie« im Osten und im Westen.
Der Glaube an ein Fortleben des Geistes nach dem Verfall und Tod des physischen Körpers war dem Menschen schon seit frühesten Zeiten zu eigen, wie wir aus vielen archäologischen Funden schließen können, und wird – wie wir sehen werden, mit gutem Grund – trotz des diskreditierenden Einflusses neuzeitlicher, reduktionistisch-materialistischer Anschauungen auch heute noch von der Mehrheit der Menschen geteilt.
Dieser Glaube oder diese Überzeugung beruht auf in Wahrheit recht allgemein menschlichen Erfahrungen, die in Todesnähe, am Sterbebett und in der Zeit nach dem Exitus auftreten, die wir in späteren Kapiteln genauer betrachten werden. Er entspricht einem inneren, intuitiven Wissen des Menschen um seine wahre, unzerstörbare Natur als geistiges Wesen, das seinem Wesen nach unabhängig vom Körper ist. Dieses tiefe Wissen lebt fort, auch wenn zurzeit oberbewusst erdachte, gesellschaftlich vorgegebene Paradigmen dem scheinbar widersprechen.
Dieses geistige Wesen, das jetzt in einem menschlichen Körper lebt, will voll und ganz erkannt werden. Es sucht die Natur seiner Erfahrungen zu verstehen und fragt ganz natürlich nach der Sinnhaftigkeit, nach dem Woher und Wohin seines Daseins. Es kann, über seine Wahrnehmungen reflektierend, den Zusammenhang von Ursache und Wirkung in der Natur und in seinem eigenen Handeln und Erleben erkennen.
Ein klares Erkennen, welche Handlungen für uns und unsere Umgebung zu glücklichen, heilsamen Erfahrungen führen und welche zu unheilsamen, leidvollen, wird »Lebensweisheit« genannt – insofern diese die Frucht der Erfahrung vieler Leben und vieler Generationen ist. Ethisches Verhalten ist intelligentes, vernünftiges und weises Verhalten. So könnten wir, in Abwandlung eines Worts von F. Schleiermacher sagen: Ethik ist die Wissenschaft eines vernünftigen und auf die Dauer heilsamen Handelns.
Die Frage, was eigentlich ein gutes, ein glückliches und sinnerfülltes Leben ist, steht damit am Anfang aller Philosophie, welche diesen Namen verdient, und sie steht bewusst oder noch unbewusst auch am Anfang der persönlichen Suche jedes Einzelnen nach Glück und Selbstverwirklichung.
Was die möglichen Antworten auf diese grundlegende Frage betrifft, so besteht seit Langem ein gesellschaftstragender, ein mitmenschlich-empathischer Konsens – eine große, Kulturen und Religionen übergreifende Übereinstimmung der Herzen in Bezug auf das, was wahre »Menschlichkeit«, was korrektes Verhalten und was ein gelungenes und erfülltes Leben bedeutet, ein intuitives Gefühl für das Richtige, welches das Leben des Einzelnen und der Gemeinschaft leitet und inspiriert. Dieses wirkt, zu unserem Glück, trotz vieler Widerstände, intellektueller Zweifel und zunehmender Orientierungslosigkeit bis heute weiter, und wir zehren davon.
Die Menschheit zehrt noch von den vor der heute global verbreiteten materialistischen »Wissenschaftsgläubigkeit« ihre Gesellschaften dominierenden Maximen der Weltreligionen, die, einfach zusammengefasst, übereinstimmend lehren: Wer ein gutes, also ein tugendhaftes Leben gemäß den Empfehlungen göttlicher Weisheit, geoffenbart in den heiligen Schriften der jeweiligen Tradition, führt und auf die heilsame Qualität seines Denkens und seiner Handlungen achtet, der wird die Prüfungen des Lebens in dieser Welt gut bestehen, an Weisheit und Verdiensten wachsen und folglich mit ruhiger Seele sterben. Wenn er sich vorab von der Anhaftung an irdische Dinge befreit hat, kann er mit freudiger Erwartung seiner Erlösung entgegensehen. In der geistigen Welt oder in seiner nächsten Existenz wird er die Früchte seiner achtsamen altruistischen und heilsamen Handlungen ernten, denn ein jeder erntet ganz natürlich das, was er einmal selbst gesät hat.
