Der Junge, der mit Jimi Hendrix tanzte

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

3

Das Abiturtreffen findet im ehemaligen Landschulheim des Gottfried-Wilhelm-Gymnasiums statt, in einem Kaff an der Südseite des Deisters, gut dreißig Kilometer von Hannover entfernt. Appaz erinnert sich vor allem an endlose Wanderungen über matschige Waldwege, labberige Graubrotscheiben mit irgendeinem undefinierbaren Aufstrich und den kasernenähnlichen Schlafsaal direkt über den Klos, mit den zwei Reihen von jeweils zwanzig Doppelstockbetten. Allein der Schlafsaal war schon eine Zumutung, denkt Appaz, wir waren nichts als kleine Jungen damals, aber sie haben uns behandelt wie Zöglinge einer Besserungsanstalt. Wahrscheinlich stammt aus dieser Zeit auch meine Abneigung, irgendwo anders als zu Hause zu übernachten …

Zu jedem Bett hatte eine kratzige Decke aus alten Wehrmachtsbeständen gehört, über die sie das mitgebrachte Bettzeug ziehen mussten. Viel schlimmer für Appaz aber waren die nesselfarbenen Leinenschlafsäcke gewesen, die sie »aus hygienischen Gründen« zusätzlich zu benutzen hatten und die mit eigens dafür vorgesehenen Bändern an den vier Bettpfosten befestigt wurden. Appaz hatte sich in diesen Schlafsäcken immer gefühlt, als würde er in einer Zwangsjacke stecken. Wenn nachts die Bettdecke verrutscht war, wachte er gegen Morgen zitternd vor Kälte auf und lag dann schlaflos, bis Frau Bolle die Glocke zum Wecken läutete.

Frau Bolle war die Heimleiterin gewesen, sie hatte einen Pudel gehabt, der auf einer Wolldecke in der Küche im Kellergeschoss lebte, wo Frau Bolles Mutter in einer lilablauen Kittelschürze unermüdlich Kartoffeln schälte. Frau Bolles eigene Kittelschürze war weiß gewesen und hatte über ihrem Busen weit auseinandergeklafft, die Träger ihres BHs schnitten tief ins Fleisch.

Frau Bolle hatte auch die Enten gefüttert, die auf dem Teich zwischen Fußballplatz und Berghang schwammen. Angeblich maß der Teich an seiner tiefsten Stelle über 50 Meter, wenn Appaz und die anderen Steine in das brackige Wasser geworfen hatten, waren stinkende Blasen aufgestiegen, es gab das Gerücht, dass vor Jahren mal eine Kuh in diesem Teich ertrunken war. Im »Merkblatt für den Aufenthalt im Landheim«, das sie in der Unterstufe jedes Mal vor Beginn der Fahrt auswendig lernen mussten, hatte gestanden: »Wir wollen den Teich nicht als Schwimmbad benutzen. Wir wollen nicht Steine oder andere Gegenstände hineinwerfen. Wir wollen die Tiere am Teich und auf dem Grundstück nicht necken oder reizen, sondern uns an ihrem Anblick erfreuen«.

Die einzigen Tiere, die sie jemals zu sehen bekommen hatten, waren außer den Enten in ihrem mit einer mehrere Zentimeter dicken Schicht aus Scheiße und Federn bedeckten Holzhaus die Ratten gewesen, die unter dem alten Schweinestall am Ende des Grundstücks lebten, in der Dämmerung aus einem Loch in der Mauer gehuscht kamen und sich auch durch gezielte Steinwürfe nicht vertreiben ließen.

Der Aufenthalt im Landschulheim hatte immer sieben Tage gedauert, von Mittwoch bis Mittwoch, am Sonntag war ab 14 Uhr Besuchszeit für die Eltern, vorher gab es grundsätzlich Hühnerfrikassee. Einmal hatte Buchmann ein altes Pflaster zwischen den Fleischstücken gefunden.

In der sechsten Klasse war Appaz krank geworden. Bereits lange vor der Zeit hatte er am Sonntag mit fiebrig verschwitztem Kopf an der Einfahrt zum Parkplatz gewartet, seinen Rucksack schon fertig gepackt vor dem Spind im Schlafraum. Als der Käfer mit seiner winkenden Mutter hinter dem Seitenfenster in Sicht kam, hatte er Mühe gehabt, nicht einfach loszuheulen. Am Abend durfte er mit seinen Eltern nach Hause. Sein Vater hatte allerdings eindeutig den Verdacht gehabt, dass Appaz in Wirklichkeit gar nicht krank war, sondern Heimweh hatte, und auf der Rückfahrt kein Wort mit ihm gesprochen.

