Buch lesen: «Der Junge, der mit Jimi Hendrix tanzte»

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Wolfram Hänel

Der Junge,

der mit Jimi Hendrix tanzte

Eine Jugend in den siebziger Jahren

Roman


Unveränderte Wiederauflage

© der Originalausgabe: 2009 Ullstein Taschenbuch, Ullstein

Buchverlage GmbH · Berlin

© 2021 Literanover by zu Klampen Verlag · Röse 21 ·

31832 Springe · www.zuklampen.de

Umschlaggestaltung: © Stefan Hilden unter Verwendung von Motiven von www.shutterstock.com und von Wolfram Hänel (Foto) · München · www.hildendesign.de

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH · Rudolstadt

ISBN Printausgabe 978-3-86674-788-3

ISBN E-Book-Pdf 978-3-86674-894-1

ISBN E-Book-Epub 978-3-86674-895-8

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über ‹http://dnb.dnb.de› abrufbar.

Für U. und H.,

wie immer.

Zur freundlichen Kenntnisnahme

durch den aufmerksamen Leser:

Alle Personen und Handlungen in diesem Roman

sind frei erfunden -

bis auf die, die gar nicht erst erfunden

werden mussten,

weil sie ohnehin schon unglaublich genug sind!

Allerdings möchte der Autor betonen,

dass er nie zu einem Abiturtreffen eingeladen war.

Demzufolge hat er auch nie bei einem solchen Anlass

seinen ehemaligen Klassenlehrer wiedergetroffen.

Und er hat auch nicht die leiseste Ahnung,

wie ein solches Treffen wohl ablaufen könnte -

die entsprechenden Szenen sind also vollständig

seiner schriftstellerischen Phantasie entsprungen.

Aussagen, die im Dialog gemacht werden,

geben im Übrigen nicht unbedingt

die Meinung des Autors wieder.

»Köpfe abschlagen ist nicht sehr klug.

Die Stecknadel, der man den Kopf abschlug,

fand, der Kopf sei völlig entbehrlich,

und war nun vorn und hinten gefährlich.«

Erich Kästner

1

Als Appaz den Mann mit dem Beil im Kopf sieht, ist es kurz nach ein Uhr nachts. Und natürlich hat Appaz zu-viel getrunken und verflucht jetzt jedes einzelne Bier des Abends. Bis auf die ersten zwei oder drei vielleicht, als noch alles in Ordnung war und er sich köstlich über die Geschichte amüsierte, die Kerschkamp gerade zum Besten gab. Wie er, Kerschkamp, beim Zahnarzt im Wartezimmer gesessen und eher zufällig einen Blick aus dem Fenster geworfen hatte, wo in eben diesem Moment ein Mann die Straße überquerte, mit einer Aufblaspuppe von Beate Uhse unter dem Arm, und zielstrebig die Tankstelle auf der gegenüberliegenden Seite ansteuerte. Um dann in aller Ruhe mit dem Reifenprüfgerät neue Luft in seine Puppe zu füllen, bis sie wieder prall und glatt war!

Die Geschichte ist gut gewesen, und Appaz hat noch gedacht, dass sie vielleicht als Anfang für einen Roman taugen könnte. Aber jetzt zweifelt er einen Moment lang daran, ob er jemals wieder einen Roman schreiben wird. Vielleicht landet er eher im nächsten Landeskrankenhaus in der geschlossenen Abteilung, wo er dann für den Rest seines Lebens weiße Mäuse zählt. Oder was auch immer ihm sein fortschreitendes Delirium sonst an Bildern vorgaukeln wird. Wenn das hier alles nicht wahr ist, denkt er noch, und ich hoffe, dass es nicht wahr ist, dann werde ich nie wieder einen Tropfen Alkohol anrühren, das schwöre ich bei allen Aufblaspuppen dieser Welt. Und ich werde den Teufel tun und irgendjemandem erzählen, dass ich tatsächlich für einen Moment geglaubt habe, nachts um kurz nach eins auf dem Weg zur U-Bahn einen Typen mit einem Beil im Kopf zu sehen.

Aber auch als er die Augen fest zusammenkneift und gleich darauf wieder aufreißt, hat sich die Szenerie nicht verändert. Der Kerl ist immer noch da, und das Beil steckt immer noch in seinem Kopf. Das Bild ist verdammt echt. Ein alter Mann, das erkennt Appaz jetzt ganz deutlich, die Schultern der Jacke dunkel vom Nieselregen, die nackten Füße in den ausgelatschten Filzpantoffeln unter der Schlafanzughose käsig weiß. Ein dünner Blutfaden zeichnet eine verschwommene Linie von der Stirn bis zum Kinn.