Die Überwindung des kleinen Selbst, Freiheit vom Ich und vom Körper und von ihren Leiden, welche erlangt wird durch die Zähmung des eigenen ungeordneten Denkens, Wünschens, Sprechens und Handelns und ein Tätigsein, welches der Gemeinschaft dient, waren lange und unbestritten das Ideal einer gelungenen Individuation in West und Ost, vorgestellt in der Gestalt der großen, verwirklichten Meister wie Jesus und Buddha und der großen Heiligen der verschiedenen Religionen, an deren Vorbild man sich selbst zu messen hatte und deren gelassene Haltung, Selbstlosigkeit, Geduld im Leiden, Gewaltlosigkeit und einfühlsam-verstehendes, liebevolles Tun und Lassen als beispielhaft für das eigene Leben und Sterben gelten konnten.
Wer sich darin übt, sich zu lassen, immer da, wo er an sich und an bestimmten Erfahrungen und Umständen festhält, der wird, trotz aller Schwierigkeiten und Leiden, ein entspanntes, sinnvolles und glückliches Leben haben. Wenn wir lernen, mit klar erkennender Achtsamkeit im Augenblick zu leben, erwerben wir damit die Fähigkeit im eigenen Geist, unheilsame und heilsame Impulse zu unterscheiden, wenn sie erscheinen, und wir entdecken unsere prinzipielle Freiheit, diesen zu folgen oder nicht. Daraus erwächst eine gleichmütige und gelassene Haltung, die an nichts festhält und deshalb frei von einschränkenden Konzepten über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bleibt. Wenn wir unsere Fähigkeit zu Mitempfinden, Mitfreude und Wohlwollen kultivieren, weiten und entspannen sich unser Herz und Geist, und wir können die eingebildete Enge, Angst und Isolation unseres kleinen Ichs vergessen und transzendieren.
Die Basis kontemplativer Geistesschulung
Die Einübung einer gleichmütigen Achtsamkeit oder wachen Präsenz und Nüchternheit ist das Grundelement oder die Basis aller Systeme kontemplativer Geistesschulung. Sie ist unerlässlich, um Fehler im System zu erkennen, um unseren Geist von allem zwanghaften, dualistischen Denken und von den entsprechenden Störgefühlen zu reinigen, welche beide die Folge von Nichtgewahrsein und die Hauptursachen für Unzufriedenheit und alle anderen leidvollen Erfahrungen sind. Befreit von den zwei Schleiern, dem des konzeptuellen Denkens und dem der instinktiven Emotionalität, die beide Leiden schaffen, werden wir schließlich das höchste Glück vollkommener Erleuchtung erlangen. Das ist der Weg, der in unserem Geist angelegt ist – der Weg zurück zum bleibenden, unverlierbaren Glück, unserem ursprünglich erleuchteten Zustand, aus dem nichtluziden, selbstverblendeten Erfahren unseres Geistes im Prozess gedanklicher Zerstreuung und Projektion wieder zurück zum luziden Zustand der Einheit und des völligen Friedens mit uns selbst.
Sicher war es zu allen Zeiten auch möglich, einfach nur dahinzuleben. Aber das können auch die Tiere, und sie können es auf den ersten Blick hin besser als wir. Jede Katze, und das überall auf der Welt, versteht es erst einmal besser als wir, entspannt und aufmerksam im Augenblick zu leben – ohne eine Vorstellung von Vergangenheit und Zukunft.