Während Kerschkamp den Volvo über die kurvige Landstraße prügelt, versucht Appaz, den Gedanken an die Sache mit Rockenbauch zu verdrängen. Kerschkamp geht es ähnlich, das weiß er. Aber solange Kerschkamp nicht von Rockenbauch anfängt, wird auch er nichts sagen.

Stattdessen nehmen sie sich in stiller Übereinstimmung einen Lehrer nach dem anderen vor. Den Sportlehrer, der quer durch die Turnhalle mit dem Schlüsselbund nach vermeintlichen Störenfrieden warf. Den Geschichtslehrer, der mit seiner prallgefüllten Aktentasche zuschlug, wenn man ihm auf dem Gang nicht schnell genug Platz machte. Den Musiklehrer, bei dem Appaz Stunde um Stunde in der Ecke hatte stehen müssen, weil er angeblich »frech« guckte.

»Manchmal habe ich dir Gesellschaft geleistet«, meint Kerschkamp grinsend. »Obwohl ich mich, im Gegensatz zu dir, nicht mal geweigert habe, Blockflöte zu spielen.«

Sie haben keinerlei Mühe, sich die Riege der damals schon alten Herren in ihren dunklen Anzügen oder den mit Säureflecken übersäten Chemiekitteln ins Gedächtnis zu rufen, vor denen sie vom ersten bis zum letzten Schultag eigentlich immer nur Angst gehabt hatten.

»Aber am schlimmsten war Frau Dr. A.!«, erklärt Kerschkamp, während er dazu ansetzt, mitten in einer Kurve und unter gnadenlosem Einsatz der Hupe einen Trecker zu überholen. »Du weißt schon, die alte Schachtel mit ihrer gestärkten Bluse und dem Faltenrock. Ich bin bloß froh, dass wir sie nie hatten. Die hätte uns echt noch gefehlt!«

»Mir hat sie gleich am ersten Tag eine gescheuert, weil ich gerannt bin«, sagt Appaz.

Kerschkamp nickt. »Ich erinnere mich. Außerdem erzählst du das jedes Mal. - Alle gestört und pervers«, stellt er gleich darauf fest, während der Volvo über die Grasnarbe schlingert. »Oder Alt-Nazis oder beides! Ein Panoptikum professionell deformierter Säcke, von denen jeder Einzelne seine perverse Freude daran hatte, Schüler kaputtzukriegen. Das dürfen wir nie vergessen!«

»Das vergesse ich auch nicht, da kannst du dir sicher sein.«

»Das meine ich.«

Während Kerschkamp mit jaulendem Motor die Passstraße über den Deister in Angriff nimmt, überlegen sie, ob irgendeiner der Lehrer wohl zum Abiturtreffen kommen wird.

»Von den Alten ganz sicher keiner mehr«, sagt Kerschkamp. »Die waren ja damals schon mehr tot als lebendig! - Mann, überleg dir mal«, setzt er dann unvermittelt hinzu, »die anderen, die uns dann später fertiggemacht haben, diese Bande von hilflosen Technokraten, wie alt werden die damals wohl gewesen sein?«

»Jünger als wir heute jedenfalls«, sagt Appaz. »Und so hilflos waren sie gar nicht.«

Kerschkamp blickt zu Appaz hinüber.

»Du denkst an den Klassenlehrer, richtig? Du weißt, dass er später Dezernent bei der Bezirksregierung geworden ist, oder? Nach oben weggelobt, so einfach geht das.«

Appaz nickt nur, ohne etwas zu sagen.

»Er müsste inzwischen pensioniert sein«, überlegt Kerschkamp. »Eigentlich wünsche ich mir fast, dass er da ist«, setzt er dann hinzu.

Appaz sagt immer noch nichts.

Als sie durch das Dorf fahren, in dem das Landschulheim ist, zeigt Kerschkamp auf einen Netto-Markt.

»Da war früher so ein kleiner Laden, weißt du noch? Wo wir immer hin sind und geklaut haben wie blöd. Und der Typ hat nie was gemerkt, auch wenn wir soviel Zeug unter unsere Jacken gestopft hatten, dass wir kaum an der Kasse vorbeikamen, ohne die Hälfte zu verlieren.«

»Da geht’s runter«, sagt Appaz, als die Einfahrt zum Landschulheim in Sicht kommt.

»Weiß ich. Ich war neulich mal hier, mit Susanne und den Kids.«

»Du warst hier?«, fragt Appaz verblüfft.