Das Beil wirkt wie ein schlechter Witz, aber es ist ohne jeden Zweifel da.

Appaz blickt sich um. Irgendwie hat er die vage Hoffnung, dass vielleicht Kerschkamp mit seinem Fahrrad noch mal umgedreht hat und jetzt zurückkommt, um ihm zu versichern, dass auch er den Alten mit dem Beil sieht. Aber Kerschkamp ist und bleibt verschwunden. Und auch sonst ist niemand zu sehen. Nur eine tote Taube liegt mit verdrehtem Hals im Rinnstein. Zögernd macht Appaz einen Schritt auf den Alten zu. Der Alte hebt die Hand, als wollte er winken. Irgendwo bellt ein Hund.

Der Hund hat schon vorher gebellt, daran kann sich Appaz erinnern. Aber vielleicht ist das auch ein anderer Hund gewesen, denkt er jetzt. Ich muss mich bemühen, dass ich nicht alles durcheinanderbringe. Es gibt mehr Hunde als nur einen. Und ein bellender Hund ist kein Beweis dafür, dass ich noch richtig ticke. Oder dass ich wirklich mit Kerschkamp in der Kneipe war. Obwohl es ihm andererseits keine Schwierigkeiten macht, sich den Ablauf des Abends ins Gedächtnis zu rufen. Wenn es denn so gewesen ist…

Sie haben wie üblich in ihrer Ecke neben dem Flipper gehockt, der schon außer Betrieb ist, seit Appaz sich mit Kerschkamp am ersten Freitag jeden Monats im »Voss« trifft. Und wie üblich war das Voss wieder brechend voll, nicht zum ersten Mal hat Appaz vorgeschlagen, dass sie sich vielleicht an einem anderen Tag treffen sollten. Aber Kerschkamp hat auf dem vor Jahren eher zufällig entstandenen Termin beharrt, als würde jede Veränderung den Bruch mit ehernen Prinzipien bedeuten.

»Wir brauchen irgendeine Konstante, kapierst du?«, hat Kerschkamp erklärt. »Irgendwas, was nicht in Frage gestellt werden kann, sonst geht alles den Bach runter. Und außerdem ist es auch einfacher so, Susanne hat sich dran gewöhnt und ich muss nicht jedes Mal neu diskutieren, ob es gerade passt oder nicht. Der Termin steht, und sie weiß, dass sie mir da gar nicht erst mit irgendwas Anderem zu kommen braucht.«

Susanne ist Kerschkamps Frau und bis auf das eine oder andere belanglose Gespräch bei irgendeiner Geburtstagsfeier kennt Appaz sie kaum. Im Stillen mutmaßt er ohnehin, dass Susanne nicht gerade begeistert ist von der Freundschaft zwischen ihm und Kerschkamp, wahrscheinlich hat sie Sorge, dass sein Einfluss Kerschkamp nicht unbedingt guttut. Aber wie auch immer sich Kerschkamp mit Susanne arrangiert, ist nicht Appaz’ Sache. Er ist sowieso der Letzte, der sich ein Urteil anmaßen kann, wenn es um Beziehungen geht, nicht umsonst lebt er jetzt schon seit bald drei Jahren wieder alleine.

Er und Kerschkamp haben jedenfalls ziemlich schnell hintereinander die ersten paar Bier getrunken, dann hat Kerschkamp sich »einmal Curry-Pommes« bestellt. Appaz hat keinen Appetit gehabt, obwohl das Voss für seine Currywurst berühmt ist. Sogar der Ex-Kanzler ist für diese Currywurst früher ins Voss gekommen, noch zu seinen Juso-Zeiten, böse Zungen behaupten, dass von damals auch seine Abneigung gegen Lehrer rührt. Der Ex-Kanzler kommt jetzt nicht mehr, die Lehrer sind geblieben. Genauso wie die Dozenten, Ärzte und Anwälte, die den Stadtteil schon für sich entdeckt haben, als die Fünf- und Sechszimmerwohnungen in den ehemals hochherrschaftlichen Häusern aus der Jahrhundertwende auch für Wohngemeinschaften noch bezahlbar waren. Geblieben ist auch die Einrichtung, die, wenn überhaupt, das letzte Mal renoviert worden ist, lange bevor der Ex-Kanzler hier seine erste Currywurst bekommen hat. Und genauso geblieben ist der barsche Umgangston, mit dem die Bedienung jedem, der nicht zu den Stammgästen gehört, seinen Platz an einem der langen Holztische zuweist, ohne irgendeinen Widerspruch zu dulden. Geduzt werden ohnehin alle, und wer es aus Mangel an Erfahrung nicht besser weiß und sein Bier am Tisch bezahlen will, wird unwirsch mit den Strichen auf dem Deckel zur Theke geschickt. Ein zweites Mal jedenfalls begeht keiner diesen Fauxpas. Seit kurzem hängt hinter der Theke eine Urkunde, die die Kneipe laut dem Londoner Guardian als »one of the best bars in Europe« ausweist: »A typical German pub with local beer and delicious pub classics such as Currywurst.«

