GALDAN und wie er die Lampe des Lichtkönigs zurückholte

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„Aber es muss doch jemand die Lampe holen!“

„Das wird wohl nie geschehen. Wer soll denn das machen? Kein Sonnenkind schafft es bis dorthin.“

„Dann fliege ich eben hin und hole die Lampe.“

Nidal lächelte. „Ach du kleiner Kerl! - Geh jetzt schlafen! Morgen scheint wieder die Sonne und alles ist vergessen.“

Mit dem Kopf voller Gedanken schwamm Galdan zum Nest zurück. Lange lag er noch wach. Und immer klarer wurde die Idee. Er wird es probieren. Er wird aufbrechen und die Lampe suchen. Wenn sich keiner traute, zum Fürsten der Finsternis zu gehen, dann würde er es eben machen. Er hatte einmal die Häscher überlistet. Das mag auch ein zweites Mal gelingen. Vor dem Weg hatte er keine Angst. Wer ein Fischvogel ist, kann sich überall zurecht finden.

Wenn aber der Weg so weit ist, dann brach er am besten so bald wie möglich auf. Dann sollte er schon am frühesten Morgen losfliegen. Zwar könnte er dann niemandem mehr Ade sagen, doch das musste halt sein. Mit diesem Gedanken steckte er den Kopf unter das Gefieder und nahm sich vor, beim ersten Morgenlicht aufzuwachen.

Kaum färbten die allerersten Strahlen der Morgensonne das Wasser des Sees, als sich Galdan auch schon streckte. Vorsichtig schlüpfte er zwischen den schlafenden Geschwistern durch. Vor dem Nest pumpte er seine Schwimmblase voll Luft. Sie trug ihn völlig geräuschlos an die Wasseroberfläche. Leise kletterte er ans Ufer. Dann fraß er frisches Gras, soviel nur in seinen kleinen Magen passen wollte. Nun war er gerüstet. Er breitete seine Schwingen aus und hob sich in die Luft.

Doch bevor er seine weite Reise antrat, wollte er wenigstens noch Stupsi ade sagen. So zog er einen weiten Kreis und ließ sich auf der Waldwiese nieder, genau neben der Kuhle, in der Stupsi friedlich schlummerte.

„Hallo Stupsi!“ flüsterte Galdan, während er seinen Freund an der Schulter rüttelte.

Stupsi schreckte hoch. Er wollte schon etwas sagen. Doch Galdan hob die Greifhand an den Schnabel. So schwieg der kleine Hase.

„Stupsi ich muss fort“, begann Galdan.

„Warum denn?“ fragte verwirrt der kleine Hase.

„Ich muss die Lampe des Lichtkönigs holen.“

„Kann ich mit?“ fragte Stupsi.

Galdan schüttelte den Kopf. „Es ist zu weit. Ich muss viel fliegen. Ich wollte dir nur ´Auf Wiedersehen´ sagen.“

„Kommst du auch wirklich wieder?“ fragte Stupsi ängstlich.

„Aber klar“, versicherte der kleine Fischvogel. Er umarmte Stupsi. Dann breitete er seine Schwingen aus, hob sich in die Luft und flog in den jungen Morgen hinein.

Stupsi legte sich noch einmal hin und schlummerte weiter. Denn es war für ihn noch viel zu früh. -

„Eigentlich“, dachte Galdan, „ist es nicht recht, wenn ich mich von Stupsi und von Mama nicht.“

So zog er einmal einen Kreis und tauchte in den See. Noch war es ganz dunkel da unten. Doch der Fischvogel wusste genau, wo die Nistkolonie lag. Er hatte auch das Nest der Eltern rasch gefunden. Er schlüpfte hinein. Dann rüttelte er seine Mama. Verschlafen reckte sie sich.

„Mama, ich muss fort, die Lampe des Lichtkönigs holen“, flüsterte Galdan.

„Ja, ja“, antwortete seine Mama. Und sie wusste vor Müdigkeit kaum, was sie sagte. Dann war sie schon wieder eingeschlafen. Galdan tauchte aus dem See auf und flog fort.