»Ich wollte ihnen das nur mal alles zeigen«, sagt Kerschkamp fast entschuldigend. »Und danach sind wir zum Nordmannsturm hoch gewandert. Fast wie früher. Aber wusstest du eigentlich, dass da oben im Wald ein Kinderfriedhof ist? Wusste ich gar nicht. Hab ich neulich erst gesehen. Ist aber schon alt.«

»Ich kann mich erinnern. Ratte hat mal irgendwann behauptet, das wären die Gräber von Schülern, die das Landheim nicht überlebt hätten.«

»Sehr witzig«, sagt Kerschkamp grinsend und steuert den Volvo vorsichtig um die Schlaglöcher in der Einfahrt herum. Als wollte er plötzlich die Zeit verlängern, bis sie da sind.

Aus den Autolautsprechern kommen die ersten Takte von »Lola«.

»Passt«, sagt Kerschkamp, »haben wir damals auch gehört, als wir hergefahren sind. In der Achten, glaube ich.«

»In der Neunten«, sagt Appaz. »Erst >Let it be< und dann >Lola<.«

Kerschkamp tritt auf die Bremse und hält an. Der Volvo dieselt im Leerlauf vor sich hin.

»Well Fm not dumb but I can’t understand, why she walked like a woman und talked like a man, oh my Lola«, singt Kerschkamp wie abwesend mit, während er auf dem Lenkrad den Takt trommelt. »La-la-la-la Lola …«

»Jetzt fahr schon weiter«, sagt Appaz. »Oder wir drehen gleich wieder um und machen, dass wir wegkommen hier.«

»Nichts da!«

Kerschkamp haut den Gang rein und fährt mit schleifender Kupplung los. Ein handgemalter Zettel mit einem »P« und einem Pfeil zeigt in Richtung Fußballplatz, der mit rotweißem Flatterband umspannt ist und für das Treffen offensichtlich als Parkplatz dient. Weder vor dem Landschulheim noch auf dem Parkplatz ist irgendjemand zu sehen. Aber der Parkplatz steht voll mit Autos.

»Wir sind wieder mal die Letzten«, sagt Kerschkamp. »Wie früher!« Er rangiert den Volvo in eine Lücke zwischen einem Golf »Rolling Stones« und einem Honda oder Toyota.»Nach den Autos zu urteilen, haben sie es ja nicht besonders weit gebracht«, stellt er dann irgendwie befriedigt fest.

Sie stiegen aus.

Appaz zeigt auf einen Audi-Geländewagen, der quer über zwei Plätze geparkt ist. »Guck mal da«, sagt er. »Von wegen aus den Leuten ist nichts geworden. Da stehen mal eben 80 000 Euro in der Gegend rum.«

»Wahrscheinlich der Rechtsanwalt«, nickt Kerschkamp. »Mann, Mann«, regt er sich dann kopfschüttelnd auf, »solche Karren gehören doch echt verboten! Und damit fahren die Typen dann zum Brötchenholen und halten jeden, der zu Fuß unterwegs ist, für einen Penner! - Wollen wir nicht mal gucken, ob er vielleicht vergessen hat, die Handbremse anzuziehen? Dann könnten wir die Karre einfach zum Teich runterrollen lassen und zack, weg mit dem Teil!«

 

Appaz grinst und zieht Kerschkamp mit sich. Sie gehen ein Stück am Teich entlang in Richtung Terrasse, von wo jetzt auch Stimmen zu hören sind.

Plötzlich bückt sich Kerschkamp und hebt einen Stein auf. Er holt aus und zielt auf das Entenhaus. Mit einem dumpfen »Plop!« trifft der Stein auf das Holz. Zwei Enten fliegen schnatternd hoch.

»Was ist denn mit dir los?«, fragt Appaz irritiert.

»Wollte ich schon immer mal. Früher, meine ich. Weißt du noch, dieses Merkblatt, dass sie uns damals gegeben haben? - Wir wollen keine Steine in den Teich werfen, ihn nicht als Schwimmbad benutzen und die Tiere an seinem Ufer nicht necken oder reizen …«

»Wir wollen die Stühle nicht unnötig über das Linoleum schurren und den Anweisungen des Lehrer jederzeit und unverzüglich Folge leisten«, zitiert Appaz aus dem Gedächtnis.

»Es ist ärgerlich und beschämend, vom Landheimaufenthalt ausgeschlossen und nach Hause geschickt zu werden«, macht Kerschkamp weiter. »Scheiße, was? Als wäre es gestern gewesen!«

Er zuckt mit den Schultern und stiefelt auf die Terrasse zu. Aber schon nach wenigen Metern bleibt er wieder stehen. Er dreht sich zu Appaz um.