Appaz’ Verhältnis zu dem Szenetreff ist eher gespalten, und als der Wirt Kerschkamp zu dessen fünfzigstem Geburtstag ausgerechnet hat, dass er im Laufe der Jahre bei ihm gut und gerne ein Reihenhaus in Bier umgesetzt hat, hat Appaz das bei weitem nicht so witzig gefunden wie der überwiegende Teil der anderen Gäste. Allerdings ist auch Kerschkamp bei dieser Eröffnung merklich still geworden, was aber dennoch nicht zu einer Reduzierung seines Bierkonsums geführt hat. Und, ehrlich gesagt, kann man im Voss auch kaum etwas anderes tun, als Bier auf Bier zu trinken, die Akustik ist lausig und gleicht der einer Bahnhofshalle, spätestens ab zwanzig Uhr versteht man in den hohen Räumen kaum noch sein eigenes Wort.

An den Freitagabenden kommt erschwerend hinzu, dass sich im Keller eine Rockband ihren Übungsraum eingerichtet hat, Lehrer des benachbarten Gymnasiums, die die Jahre bis zu ihrer Pensionierung zählen und sich so lange jeden Freitag aufs Neue mit respektabler Beharrlichkeit ausgerechnet an Songs wie »Dead End Street« versuchen. Meist aber scheitern sie schon am ersten Rhythmuswechsel, noch vor der Zeile »What are we living for?«.

Appaz erinnert sich, wie die Glasscheibe des Flippers im Rhythmus der Bässe gezittert hat. Und wie Kerschkamp sich den letzten Bissen Currywurst in den Mund geschoben und gegen den Lärm angebrüllt hat: »Ich muss dir überhaupt noch eine Geschichte erzählen, du, was mir neulich passiert ist…!«

Das war dann die Sache mit der Gummipuppe. Und Kerschkamp hat per Handzeichen noch mal zwei Bier geordert. Als kurz darauf die Bedienung kam und sich vorbeugte, um neue Kugelschreiberstriche auf ihre Deekel zu malen, brachte Kerschkamp seine Geschichte ein zweites Mal an. Diesmal allerdings war aus dem vorher nicht näher beschriebenen Mann ein Typ im Anzug geworden, der die Puppe aus dem Kofferraum seines Jaguars holte, »irgend so ein Banker oder Anwalt oder so was«, schrie Kerschkamp der Bedienung ins Ohr, und die Bedienung lachte und strich Kerschkamp im Weggehen wie zufällig über den Arm. Appaz ist sich nicht mehr so ganz sicher gewesen, was an Kerschkamps Geschichte nun eigentlich dran war. Außerdem hat er sich gefragt, ob Kerschkamp und die Bedienung sich womöglich besser kannten, als er bisher dachte.

Wenig später haben die Lehrer im Keller nach einer verunglückten Version von »Death of a Clown« endgültig aufgegeben. Nacheinander kamen sie durch die Hintertür ins Voss und quetschten sich dann mit ihren Bieren in die Ecke zu Appaz und Kerschkamp. Sie kennen sich schon länger, einer der Lehrer hat Appaz’ Tochter früher in Deutsch unterrichtet. Und einige Male hat es Appaz auch durchaus genossen, sich in irgendwelche Diskussionen über den desolaten Zustand des Bildungssystems verwickeln zu lassen. Heute allerdings hat er keine Lust auf die Mischung aus Wut und Verzweiflung und den zunehmenden Zynismus gehabt, mit dem die Lehrer versuchen, die letzten Jahre ihres Berufslebens zu überstehen.

Kerschkamp schien es ähnlich zu gehen, er hat Appaz einen kurzen Blick zugeworfen und sein Tabakpäckchen aus der Tasche geholt. Appaz hat sich vor ihm her zur Tür gedrängt.