Aber zum Menschsein gehört ein Streben nach Erkenntnis von Sinn und Zusammenhang, und so ist es erst einmal »Manas« oder die Fähigkeit unseres »Denkbewusstseins«, die uns als »Manusha« (in Sanskrit), das heißt als »Mensch«, von den Tieren unterscheidet. Und diese Fähigkeit, die es uns ermöglicht, zu unterscheiden, zu vergleichen und uns zu erinnern, lässt uns auch vieles kompliziert erscheinen, was eigentlich sehr einfach ist.
Die unterscheidende Intelligenz des Menschen ist noch weit entfernt von der wahren Vernunft des göttlichen »Nous« (griechisch nous [Geist]), aber sie ist die Grundvoraussetzung für eine mögliche Zusammenschau aller Handlungen und Erlebnisse und für ein Begreifen ihres Zusammenhangs von Ursache und Wirkung.
Gleichzeitig ist diese Fähigkeit Ursache des menschlichen Leidens an sich selbst und durch sich selbst. Im Gegensatz zu den Tieren sind unsere Leiden überwiegend selbst erdacht; und solange sein Denken nicht von Weisheit und Liebe gelenkt ist, erzeugt und erfindet der »Homo sapiens«, oder wohl besser »Homo Faber«, vielerlei Leiden für sich selbst und für seine Mitmenschen und Mitgeschöpfe.
Die menschliche Geschichte gibt beredtes Zeugnis für seine kurzsichtige Genialität und sein am Ende immer auch ihm selbst schadendes Handeln.
Da menschliches Bewusstsein autoreflexiv und von Erinnerung gestützt ist, können wir den Zusammenhang zwischen unserem Denken, Sprechen und Handeln und seinen Wirkungen auf uns selbst und auf unsere Umgebung und Umwelt verstehen. Aber in unserer Brust wirken sowohl die Kräfte, die uns zu höherem Erkennen inspirieren wollen, wie auch die herabziehenden Kräfte eines Lieber-nicht-wissen-Wollens und einer Bequemlichkeit, die es vorzieht, alles als zufällig und zusammenhanglos zu sehen. Und so wollen wir uns oft in einer Pseudoannahme des Status quo, in einer Annehmlichkeit und in einer Pseudospontaneität, die den instinktiven Impulsen einer von den Toxinen des Geistes inspirierten Dynamik folgt, einer wirklichen Selbsterkenntnis gar nicht öffnen.
Wenn wir es aber verstehen, diese Fähigkeit des Erkennens von Zusammenhängen weiterzuentwickeln, so können wir zu einem wirklich umfassenden Verständnis des Lebens, können zu Lebensweisheit und damit zu einem vernünftigen und heilsamen Gebrauch all unserer Kräfte und Begabungen kommen. So ist es also für eine vernünftige Gestaltung unseres Lebens und unserer Lebensführung von entscheidender Bedeutung, zu einer Klarheit darüber zu kommen, welche Werte für uns wichtig sind und wie wir leben wollen, ja, was ein glückliches, ein in jeder Hinsicht optimales und sinnvolles Dasein eigentlich ist.
Suchen wir nach einer allgemein verlässlichen Basis der Verständigung und des Verstehens – nach etwas, das Mensch und Tier, trotz aller Verschiedenheiten und individueller Variationen gemeinsam ist –, so finden wir, dass alle Wesen zweifellos das Glück oder zumindest das für sie Angenehme suchen und dass sie das Leiden oder für sie Schmerzliche fliehen. Sie alle wollen keine unangenehmen Erfahrungen, genauso wie wir selbst; und doch ist alles Leben von subtilen oder groben, von plötzlichen oder von chronischen Leidenszuständen durchdrungen, die von Zuständen leichter Unruhe und Gereiztheit, eines Unbehagens kombiniert mit Angst oder Verlangen oder einer unerklärlichen Unzufriedenheit bis hin zu schweren psychischen und physischen Krankheiten und Leidenserfahrungen reichen.
Natürlich sind hier alle neurotischen Gefühle und Stimmungen wie Stolz, Ehrgeiz, Eifersucht, Verlangen, Neid und Ärger, welche täglich im Geistesstrom eines Menschen auftauchen können, inkludiert. Sie alle sind zwar normal, aber sie alle sind auch leidvoll, und sie erzeugen neues Leid, sofern wir unter ihrem Einfluss stehen und von ihnen motiviert handeln.