»Der alte Schuppen ist weg. Aber war ja klar, war ja auch nicht mehr viel von übrig, nachdem …«

»Klar«, unterbricht ihn Appaz. »Aber irgendwas haben sie da wieder hingebaut, was ist das?« Er kneift die Augen zusammen, um den hölzernen Verschlag unterhalb der Turnhalle besser erkennen zu können. »Sieht aus wie … ein Vogelkäfig, oder was haben sie da jetzt?«

»Mann, Mann«, erwidert Kerschkamp grinsend, »du wirst langsam älter, was? Deine Augen sind auch nicht mehr das, was sie mal waren.«

»Sagte der Einäugige zum Blinden«, frotzelt Appaz. Kerschkamps Glasauge ist ein alter Witz zwischen ihnen.

Aber diesmal antwortet Kerschkamp ganz ernst. »Ich danke dem lieben Gott heute noch für die Erfindung von ovalen Glasaugen statt dieser runden Murmel, die ich früher hatte«, sagt er. »Die kaputten Reste von meiner Heino-Brille habe ich übrigens immer noch«, setzt er dann hinzu. »Liegen bei mir in der Schreibtischschublade. Genauso wie ich sie damals aus dem Dreck geklaubt habe. Du weißt schon, als …«

»Ich weiß.«

»Muss irgendwo hier gewesen sein.«

Kerschkamp kickt einen Kieselstein über den Weg.

»Ein paar Meter weiter da rüber«, sagt Appaz. »Bei der Gedenktafel da. Ich weiß, dass ich mit dem Kopf fast an dem Stein gelegen habe.«

»Was steht da überhaupt? Kann ich mich gar nicht mehr dran erinnern …«

Kerschkamp beugt sich vor, um die eingemeißelten Buchstaben auf dem verwitterten Stein zu lesen.

»Das Landschulheim ist im Aufbau des Schulwesens eine Stelle, an der das Zusammenwirken von Schulleitung, Lehrerschaft und Elternbeiräten sich wohl am gesündesten zu entfalten vermag«, murmelt er halblaut vor sich hin. »Darin wird für alle, die mit beruflicher Verantwortung oder familiärer Liebe und Sorge auf die Jugend blicken, ein Gewinn beschert sein. Bundespräsident Theodor Heuss. - Unglaublich, Mann«, sagt Kerschkamp kopfschüttelnd. »Und so einen Scheiß lassen sie einfach stehen! Wenn schon, hätten sie doch wenigstens irgendwas für Rockenbauch danebenschreiben müssen, oder?«

»Und was?«, fragt Appaz. »Dass ihre ganze berufliche Verantwortung und die familiäre Liebe und Sorge nichts genützt haben?« Er merkt selbst, wie bitter seine Stimme klingt.

»Zum Beispiel«, nickt Kerschkamp. »Das wär’s doch mal gewesen.«

Ohne etwas zu erwidern, geht Appaz zu dem Verschlag hinüber, den er aus der Entfernung für eine Voliere gehalten hat. Irritiert guckt er auf das Pelzknäuel hinter dem Drahtgitter, das aus dunkel umrandeten Augen zurückstarrt und dann fauchend eine Reihe spitzer Zähne zeigt.

»Ein Waschbär«, sagt Kerschkamp, der hinter ihn getreten ist. »Ich hab neulich ein paar gute Fotos von dem Vieh gemacht, als ich hier war. Und die Kids waren völlig begeistert. Natürlich will der Kleine jetzt auch einen Waschbären haben, für zu Hause! - Sag mal«, fragt er dann unvermittelt, »seit wann kannten wir Rockenbauch eigentlich? Seit der Siebten erst, oder?«

Appaz nickt.

»Er war einer von den Sitzenbleibern, die damals zu uns in die Klasse gekommen sind.«

»Eigentlich auch irgendwie ein komischer Typ«, sagt Kerschkamp. »Irgendwie ziemlich durch den Wind, fand ich jedenfalls immer. Schon gleich zu Anfang …«

Von der Terrassentür ruft jemand nach ihnen.

»Kennst du den?«, fragt Kerschkamp. »Ich nicht. Nie gesehen.«

»Geh schon mal vor«, meint Appaz und holt sein Handy aus der Tasche. »Ich komme gleich.«

»Ich warte«, erklärt Kerschkamp. Er fängt an, sich eine Zigarette zu drehen.