Sie sind dann nicht die einzigen gewesen, die rauchend vor dem Voss auf dem Fußweg standen. Eine Frau nickte Appaz zu, er konnte sie beim besten Willen nicht einordnen, grüßte aber freundlich zurück. Kurz darauf hat er zum ersten Mal den Hund bellen gehört. Er erinnert sich jetzt auch, dass Kerschkamp noch irgendeinen Kommentar zu dem Bellen abgegeben hat. Vielleicht auch zu Hunden im Allgemeinen, zu herrenlosen Hunden, die einem nachts auf dem Rückweg aus der Kneipe plötzlich den Weg verstellen. Oder so ähnlich. Jedenfalls lehnte Kerschkamp an der Haus wand und laberte ohne Pause, als wollte er die durch die Lautstärke im Voss verlorengegangene Redezeit wieder wettmachen. Und er hat schon deutlich Mühe gehabt, die Konsonanten klar voneinander zu trennen.

Aber Appaz hat sowieso nur halb hingehört. Weil er sich ärgerte, nicht vor der Raucherpause noch mal pinkeln gegangen zu sein und jetzt überlegen musste, ob er sich wieder den langen Weg zurück durch die Menschenmassen bis zum Klo quetschen sollte.

Und dann hat Kerschkamp plötzlich gesagt: »Wir gehen da hin, du und ich. Wir beide. Und dann mischen wir den Laden mal so richtig auf.«

»Was? Wohin?«

»Habe ich doch eben erzählt! Ein Abitreffen, von unserem alten Jahrgang. Wo sie uns immer nicht einladen, du weißt schon. Aber diesmal hab ich den Termin im Netz entdeckt. Und wir gehen dahin, ist doch wohl klar!«

Appaz hat einen Moment gebraucht, bis er begriff. Ein Klassentreffen, dreiunddreißig Jahre nach dem Abitur, bei dem sie damals mit Pauken und Trompeten durchgefallen sind. Weshalb sie auch bisher nie eingeladen wurden, wenn ihre ehemaligen Mitschüler irgendein rundes Jubiläum feierten. Aber jetzt hatte Kerschkamp den Termin also in irgendeiner Leute-Such-Maschine entdeckt und war offensichtlich wild entschlossen, es ihnen allen heimzuzahlen.

»Ohne mich«, hat Appaz nach kurzem Zögern erklärt, »ich will da nicht hin.«

»Du musst! Alleine mache ich das nicht.«

Und dann hat Appaz so was wie einen Filmriss. Sie müssen wohl noch eine Weile mit den Lehrern zusammengesessen haben, Appaz meint sich undeutlich an eine hitzige Diskussion über die neue CD von Jack Bruce erinnern zu können, dass Robin Trower zwar ohne Frage ein exzellenter Gitarrist ist, aber kaum Raum für Jack Bruce selber lässt. Und dass solche Experimente ohnehin keinen Sinn machen, nachdem Bruce, Clapton und Baker ja mit ihrem Reunion-Konzert in der Royal Albert Hall bewiesen haben, dass nichts über die alten Songs von Cream geht, in der alten Besetzung! Später dann hat Kerschkamp sein Fahrrad neben Appaz hergeschoben, um ihn noch bis zur nächsten Ecke zu bringen. Es hat angefangen zu nieseln, Appaz hat sich den Reißverschluss seiner Lederjacke zugezogen, als Kerschkamp pinkeln musste, hat Appaz solange das Fahrrad gehalten. Und kurz vor ihrem Abschied hat Kerschkamp noch zu einem erleuchteten Fenster hinaufgezeigt und gesagt: »Weißt du noch? Da oben waren wir mal zusammen auf einer Fete! Das muss elfte Klasse oder so gewesen sein, mit den ganzen alten Leuten noch. Wäre doch vielleicht sogar ganz schön, die alle mal wieder zu sehen, oder? Also überleg es dir, Alter, ich rufe dich an!«

Damit hat er sich auf sein Rad geschwungen und ist in Schlangenlinien in die Fußgängerzone eingebogen.

Und Appaz hat den Mann mit dem Beil im Kopf gesehen.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragt Appaz. »Wohin wollen Sie?«

»Ich muss ins Krankenhaus«, stammelt der Alte und zeigt mit fahriger Hand auf das Beil.

»Klar«, sagt Appaz schnell und greift nach seinem Arm. »Kommen Sie, das Krankenhaus ist gleich da vorne, ich bringe Sie hin.«

Ignorier das Beil einfach, sagt er zu sich selbst, genauso wie den Blutfaden im Gesicht und die Schlafanzughose. Zumindest die Idee mit dem Krankenhaus macht Sinn. Ich hoffe nur, dass uns nicht ausgerechnet jetzt jemand entgegenkommt. Wahrscheinlich wirken wir nicht gerade vertrauenerweckend.

Aus dem gleichen Grund schiebt er auch sein Handy zurück in die Tasche. Das Risiko, irgendeiner Streifenwagenbesatzung eine Erklärung geben zu müssen, erscheint ihm deutlich zu groß. Stattdessen lenkt er den Mann in die richtige Richtung und führt ihn dann leicht am Ellbogen.