Wenn wir uns mit offenem Herzen umschauen und die Lebensumstände unserer Mitmenschen und der Tiere genau betrachten, so sehen wir, wie sie sich selbst und den anderen Wesen immer wieder Leiden bereiten, weil sie es scheinbar nicht besser wissen und einfach instinktiv ihren Prägungen und Bedürfnissen entsprechend handeln. Den Tieren mangelt es an der nötigen Intelligenz, um die Ursachen des Leids und jene des Glücks klarer zu verstehen. Sie passen sich lediglich besser an die Umstände an und verbessern die Strategien ihres Selbsterhalts und Überlebens. Aber auch die meisten Menschen suchen die Ursachen ihres Missbehagens im Außen und sehen meist nicht, was und wie sie selbst durch ihr eigenes Denken und Handeln dazu beitragen.
Nun ist es einfach zu verstehen, dass es, wenn wir ein entspanntes und sorgenfreies Leben führen wollen, sicherlich gut und förderlich ist, uns in Geduld zu üben und zu lernen, uns zu entspannen und uns keine Sorgen, also keine überflüssigen und ängstlichen Gedanken zu machen.
Die relativ neue Disziplin der Glücksforschung kam zu dem Ergebnis, dass es nicht materielle Güter und Besitz, sondern innere und äußere Gesundheit und harmonische und verlässliche menschliche Beziehungen sind, die von den meisten Menschen als ihr größtes Glück empfunden werden, wenn ihre materielle Situation ausreichend gesichert ist. So liegt es folglich auf der Hand, dass es, wenn wir glücklich sein wollen, das Beste ist, unsere Empathiefähigkeit und unser Mitgefühl und Wohlwollen zu kultivieren, ja dass unser Glück und unser Verständnis weiter wachsen werden, wenn wir lernen, »in der Liebe zu bleiben«, und eine grundsätzlich wohlwollende Einstellung gegenüber unseren Mitmenschen und allen fühlenden Wesen kultivieren.
Dieses allumfassende, unparteiische Wohlwollen drückt sich aus in dem Saatgedanken »Mögen alle Wesen glücklich sein«. Wenn wir diesen besten aller Wünsche in unserem Geistesstrom immer wieder hervorbringen, verändern sich unsere Sichtweise und unser Erleben sehr rasch zum Positiven, und jedes Mal, wenn wir ihn denken, werden die »Wurzeln des Guten« in uns verstärkt, und unsere Fähigkeit, unser kleines Ich mit seinen Ängsten und Wünschen zu transzendieren, wächst.
Es ist auch sehr sinnvoll und wertvoll, wenn wir die Ursachen des Leids immer klarer erkennen, denn nur wer die wirkliche Ursache einer Krankheit erkannt hat, kann sie auch beseitigen. In ihrer Erkenntnis liegt der Weg zur Aufhebung allen Leids in uns selbst und im Universum, denn nur wenn wir unsere Täuschung klar erkennen, können wir uns von ihr befreien und in der Folge auch anderen helfen, frei zu werden.
Nun wird dieses befreiende Erkennen der eigenen Täuschungen und Abhängigkeiten von unserer heutigen Umwelt und Gesellschaft leider nicht gerade unterstützt und gefördert. Vor allem seit der Erfindung der Massenmedien, beginnend mit Radio und TV bis hin zum Internet, werden den Menschen überwiegend ganz andere, von den großen Vorbildern für wahre Selbsterkenntnis und erleuchtete Humanität wie Jesus, Buddha oder auch Konfuzius abweichende Leitbilder, Anschauungen und Leitmotive auf breiter Basis vermittelt. Wenn Information und Unterhaltung an die Stelle von humanistischer Bildung treten, wird es für die vielen zwangsläufig immer unverständlicher, worin ein gutes, ein vernünftiges und sinnvolles Leben und Handeln und ein ethisches Verhalten überhaupt bestehen.