Appaz entfernt sich ein paar Meter, bis ihm das Waschbärengehege genügend Schutz gibt, dann tippt er Darleens Nummer. Ist doch egal, denkt er, ich will nur mal kurz ihre Stimme hören, auch wenn sie das vielleicht komisch findet. Ich kann ja einfach sagen, dass ich jetzt auf dem Klassentreffen bin, aber nicht lange bleiben werde. Und ob sie vielleicht noch einen Kaffee mit mir trinken will, wenn ich zurück bin …

Aber es meldet sich nur Darleens Mailbox. Appaz spricht keine Nachricht auf das Band.


Als Appaz in die siebte Klasse kam, musste er zwischen Latein- und Französischzweig wählen. Nach einer Informationsveranstaltung in der Aula, bei der der Latein- und Sportlehrer Zint ein begeistertes Plädoyer für »die Lateiner« hielt, entschied Appaz’ Mutter, dass Latein ihrem Sohn im späteren Leben deutlich bessere Chancen ermöglichen würde. Gemeinsam büffelten sie dann auch Vokabeln, und solange Appaz Sinnsprüche wie »ora et labora« auswendig lernen durfte, schien alles gut zu laufen. Aber bereits gegen Ende des Schuljahres musste er bei dem älteren Sohn eines Kollegen seines Vaters Nachhilfe bekommen. Damit war zwar fürs Erste die drohende Fünf im Zeugnis abgewendet, aber dieser Kollegensohn war es dann auch, der Appaz regelmäßig die neuesten Beatles-Hits vorspielte. Ein Nebeneffekt, der Appaz’ Eltern besorgt aufhorchen ließ, als er ihnen beim Abendessen offenbarte, dass George Harrison mit Sicherheit der beste Gitarrist der Welt sei, Paul McCartney der beste Bassmann und Ringo Starr folgerichtig der beste Schlagzeuger. Von John Lennon hielt der Kollegensohn nicht ganz so viel, weshalb Appaz auch kein näheren Angaben zu Lennons eventuellen Qualitäten machen konnte.

Aber von jetzt an hörte er jeden Samstagabend die Internationale Hitparade und gelangte schnell zu der Überzeugung, dass es neben »Mama« von Heintje vielleicht doch noch etwas anderes gab, auch »Heidschi Bumbeitschi« konnte mit »Eloise« und »In the Year 2525« eindeutig nicht mithalten. Appaz’ Mutter bedauerte diese Entwicklung sehr, Appaz’ Vater untersagte kurzerhand den offensichtlichen Missbrauch des guten Philips-Radios. Da er aber ohnehin häufig genug sogar samstags bis weit in den Abend in der Versicherung am Aegidientorplatz unaufschiebbare Akten zu bearbeiten hatte, lernte Appaz auch die Kinks kennen, die Stones, die Bee Gees. »In the Ghetto« allerdings schien ihm eine ähnliche Schnulze zu sein wie die Lieder von Heintje oder Peter Alexander - womit er den zaghaften Versuch seiner Mutter, sich mit Elvis’ Hilfe vielleicht doch nach und nach noch an die »neue Musik« zu gewöhnen, von vornherein zum Scheitern verurteilte.

In der Schule schmückten sie ihr Klassenzimmer mit einem Foto von Shocking Blue, das Buchmann mitgebracht hatte. Aufgeregt kommentierten sie den extrem kurzen Minirock der Sängerin - beziehungsweise das, was auf dem Bild unter dem Minirock gerade so eben nicht mehr zu sehen war -, als der neue Klassenlehrer in den Raum gestürmt kam. Er unterrichtete sie in Deutsch und Mathe und war noch Assessor, ein großer, breitschultriger Mann mit teigiger Haut und dunklen Bartstoppeln an Kinn und Wangen, der tagein tagaus dasselbe hellgrüne Jackett zu der beigefarbenen Hose und den braunen Halbschuhen trug. Er hieß Breitung, aber schon nach den ersten Wochen nannten sie ihn unter sich nur noch den »Klassenlehrer«, weil er nicht müde wurde zu betonen, dass eine neue Zeit angebrochen sei und damit endlich auch der Arbeiterklasse der Einzug in die Gymnasien möglich gemacht werde.

»Ich sehe meine Aufgabe darin, mit aller Kraft die Ausbildung der Arbeiterklasse voranzutreiben. Die Arbeiterklasse steht für Fortschritt und Zukunft, es gilt jetzt, mit den verknöcherten Bildungsstrukturen in diesem Land endgültig aufzuräumen«, hatte er gleich in der ersten Stunde mit schnarrender Stimme verkündet. Wovon genau er eigentlich sprach, war Appaz und den anderen nicht klargeworden. Aber offensichtlich hielt der Klassenlehrer ausgerechnet Buchmann für ein Mitglied der Arbeiterklasse und fing unverzüglich an, Buchmanns bislang nicht erkannte Talente zu fördern.