Der Mann schlurft neben Appaz her. Das Beil zittert bei jedem Schritt. Appaz’ Knie zittern ebenfalls. »Wie ist das passiert?«, fragt er leise.

»Meine Alte«, kommt mit leichter Verzögerung die Antwort. »Wir hatten Streit.«

»Klar«, sagt Appaz wieder. Er beugt sich unauffällig vor, um im Licht einer heftig blinkenden Schaufensterreklame den Aufdruck auf dem Stiel des Beils zu lesen. Ein Heimwerkermarkt, der mit der Aufforderung »Besorg’s dir selber« wirbt.

»Nur noch über die Straße, dann sind wir da …«

In der Wärmeschleuse zwischen den Eingangstüren hängt kalter Zigarettenrauch. Der Mann an Appaz’ Arm hustet.

»Nicht«, sagt Appaz mit besorgtem Blick auf das Beil und schiebt ihn weiter. Die Filzpantoffeln klatschen bei jedem Schritt mit einem schmatzenden Geräusch auf den Fliesenboden.

Der Pförtner sitzt mit gekrümmtem Rücken auf seinem Drehstuhl, den Kopf in die Hand gestützt. Mit leerem Blick starrt er auf den tragbaren CD-Spieler vor sich, eine Hörbuch-CD plärrt schlecht gebaute Dialoge. Die Stimme des einen Sprechers kommt Appaz vage bekannt vor.

»Ein Notfall«, erklärt Appaz. »Wir brauchen einen Arzt.«

Ohne aufzublicken klickt der Pförtner das Menü auf dem Bildschirm an.

»Name, Vorname, Anschrift, Geburtsdatum, Krankenkasse …«

»Ein Notfall«, sagt Appaz noch mal, »ich glaube, Sie sollten möglichst schnell einen Arzt holen.«

»Name und Vorname«, wiederholt der Pförtner automatisch und eindeutig genervt, während er bemüht ist, nur ja kein Wort von seiner Hörbuchgeschichte zu verpassen. Der Name des Sprechers ist Dietmar Bär, fällt Appaz unerwartet ein.

Er beugt sich durch das geöffnete Schiebefenster und drückt die Aus-Taste des CD-Spielers.

»Ich fürchte, Sie haben mich nicht ganz verstanden …«

Ärgerlich ruckt der Pförtner hoch. Er hat schon den Mund geöffnet für irgendeine scharfe Zurechtweisung, dann weiten sich seine Augen vor Schreck.

Appaz nickt. Da sind wir immerhin schon zwei, die sich erschreckt haben, denkt er. Und: Ich gönne dir deinen Schreck, du Sack!

»Damit müssen Sie rüber in die Notaufnahme«, stammelt der Pförtner. Als er Appaz’ Blick sieht, hebt er abwehrend die Hände. »Schon gut, ich rufe den diensthabenden Chirurgen …« Er greift zum Telefon. Während er auf die Verbindung wartet, irren seine Augen ziellos über die Schalter und blinkenden Lämpchen auf dem Pult vor ihm. Auf seiner Stirn bilden sich dicke Schweißperlen.

Er ist noch jung, denkt Appaz, und es wird nicht mehr lange dauern, bis er eine Glatze hat. Er überlegt, ob auch Pförtner als Ein-Euro-Kräfte eingestellt werden. Eher nicht, denkt er, aber jemand mit einer Behinderung ist wahrscheinlich im Vorteil gegenüber Nicht-Behinderten. Bleibt die Frage, ob eine Glatze mit Mitte Zwanzig bereits als Behinderung gilt. Ein Beil im Kopf ist dagegen mit Sicherheit eine ernstzunehmende Behinderung. Ich muss mich zusammenreißen, denkt Appaz. Verdammter Alkohol! Sowie die Sache hier geklärt ist, mach ich mich vom Acker. Ich will nur noch warten, bis der Arzt kommt. Fast hätte er gekichert. Bis der Arzt kommt. Das ist so ein Spruch, den er immer schon blöd gefunden hat: Trinken, bis der Arzt kommt …

Der Pförtner nuschelt etwas in den Hörer. Appaz versteht nur »Beil im Kopf«.

»Kommt gleich jemand«, erklärt der Pförtner an Appaz gewandt. Seine Stimme ist kaum mehr als ein heiseres Flüstern.

»Kommt gleich jemand«, gibt Appaz an den Mann mit dem Beil im Kopf weiter. Er greift wieder den Arm des Alten und führt ihn zu einem grell orangefarbenen Plastikstuhl. Aus den Augenwinkeln sieht er, wie der Pförtner aus seiner Loge stürzt und hinter der Tür mit der Aufschrift »Patienten-WC« verschwindet.