Als die Fischvogel-Familie aufwachte, herrschte helle Aufregung. Galdan war nicht da! Im Nest war er nicht und auf dem See auch nicht! Die ganze Familie schwärmte aus und suchte verzweifelt nach dem Kleinen. Keiner konnte verstehen, wo er geblieben sein könnte.

Nidal war schon seit langem kaum noch aus ihrem Nest hervorgekommen. Nun trieb es sie doch an die Wasseroberfläche. Tief und hastig atmete sie die Luft, die schon lange nicht mehr ihre Lungen berührt hatte. Sie keuchte. Denn es war für sie sehr anstrengend, vom Grund des Sees hoch zu kommen. Langsam näherte sie sich dem Ufer. Sie rief alle zu sich.

„Ich glaube“, begann sie, „Galdan macht gerade etwas ganz Dummes. Er kam gestern Nacht noch zu mir ins Nest. Ich musste ihm die Geschichte vom Fürsten der Finsternis erzählen. Da sagte er, er würde die Lampe holen. Ich dachte, dass er es nicht ernst meint.“

„Er weiß doch gar nicht, was das bedeutet. Ich glaube nicht, dass er das wirklich tut. Vielleicht macht er sich mit uns nur einen Scherz“, meinte der Vater.

Da kamen Galdans Spielgefährten zum See. Sie wunderten sich über die Aufregung. Als sie hörten, was geschehen war, dachten sie voll Schauder an den vergangenen Tag. Nur Stupsi verstand die Aufregung gar nicht.

„Ihr müsst doch wissen, wo er ist“, sagte er verständnislos.

„Warum?“ fragte der Fischvogel-Vater ganz verdutzt.

„Na, er holt doch die Lampe des Lichtkönigs.“

„Was holt er?“

„Na die Lampe! Er hat‘s mir doch gesagt!“

„Wann hat er das gesagt?“ fragte der Fischvogel-Vater mit vor Angst gepresster Stimme.

„Heute ganz früh, als er losgeflogen ist. Er hat mich geweckt und dann hat er gesagt, dass er die Lampe von dem Lichtkönig holen muss. Und dann ist er fort geflogen.“

Wie vom Donner gerührt stand der Fischvogel-Vater da. Auch die anderen waren alle entsetzt.

Die Fischvogel-Mama begann zu schluchzen: „Und mir hat er es auch gesagt, heute, ganz früh. Jetzt fällt es mir wieder ein. Ich war noch so müde, dass ich gar nicht richtig gemerkt habe, was er sagte. Und dann...dann bin ich wieder eingeschlafen!“ Dann weinte sie los.

Als er sich etwas von seinem Schreck erholt hatte, sagte der Fischvogel-Vater: „Er weiß bestimmt nicht, was das wirklich bedeutet. Dazu ist er noch viel zu klein. Wir müssen ihn finden! Ich glaube, das Beste ist, wenn wir in großen Kreisen nach ihm suchen. Er ist zwar ein guter Flieger. Aber er sitzt bestimmt irgendwo und weiß nicht weiter.

Sofort erhoben sich alle Fischvögel in die Luft, - bis auf die Kinder, die unter der Aufsicht von Nagdor am Ufer blieben. -

Unterdessen hatte Galdan hoch oben am Himmel eine Luftströmung gefunden, die direkt nach Norden blies. Mit weit ausgebreiteten Schwingen segelte er in ihr. Wie ein Sturmwind jagte er dahin. Neugierig betrachtete er das Land, das unter ihm vorbei zog. Er sah nur Wald, nichts als Wald. So weit sein scharfes Auge reichte, gab es nur Wald. Hie und da zeigte sich eine Lichtung. Aber das waren nur Inseln in einem Meer von Bäumen.

Die Sonne lachte vom Himmel herunter. Würziger Duft stieg aus den Wäldern empor. Der kleine Fischvogel genoss es, sich so treiben zu lassen. Es war ein herrliches Gefühl, hoch oben zu segeln. Und tief unten drehte sich das Land.

Gegen Mittag setzte Galdan einen Gleitflug an. Dann landete er auf einer saftigen grünen Wiese. Mit Heißhunger stürzte er sich auf das Gras. Er rupfte und rupfte und kaute und kaute. Und wie das schmeckte! Er fraß, bis er nicht mehr konnte. Dann hockte er sich hin und genoss die warmen Strahlen, die die Sonne herunter schickte.