Vielleicht hatte es damit zu tun, dass Buchmann außer Fußballspielen kaum irgendwelche Interessen hatte und generell einen eher weniger intelligenten Eindruck hinterließ. Dass der Vater von Buchmann in der gleichen Versicherung arbeitete wie Appaz’ Vater, schien der Klassenlehrer nicht zu wissen. Genauso wenig wie er offensichtlich wusste, dass Kerschkamps Vater bei VW am Band arbeitete und seinen Sohn erst gar nicht aufs Gymnasium hatte gehen lassen wollen. Ab sofort jedenfalls war es Buchmann, der für jede auch nur im Ansatz richtige Antwort überschwänglich gelobt wurde und schon in der ersten Deutscharbeit eine glatte Zwei schrieb. Appaz rutschte mit einem »Thema verfehlt« auf Fünf.

Jetzt aber stürmte der Klassenlehrer in den Raum, erfasste mit einem Blick die Situation und riss das Shocking-Blue-Plakat von der Wand. Buchmann meldete sich zögerlich auf die Frage, wer für »diese Sauerei« verantwortlich gewesen sei. Der Klassenlehrer kniff die Lippen zusammen. Sie warteten gespannt, welche Strafe Buchmann nun ereilen würde.

»Da ihr alle mitgemacht habt«, schnarrte der Klassenlehrer mit rotem Kopf, »werdet ihr es sicher auch nicht als ungerecht empfinden, wenn wir jetzt unangekündigt ein Diktat schreiben. - Buchmann ist davon befreit, da seine Ehrlichkeit Respekt verdient.«

Zur nächsten Deutschstunde erschien der Klassenlehrer dann mit einem Werbeplakat der Stadt Hannover, das er Buchmann sorgfältig an die Wand hängen ließ: »Hannover - Großstadt im Grünen« lautete der Text.

Es war Rockenbauchs Idee, das Poster von Shocking Blue, das er in der Pause aus dem Papierkorb gefischt hatte, wieder aufzuhängen - genau an die Stelle des Hannover-Plakats, mit dem sie dann einige Tage lang jedes Mal kurz vor der Deutschstunde die schockierende Minirock-Ansicht von Mariska Veres schnell wieder verdeckten. Bis Gnuschke, den sie jetzt in Erdkunde hatten, die sofortige Entfernung des anstößigen Posters forderte. Daraufhin hängte Rockenbauch das Poster vor der nächsten Erdkundestunde so weit oben an die Wand, dass Gnuschke unmöglich heranreichen konnte, um es selber wieder abzunehmen. Frech behauptete Rockenbauch, auch von den Schülern sei niemand groß genug dazu.

»Und einen Stuhl auf den Tisch stellen geht nicht, weil das zu gefährlich ist«, erklärte er ganz ernsthaft, »das ist sogar verboten, so was! Wenn einer von uns runterfällt und sich den Hals bricht, sind Sie als Lehrer dran.«

Für dieses erstmalige Auf lehnen gegenüber einem Lehrer wurde Rockenbauch von den anderen ehrlich bewundert. Für Gnuschke schien er ohnehin ein hoffnungsloser Fall zu sein, bei dem jeder erzieherische Ansatz zum Scheitern verurteilt war. Rockenbauch bekam also prompt einen Eintrag ins Klassenbuch und wurde fortan einfach ignoriert. Er war eben einer der »Sitzenbleiber«, von denen nichts zu erwarten war und fertig.

Rockenbauch war zu Beginn des Schuljahres mit zwei oder drei anderen Sitzenbleibern in ihre Klasse gekommen und zufällig auf dem Platz neben Appaz gelandet. Appaz fand ihn vom ersten Moment an sympathisch. Zwar spielte Rockenbauch gerne den Klassenclown und nahm sich als solcher auch weiterhin Kommentare gegenüber den Lehrern heraus, die sich sonst niemand traute, aber eigentlich war er gar kein schlechter Schüler, und Appaz fragte sich, wieso er überhaupt sitzengeblieben war. Außerdem wusste Rockenbauch ein paar Sachen, von denen weder Appaz noch Kerschkamp bisher gehört hatten. Vor allem, wenn es um Musik ging. Rockenbauch kannte alle Bands, die es gab, und einmal nahm er Appaz und Kerschkamp nach dem wöchentlichen Schwimmunterricht im Goseriede-Bad mit in einen Schallplattenladen und spielte ihnen in der »Hörkabine« eine neue Band vor: Led Zeppelin! Appaz und Kerschkamp stimmten ihm zu, dass die Musik von Led Zeppelin tatsächlich »irre« sei, ganz ehrlich aber fand Appaz nach wie vor die Beatles deutlich besser. Er hatte sich gerade seine erste Schallplatte gekauft, das weiße Album, mit »Ob-la-di Ob-la-da«, Appaz’ absolutem Lieblingssong.