Er klopft dem Mann neben sich beruhigend auf die Schulter. Der Alte ist vielleicht noch gar nicht so alt. Appaz schätzt ihn auf Ende sechzig, vielleicht Anfang siebzig. Er hat jetzt die Augen geschlossen, seine Knie zittern unkontrolliert, er knetet die leberfleckigen Hände im Schoß.

Mach mir jetzt bloß nicht schlapp, denkt Appaz, und meint eigentlich eher sich selbst als den Alten. In der Pförtnerloge klingelt das Telefon.

Eine Ärztin kommt vom Fahrstuhl her durch die Halle. Die blonden Haare hat sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, statt des üblichen weißen Mantels trägt sie ein blaues Kittelhemd.

Appaz geht ihr entgegen.

»Ich bin die Neurochirurgin hier im Haus. Der Pförtner hat irgendwas gesagt, dass Sie nicht in die Notaufnahme …«

Appaz weist mit dem Kopf hinter sich.

Mit ein paar schnellen Schritten eilt die Ärztin an ihm vorbei. Als sie sich zu dem Mann mit dem Beil im Kopf bückt, sieht Appaz, wie sie hart schluckt. Aber ihre Augen versuchen, den Blick des Mannes auf sich zu ziehen, mit ihren Händen stoppt sie einen Moment das nervöse Auf und Ab seiner Knie. Ihre Hände sind überraschend groß und kräftig.

»Wir setzen Sie jetzt ganz vorsichtig in den Rollstuhl da drüben und dann …«

»Wieso wir?«, hakt Appaz sofort ein. »Ich …«

Die Ärztin wirft ihm einen schnellen Blick zu.

»Ich brauche Ihre Hilfe. Es ist niemand weiter da.«

Schulterzuckend holt Appaz den Rollstuhl. Das linke Vorderrad ist blockiert und zieht quietschend einen schwarzen Gummistreifen über den Fußboden.

Sie fassen den Mann mit dem Beil im Kopf unter den Achseln und hieven ihn auf den Sitz des Rollstuhls.

»Wer von Ihnen hat eigentlich diese unglaubliche Fahne?«, fragt die Ärztin.

»Ich, aber … also ich war den ganzen Abend in der Kneipe und dann, als ich zur U-Bahn wollte, da stand er da und … Aber ich gehe jetzt auch, ich muss los.«

»Nein.« Wieder der schnelle Blick. Die Augen der Ärztin sind von einem leuchtenden Blau, das kein Ausweichen zulässt »Ich brauche Sie noch.«

»Ich bin müde«, setzt Appaz noch mal an. Er blickt auf seine Uhr. »Es ist nach eins, und … ich bin betrunken. Ich muss jetzt los, wirklich.«

»Ich habe Kaffee auf der Station. Gerade frisch aufgesetzt.«

Keine Chance, denkt Appaz. Ich weiß nicht, wieso ich nicht trotzdem gehe, sie kann mir gar nichts, ich bin schneller draußen, als sie gucken kann. Aber sie hat irgendwas, was mich hier festhält. Und es ist lange her, dass mich jemand zum Kaffee eingeladen hat. Oder so. Egal. Auf zehn Minuten kommt es jetzt auch nicht mehr an.

Auf dem Weg zum Fahrstuhl rutscht dem Mann einer seiner Pantoffeln vom Fuß. Appaz schiebt ihn in das Netz, das von der Rückenlehne des Rollstuhls baumelt.

Die Ärztin spricht jetzt leise mit dem Alten, der angestrengt darüber nachzudenken scheint, wieso einer seiner Füße des Filzpantoffels beraubt ist. Als der Fahrstuhl anruckt, drückt sie beruhigend seine Hand.

Es scheint keine Frage zu sein, dass Appaz mit ins Behandlungszimmer kommt. Diesmal ist er es, der dem Mann gut zuredet, während die Ärztin dessen Ärmel hochstreift, um ihm irgendeine Spritze zu setzen.

»Er hat vorhin erzählt, dass er Streit mit seiner Frau gehabt hat«, berichtet Appaz in dem unklaren Versuch, sich nützlich zu machen. »Es scheint so, als hätte sie ihm das Beil …«Er macht eine hilflose Geste in Richtung des Altmännerschädels.

Die Ärztin nickt. Behutsam tastet sie mit den Fingern das Umfeld der Klinge ab. Als sie die Aufschrift auf dem Stiel des Beils sieht, verdreht sie die Augen. Dann rollt sie den Mann zum Röntgenzimmer.