Galdan döste sogar etwas. Irgendwie war das herrlich. Er genoss es. Das neue Land, das er sah; das erhabene Gefühl, vor einer großen Aufgabe zu stehen - auf Entdeckungsreise zu sein! -

Wie lange würde er brauchen, um zum Schloss des Fürsten der Finsternis zu kommen?

Als er genug geruht hatte, schwang er sich wieder in die Luft. Und weiter ging‘s in raschem Flug, nach Nord, dorthin, wo es finster und kalt ist und die Lampe wartet.

Stunde um Stunde flog Galdan. Da er immer wieder seine Flügel einsetzte, um rascher voran zu kommen, schmerzten sie nun. Er war es eben nicht gewöhnt, so lange zu fliegen. Und nun war er schon fast den ganzen Tag in der Luft!

Die Sonne lag dicht über dem Horizont. Tiefdunkelrot leuchtete sie aus einem Saum von Orangerot und Hellgelb. Galdan war müde und hungrig. Er hatte gehofft, bis zum Abend am großen Tor angelangt zu sein. Aber er sah immer noch nur Wald. Vielleicht hatte die alte Muhme doch Recht damit, dass das Land riesengroß war? Wenn dieses Land solche Ausdehnung hatte, wie weit musste es dann erst bis dahin sein, wo es keinen Norden mehr gibt?!

Enttäuscht und traurig ließ sich der kleine Fischvogel aus dem Luftstrom fallen. In weiten Kurven glitt er zur Erde nieder. Wie er auch schaute. - Er konnte keine Wiese finden. Überall nur Bäume. Aber was für welche! Solche hatte er noch nie gesehen!

Die mächtigen Bäume in seiner Heimat hatten weit ausladende Äste. Sie hatten dichtes Laub aus großen gefächerten Blättern. Die Blätter hier waren schmaler. Die Äste ragten steiler aus den Stämmen hervor. Die Bäume wirkten nicht so wuchtig wie zu Hause.

Staunend blickte sich Galdan um. Alles war anders. Auch die Blumen und das Gras. - Wie weit mochte er schon von zu Hause weg sein?

Rasch wurden die Farben matter. Es wurde immer dunkler in dem Wald. Galdan musste sich sputen, dass er noch genug zu fressen bekam. Dann wollte er sich am Grund eines Sees zur Ruhe legen. - eines Sees?! - Wo war denn hier einer?!

Noch einmal erhob sich der kleine Fischvogel in die Luft. Die Sonne war längst verschwinden. Nur ein matter heller Schimmer am Horizont war geblieben. Und über ihm glänzten bereits die ersten Sterne. - Wie er auch kreiste und mit seinen scharfen dämmerungsgewohnten Augen über das Land spähte. Ein See war nicht zu finden. Nicht einmal ein Bächlein zeigte sich.

Mit einem Seufzer brach Galdan die Suche ab. Er segelte mit dem letzten Lichtschimmer zwischen die Bäume herab. Im letzten Moment konnte er noch einen Haken schlagen. Sonst wäre er mit dem Schnabel voraus gegen einen mächtigen Stamm gerast.

Nun saß er im Gras. Tiefste Finsternis um ihn her.

So dunkel waren die Nächte zu Hause nicht. Da schimmerte immer mal ein Stern durch das Blätterdach. - Aber hier. - Wie die Decke eines riesigen Nestes kam ihm der Wald vor.

 

Galdan beschlich Angst. War er wirklich noch im Land? Oder war er schon über das Tor hinaus geflogen, ohne es zu merken? - Wie gerne wäre er jetzt zu Hause! - Dort kuschelten sie sich nun alle aneinander. - Ob sie wohl an ihn dachten? Ob Mama Angst hat? Was macht Papa? Und Nagdor und Godol und Dartra? Oder Stupsi – Stupsi! Was macht der kleine Hase jetzt?! Ob er sich fürchtet? Ob er an ihn denkt?

Galdan war es zum Heulen. Er kam sich jetzt gar nicht mehr so herrlich und so groß vor.