 

Aber Kerschkamp hatte Blut geleckt! Er wollte plötzlich unbedingt Schlagzeuger werden, so wie John Bonham, während des Unterrichts trommelte er jetzt unentwegt auf seinen Knien und klopfte mit dem rechten Fuß den Grundtakt. Er musste jede Minute nutzen, um zu üben, und Rockenbauch lieh ihm sogar seine Led-Zeppelin-Platte. Wahrscheinlich war es dann auch Rockenbauch, der Kerschkamp vor der plötzlich drohenden Nicht-Versetzung rettete. Rockenbauch hatte in Biologie eine freiwillige Jahresarbeit für »Jugend forscht« angenommen und lieferte die dicke Mappe über den »Lebensraum der Turakos« dann als gemeinsam mit Kerschkamp geschriebene Arbeit ab. Mit dem Ergebnis, dass sich der Biologielehrer in der Zeugniskonferenz immerhin für Kerschkamp einsetzte und er tatsächlich in die achte Klasse versetzt wurde.

Die Zeiten der körperlichen Strafen waren zwar vorbei, aber die Angst vor der Willkür der Lehrer blieb. Bis auf wenige Ausnahmen waren ihre Lehrer immer noch alte Herren, für die Zucht und Ordnung nach wie vor unverrückbare Ideale waren. Aber für Appaz war es jetzt ausgerechnet der noch junge Klassenlehrer, mit dem er gar nicht klarkam. Er hätte gerne alles richtig gemacht, wusste aber nicht genau, was nun eigentlich »richtig« sein sollte. Der Unterricht in Deutsch, der ihm bislang immer Spaß gemacht hatte, entwickelte sich für Appaz zunehmend zu einem Spießrutenlauf, er lernte schnell, dass es sicherer war, gar nichts zu sagen. Aber dann lasen sie Wolfgang Borcherts »Die Küchenuhr« und sollten sich an einer Interpretation versuchen. Appaz meldete sich. Er begann mit seinen Eltern, die ihm erzählt hatten, wie schwer es nach dem Krieg für sie gewesen war, sich als Flüchtlinge in den Trümmern eine neue Existenz aufzubauen.

»Aber daran, was die deutsche Wehrmacht in Ländern wie Polen oder Russland angerichtet hat, denkst du nicht, was?«, unterbrach ihn der Klassenlehrer schon nach dem ersten Satz. Als sie wenig später auch »Draußen vor der Tür« lasen, meldete sich Appaz nicht mehr. Was die deutsche Wehrmacht nun allerdings genau »angerichtet« hatte, blieb auch weiterhin im Verborgenen. Das Dritte Reich war kein Thema im Unterricht, das »dunkelste Kapitel der Deutschen Geschichte« wurde nahezu vollständig ausgespart. Gesprochen wurde dagegen in der Schule wie eben auch zu Hause häufig genug über die schwierigen Zeiten danach, als Deutschland sich aus eigener Kraft aus den Trümmern wieder emporarbeiten musste - und damit verknüpft war stets auch die Hoffnung formuliert, dass das letzte Wort über den Mauerbau und »Mitteldeutschland« noch nicht gefallen sei und die unter dem Joch des Kommunismus leidenden Brüder und Schwestern »drüben« irgendwann noch einmal genauso »frei« sein würden wie die glücklichen Verwandten, die es in den Westen geschafft hatten.

Über das, was im Krieg passiert war, erfuhr Appaz von seiner Mutter vor allem durch die Geschichten von den Bombenangriffen auf ihre Heimatstadt und von ihrer späteren Angst vor den marodierenden und Mädchen und Frauen vergewaltigenden Russen. Mehrmals allerdings erzählte sie auch von den Kriegstagebüchern, die sie - wieso auch immer - von verschiedenen im Russland-Feldzug gefallenen Schulfreunden eingesehen hatte, und immer war das Leid, von dem die Soldaten an der Front berichteten, unvorstellbar gewesen, immer aber, so kam es bei Appaz an, waren es ausschließlich die eigenen »armen Jungs«, die gelitten hatten.