Wenn aber, generell gesprochen, der besondere Sinn und Wert des Menschseins und die Richtung und Möglichkeit seines geistigen Wachstums und einer gelungenen Selbstentwicklung dem einzelnen Menschen nicht richtungsweisend und prägend in seiner Familie und Gesellschaft vorgestellt und vorgelebt werden und wenn diese nicht mehr das Leitbild für die mögliche Höhe einer Kultur und ihrer Bildung sind, sondern eine unter vielen möglichen Anschauungen und Meinungen, so verbreitet sich ein Gefühl der Orientierungslosigkeit, der Sinnlosigkeit und Beliebigkeit, und ein inneres und äußeres Chaos sind die Folge.
Die profitorientierte Werbung leitet das stets zerstreute und nach einem Inhalt und Sinn suchende Denken und Begehren in allen Medien auf Wunschobjekte, Leitbilder und Selbstbilder um, die Abhängigkeit erzeugen und für deren Erlangung, Pflege und Erhaltung ständig gearbeitet werden muss. Wenn sie nicht erlangt, erworben und aufrechterhalten werden können, entstehen daraus Komplexe, Frustration, Unzufriedenheit, Neid und andere Störgefühle. Die Folge ist vielfach eine fortschreitende »Verschmutzung« der Innenwelt, die mit der Verschmutzung und Vergiftung der Umwelt einhergeht, die gleichsam ihr für alle sichtbarer Ausdruck ist.
Nun ist es für die meisten immer schwer gewesen, dem Haupttrend des kollektiven Denkens ihrer jeweiligen Gesellschaft nicht zu folgen; und leider ist es heute fast unmöglich geworden, sich dem Einfluss der ununterbrochenen Werbung, Prägung und Konditionierung durch die Massenmedien zu entziehen. Ja, eine ständige Erreichbarkeit und ein ständiges Online- und Angeschlossensein an die Medien wird in der »Informationsgesellschaft« nun sogar als unabdingbar dargestellt und gefordert.
Ein Strom konfuser und vielfältig divergierender Informationen und Meinungen formiert heute den Menschen, ob er es will oder nicht; und eine flutartige Menge von Informationen ist für alle sichtbar dabei, eine wirkliche Bildung des Menschen im klassischen Sinn zu überwachsen. Diese scheint durch eine auf technischem, pharmakologischem, psychologischem und neurologischem Wissen basierende Programmierung und Gleichschaltung ersetzt zu werden. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit sind nun die technischen Möglichkeiten vorhanden, dass dies auf der ganzen Welt geschieht.
Es ist eigentlich ein recht wüster und verwirrender Traum, der dem Menschen nun auf allen Kanälen zur Unterhaltung und als »In-Formation« angeboten wird. Und es ist, glaube ich, wichtig, die Art dieser »Formation« und die Probleme, die daraus für jeden Einzelnen und für die ganze Welt entstehen, mitfühlend verstehen zu können. Vor allem, wenn man täglich mit Menschen zu tun hat und bestrebt ist, ihnen in dieser Zeit, da die Toxine des Geistes stark anwachsen, therapeutisch zu helfen.
Die falschen Versprechungen, ein glückliches Leben durch den Konsum bestimmter Waren und Situationen zu erlangen, führen in die Irre, denn sie binden den Menschen und halten ihn von der Erkenntnis des eigentlichen Sinns seines Lebens ab. Immer neue Wunschobjekte werden ihm vor Augen gestellt und erzeugen neue Wünsche und in der Folge Unzufriedenheit. Durch zu intensiven Medienkonsum können falsche Ängste und Feindbilder entstehen, die zu einer diffusen Nervosität und Unsicherheit führen.