Appaz wartet auf dem Gang. Und als die beiden zurückkommen, tappt er wie selbstverständlich hinter ihnen her, wieder in den Behandlungsraum.

Die Ärztin wirft einen Blick auf die Röntgenbilder. »Es scheint tatsächlich nur oberflächlich zu sein«, sagt sie mehr zu sich selber als zu Appaz. »Die Klinge ist im Knochen steckengeblieben. Soweit ich sehen kann, ist das Gehirn nicht verletzt. Obwohl er eigentlich komatös sein müsste, aber …«

Sie stellt sich vor den Alten und holt tief Luft. Dann zieht sie mit einem kurzen Ruck das Beil aus dem Schädel des Mannes. Der Alte zeigt kaum mehr Reaktion als ein unwillkürliches Zucken mit dem Hals.

Appaz guckt schnell woandershin und klammert sich an die knochigen Schultern unter dem feuchten Jackett, bis der Schwindelanfall vorbei ist.

»Er hat Glück gehabt«, sagt die Ärztin, als sie das Beil auf einen Tisch legt.

»Und … das war’s schon?«, fragt Appaz und merkt, wie seine Stimme zittert.

Ohne eine Antwort zu geben, beginnt die Ärztin, die Wunde zu vernähen. Appaz bewundert sie im Stillen. Das ist cool, denkt er, echt cool. Sollte ich mal ein Beil im Kopf stecken haben, möchte ich auch, dass sie es mir rauszieht. Ich sollte sie vielleicht nach ihrem Namen fragen.

Plötzlich ist ein Zivi da. Seine Augen flackern unsicher in einem Gesicht, das nach Schlaf schreit. Entweder ist er noch nicht lange dabei, denkt Appaz, oder er hat sich die halbe Nacht mit Gras zugedröhnt. Die Wolke, die den Zivi umgibt, lässt eher Letzteres vermuten.

Als die beiden anfangen, dem alten Mann die nassen Klamotten auszuziehen, geht Appaz wieder auf den Gang hinaus. Er überlegt, ob er die Gelegenheit nutzen und einfach verschwinden soll. Aber er will die Ärztin ja noch nach ihrem Namen fragen.

Nach einer Weile kommt der Zivi mit dem Bett. Appaz greift nach der Hand des Alten, die kraftlos über den Rand hängt, und legt sie ihm vorsichtig auf den Bauch.

»Also dann«, sagt er und nickt der Ärztin zu. »War nett, Sie kennengelernt zu haben.« Er wartet, bis der Zivi um die Ecke ist. »Ach ja, ich wollte noch fragen …«

»Gehen wir ins Arztzimmer«, unterbricht ihn die Ärztin. »Ich habe Ihnen ja einen Kaffee versprochen. Und den Papierkram müssen wir auch noch erledigen.«

Appaz folgt ihr. Unter der blauen Baumwollhose zeichnet sich deutlich ihr Slip ab. Auf der Rückseite des Kittelhemdes sind ein paar verwaschene Blutflecken.

Dann sitzen sie sich gegenüber an einem Schreibtisch, dessen Platte nahezu vollständig von irgendwelchen Papieren und einem Wirrwarr aus Arzneimittelpackungen, Rezeptblöcken und Werbekugelschreibern verschiedener Pharmafirmen bedeckt ist. Es regnet inzwischen stärker. Die Regentropfen lassen den Blick durch die Scheibe nach draußen verschwimmen und trommeln eintönig auf das Fensterbrett.

Die Ärztin dreht abwesend ihren Kaffeebecher zwischen den Händen. Appaz verbrennt sich gleich mit dem ersten Schluck die Zunge, lässt sich aber nichts anmerken, sondern zieht sich nur die Jacke auf und streckt die Beine aus. Der Schirm der Schreibtischlampe ist gegen die Wand gedreht. Eine Kinderzeichnung hinter Glas zeigt ein Mädchen im Krankenbett; die Sternschnuppe, die am oberen Bildrand für immer festhängt, ist leuchtend gelb.

Appaz würde gerne rauchen. Er räuspert sich.

»Das ist mir auch noch nicht passiert«, sagt die Ärztin im selben Moment. »Aber neulich hatte ich zwei junge Männer, beide Fixer, beide schwul. Der Eine hatte dem Anderen ein Messer in den Hals gerammt, irgendeine Eifersuchtsgeschichte. Aber dann hat er Angst gekriegt, dass er ihn umgebracht hat, und ist mit ihm hierhergekommen. Mit einem blutdurchtränkten Küchenhandtuch auf der Wunde.«

»Und?«

»Zum Glück hatte er nicht die Ader getroffen.«

Sie lacht. Dann beugt sie sich vor und streckt Appaz die Hand hin.