Dazu passte auch, dass sein Vater nach den Jahren in den finnischen Sümpfen und an der norwegischen Eismeerküste, in denen er sich mehr oder weniger nur von Trockenfisch ernährt haben musste, nahezu ohne Zähne aus dem Krieg zurückgekehrt war und deshalb schon als noch eher junger Mann ein Gebiss brauchte. Ansonsten erzählte auch Appaz’ Vater nur wenig, und wenn, dann waren es Episoden, die ebenso gut in Friedenszeiten hätten stattgefunden haben können - am besten gefiel Appaz die Geschichte, wie sein Vater als Kradmelder in Finnland von einem Bienenschwarm verfolgt worden war und sich nicht anders zu helfen wusste, als sich samt Motorrad in den nächsten See zu stürzen, woraufhin die Bienen glücklicherweise einfach geradeaus weit erflogen.

Ein einziges Mal hatte Appaz den Versuch unternommen, etwas mehr über den Alltag im Krieg zu erfahren, nachdem er mit zwölf oder dreizehn das von Nölle geliehene »Landser-Heft« mit dem Titel »In der Schneewüste von Alakurtti« gelesen hatte. »Sag mal, hast du da im Krieg auch Leute erschießen müssen?«, hatte Appaz seinen Vater in einem Tonfall gefragt, der von vornherein klarstellen sollte, dass die Antwort nicht wirklich wichtig war. Kopfschüttelnde Empörung über die Naivität seines Sohnes war die einzige Reaktion gewesen, wenig später schon war Appaz dann froh darüber, nichts Genaueres und eigentlich gar nichts zu wissen, und dabei sollte es bleiben, er stellte keine weiteren Fragen und schonte damit seinen Vater und sich gleichermaßen.

Dennoch oder umso mehr setzte ihm Borcherts »Draußen vor der Tür« zu. Er hielt Borchert für einen außergewöhnlichen Schriftsteller und lieh sich in der Schulbücherei dessen Biographie, gerne hätte er auch im Unterricht über einen Autor gesprochen, der nicht nur von der Ausweglosigkeit berichtete, sondern selber keinen Ausweg mehr sah. Aber auch hier - im Deutschunterricht - schien es sicherer, die Geister, die da zweifellos lauerten, nicht zu wecken. Unklar blieb, warum sie solche Bücher überhaupt lasen.

Einzig in Englisch gab es noch Momente, in denen Appaz gerne in der Schule war. Nach dem ewig brüllenden Tietemann und seinen Verbalattacken hatten sie jetzt einen jüngeren Lehrer, der ihnen einigen Respekt abnötigte. Wilde kam mit dem Motorrad zur Schule, hatte für einen Lehrer auffällig lange Haare und trug eine runde John-Lennon-Brille, vor allem aber schien er alle vorstellbaren Schülerstreiche längst zu kennen - sowohl die mit Kaugummi beklebte Türklinke oder die Reißzwecke auf dem Lehrerstuhl als auch den Luftballon über dem tropfenden Wasserhahn, und alle Versuche, ihn vorzuführen, liefen ins Leere, und das ohne ein lautes Wort. Wilde drehte den Wasserhahn zu, warf die Reißzwecke in den Papierkorb, ließ einen Schüler die Tür öffnen. Nur ein einziges Mal kriegten sie ihn tatsächlich dran. Während der Stunde rückten sie geschlossen mit ihren Tischen und Stühlen Zentimeter für Zentimeter nach vorne, bis Wilde sich plötzlich mehr oder weniger an die Tafel gequetscht sah. Aber wider Erwarten fing er an zu lachen und sagte: »Well, guys, I didn’t know that before. But 1’11 keep it in mind!« Und das war’s. Sie rückten ihre Stühle und Tische zurück, und Wilde setzte seinen Unterricht fort.

Die Tatsache, dass er ausschließlich Englisch mit ihnen sprach, machte seine Stunden nicht unbedingt einfach, und Wildes Anforderungen waren hoch. Aber mit der Zeit gewöhnten sie sich daran, in immer fließenderem Englisch irgendwelche kleineren Episoden aus ihrem Alltag zu erzählen. Wilde war der erste Lehrer, der sie ernst nahm, und das lernten sie bald zu schätzen. Er war es dann auch, der sie ermutigte, sich mit den Texten der englischsprachigen Hits, die sie alle hörten, auseinanderzusetzen. Er selber mochte die Doors und übersetzte mit ihnen »The Unknown Soldier«.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?