Natürlich war es auch in früheren Zeiten nicht einfach, zu Selbsterkenntnis, einem sicheren moralischen Urteil und geistiger Unabhängigkeit zu kommen und aus dem Traum des eigenen Denkens, Wünschens und Befürchtens zu erwachen. Die eigentlichen Ursachen des persönlichen und des kollektiven Leids und Unbehagens – sie liegen im Geist eines jeden von uns, und sie sind immer die gleichen: Unvernunft, Ignoranz, Egoismus, geistige Unruhe, Existenzangst, Anhaften und Aversion, doch heute erscheint es durch die enge Anbindung des persönlichen Denkens an die Medien und Kommunikationsmittel noch um vieles schwieriger, sich von der Zwanghaftigkeit und Zerstreutheit eines ständigen Konzeptualisierens und Begehrens frei zu machen.
Weil aber unser Geist seiner Natur nach eigentlich frei ist und all seine Wahrnehmungen und Gedankenkonstrukte ebenso natürlich vergänglich sind, ist es in jedem Augenblick theoretisch möglich, aus dem nur scheinbar wirklichen Traum des jeweiligen Zeitgeists und aus dem ihn begleitenden Denken zu erwachen und plötzlich luzide zu werden. Wenn wir im Traumzustand glauben, gleich in einen Abgrund zu stürzen, geschieht häufig, durch die Todesangst ausgelöst, ein Erwachen zu momentaner Luzidität (vom spätlateinischen luciditas für »Helle, Klarheit«), und wir erkennen, dass wir gerade träumen. Auch steht unser Denken völlig still, wenn wir durch etwas plötzlich geschockt sind oder wenn wir im Tiefschlaf, in einem Zustand tiefer und seliger Entspannung, alle Träume und Gedanken von Ich und Welt völlig vergessen.
Luzidität und Freiheit von Gedanken sind uns als Erlebnisformen demnach möglich, aber unser ganz normales, menschliches Problem besteht darin, dass wir momentan entweder wach sind und angespannt vielen Gedanken folgen, oder wir beginnen zu entspannen, finden etwas geistige Ruhe und werden dabei aber schläfrig und verlieren das Bewusstsein. Wir pendeln gewissermaßen zwischen den beiden Extremen Bewusstsein und Unbewusstheit, und in beiden mangelt es uns an Luzidität. Wegen dieses Mangels ist Bewusstsein üblicherweise spannungsgeladen und wirkliche Entspannung eigentlich nur durch den Verlust des Bewusstseins möglich.
Die hohe, erlösende Kunst der Dzogchen-Meditation besteht darin, völlig gewahr und völlig entspannt zu sein. Die möglichst beständig aufrechterhaltene Luzidität wird dann mit der Zeit alle Bewusstseinsschichten durchdringen. Wie das erreicht werden kann, wird in den späteren, auf die kontemplative Praxis der Geistesschulung bezogenen Teilen dieses Buches en détail erklärt werden. Es mag an dieser Stelle genügen zu sagen, dass es möglich ist, in der Kontemplation einen Grad der Entspannung zu erreichen wie im Tiefschlaf und trotzdem völlig gewahr zu sein. Hier liegt der Grund, warum in der visionären Praxis des Dzogchen das eigene innere Licht so stark hervortreten kann wie sonst nur im Schlaf und im Tod, und das in einem Zustand völliger Wachheit und rezeptiver Offenheit aller Sinne.
Der authentische Zustand leeren Gewahrseins ist frei vom Denkbewusstsein und frei von der dumpfen, fühllosen Trance der Unbewusstheit. Wenn wir die Fähigkeit entwickeln, im Wachzustand völlig entspannt und ohne alle Konzepte zu sein, werden wir am Ende des Sterbeprozesses frei von Bewusstsein mit dem klaren Licht reinen Gewahrseins verschmelzen können und Buddhaschaft erreichen. Je länger wir bereits jetzt in diesem »natürlichen Zustand des Geistes«, frei von Gedanken, bleiben können, umso größer ist die Chance dieser endgültig befreienden Verwirklichung im Tod. Wir werden über diesen Zusammenhang in den späteren Kapiteln noch oft und ausführlich sprechen.