»Darleen.«

Für einen kurzen Augenblick ist er irritiert. Aber Darleen klingt nicht nach einem Nachnamen.

»Kurt«, sagt er also und schüttelt die ausgestreckte Hand. Nur um seine eigene gleich darauf zurückzuziehen und hektisch in der Innentasche seiner Lederjacke nach einer Autogrammkarte zu suchen.

»Auf der Rückseite steht meine Homepage«, sagt er. »Und E-mail und alles.«

Die Ärztin blickt auf das Foto und zurück zu Appaz.

»Sie sind das also. Ich kenne einen Roman von Ihnen. Hat Spaß gemacht, ihn zu lesen. Aber dass ich jetzt hier plötzlich mit Ihnen sitze, hätte ich nie gedacht!«

»Mit dir«, korrigiert Appaz. »Darleen und Kurt. Du hast damit angefangen, nicht ich.«

»Kurt«, wiederholt die Ärztin lachend. »Gut. Gerne.«

Appaz überlegt, ob er fragen soll, welchen Roman sie gelesen hat. Aber die Frage erscheint ihm plötzlich zu heikel. Er will es gar nicht so genau wissen, vielleicht würde sie etwas sagen, was ihm nicht gefällt. Lass es langsam angehen, denkt er, ich weiß ohnehin gar nicht, was das hier werden soll…

Mit sicherem Griff fischt die Ärztin jetzt eine Zigarettenschachtel aus dem Chaos auf ihrem Schreibtisch. Der Aschenbecher ist in der obersten Schublade versteckt und müsste dringend geleert werden.

Sie hält Appaz die Schachtel hin.

»Ich dachte, Ärzte rauchen nicht«, sagt Appaz.

»Ärzte trinken auch zu viel, die meisten jedenfalls.«

Appaz nickt. »Schriftsteller auch. Fallada soll angeblich 140 Zigaretten am Tag geraucht haben. Und Jack London hat nur deshalb morgens um vier schon zu schreiben angefangen, weil er unbedingt tausend Worte geschafft haben wollte, bevor er sich den ersten Whiskey genehmigte, so gegen acht dann.«

Du redest Blödsinn, denkt er gleichzeitig, was um alles in der Welt laberst du da? Doch dann erzählt er auch noch von Erich Kästner, der ebenfalls Kettenraucher war und grundsätzlich nicht vor zwei Uhr mittags aufstand, weil er jede Nacht in der Kneipe verbrachte. Aber wenigstens die Geschichte von Brendan Behan spart er sich, der seine Schreibmaschine gleich auf der Theke aufgebaut hatte und zwischendurch gerne auch mal ins Spülbecken kotzte.

Die Ärztin lässt ihr Feuerzeug aufflammen. Unter ihren Augen sind dunkle Schatten, die Appaz vorher nicht bemerkt hat.

Als es an der Tür klopft, schrecken beide hoch. Der Zivi stammelt irgendwas, dass der Alte wieder bei sich ist und unbedingt nach Hause zu seiner Frau will.

Die Ärztin drückt ihre Kippe aus.

»Ich muss mich kümmern«, sagt sie zu Appaz.

»Und der Papierkram?«, fragt Appaz. »Soll ich hier warten?«

Die Ärztin schüttelt den Kopf.

»Schlaf dich aus. Und nimm eine Aspirin, bevor du ins Bett gehst, damit du morgen ein paar zusammenhängende Sätze aufs Papier bringst.«

Dann ist sie auch schon zur Tür raus.

Appaz steht einen Moment unschlüssig vor ihrem Schreibtisch, bevor er nach einem Kugelschreiber greift und seine Handynummer auf der Autogrammkarte notiert. »Ich würde mich freuen«, schreibt er dahinter, »K.«

Der Pförtner guckt schnell weg, als Appaz aus dem Fahrstuhl kommt.

Draußen regnet es immer noch. Am Eingang zur UBahn-Station zögert Appaz einen Moment. Dann entschließt er sich, zu Fuß zu gehen. Wahrscheinlich ist die letzte U-Bahn ohnehin längst weg, denkt er, und es ist lange her, dass du nachts alleine durch die Stadt gelaufen bist, wird mal wieder Zeit für einen ordentlichen Fußmarsch. Und deinem Kopf kann es nur gut tun, Alter.

Genres und Tags

Altersbeschränkung:
0+
Veröffentlichungsdatum auf Litres:
26 Mai 2021
Umfang:
362 S. 4 Illustrationen
ISBN:
9783866748958
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