Ob das überhaupt geht, dass man die Lampe holen kann? Ob es sie überhaupt gibt? Kann man überhaupt in das Land kommen? Ist es so, wie Nidal gesagt hat, dass es keiner geschafft hat? Muss er nicht doch aufgeben? War es nicht doch dumm? - Er wäre jetzt so gerne bei seiner Mama! Er hätte ihr so gerne von dem herrlichen Fliegen erzählt und davon, dass er die Lampe sucht. Aber die Mama war so weit weg! Und er saß da. - Im fremden Land. - Ganz allein. -

Galdan schluckte und schluckte. Er spürte, wie die Tränen in ihm hoch stiegen. Ach wäre er doch jetzt zu Hause! Warum muss er nur die dumme Lampe suchen! - Am liebsten wäre er gleich wieder heim geflogen.

Aber er war einfach zu müde. Erst jetzt spürte er richtig, wie kaputt er war. So hatte er sich das nicht gedacht. Aber jetzt saß er da. Und er musste damit fertig werden. Also, was hilft’s? Er musste etwas schlafen. Auch wenn er Angst hatte. Auch, wenn er sich so furchtbar einsam fühlte. -

Aber war er denn wirklich ganz einsam? Hatte ihm die alte Muhme denn nicht erzählt, dass der Lichtkönig seinen Geschöpfen dieses Land gegeben hatte? Hatte nicht die Muhme gesagt, dass die Boten des Lichtkönigs überall wären, nur kann man sie nicht sehen? Heißt sein eigener Name denn nicht: „Der, der im Licht steht“? Will vielleicht der Lichtkönig...

Mitten im Gedanken war Galdan eingeschlafen. Er war ja so müde. Und die Ruhe ließ den Schlaf kommen. -

Als er erwachte, stand die Sonne schon hoch am Himmel. Mild schimmerte ihr Licht durch das dichte Blätterdach. Galdan schaute sich um. Wie hoch diese Bäume waren! Und wie schlank die Stämme! Und wie schmal die Blätter! Auch das Gras war ganz anders. Er hatte das am Abend gar nicht mehr so recht mitbekommen. Was das für merkwürdige Blumen waren!

Galdan näherte sich einer gelben Blüte, die auf schlankem Stängel sanft in der Mittagswärme schaukelte. Wie zierlich! Gar nicht so prächtig groß wie zu Hause. Und wie sie duftet! Nicht so betörend süß, wie er das von daheim kennt. Nein, selbst der Geruch war sanft und zart!

Der kleine Fischvogel staunte. Was war das für ein seltsames Land! So anders! So fremd! Und doch auch noch Reich des Lichtkönigs! Er hatte gar nicht gewusst, wie groß das ist!

Mit Macht meldete sich sein Magen. Galdan beeilte sich, ihn zu füllen. Dann breitete er seine Schwingen aus und stieg mit kräftigen Flügelschlägen zwischen den Bäumen hoch. Helles Licht umflutete ihn, als er durch das Blätterdach stieß. Die Thermik trug ihn höher und höher, bis der Wald wie eine graugrüne Masse unter ihm lag. Galdan spürte die Ausläufer des Luftstroms. Mit ein paar Flügelschlägen war er mitten drin. Und ab ging‘s. Geradewegs nach Nord.

Stunde um Stunde flog er so. Das Land zog unter ihm vorbei. Wie gestern war es nur Wald, Wald und wieder Wald. Dazwischen glänzte mal ein See. Hie und da wand sich ein Fluss zwischen den Bäumen hin.

Heute ging es schon viel besser als gestern. Galdan hatte herausgefunden, dass er sich mit seinen Schwingen richtig auf die strömenden Luftmassen legen konnte. So segelte er fast ohne Anstrengung dahin. Und der Wind blies ihn mit hoher Fahrt über das Land.

Als die Sonne den Horizont fast berührte, hatte der kleine Fischvogel wieder eine große Strecke zurückgelegt. Und immer noch nicht war er am Tor. Wenn er nur wenigstens die Mauer schon hätte! Aber von der Grenze war noch keine Spur zu sehen. Er hatte immer gedacht, dass sein See zu Hause riesengroß wäre. Und nun erwies er sich als ein nur kleiner Teil des Reiches!

Diesmal suchte sich Galdan viel eher einen Landeplatz. Als er einen See in der Ferne blinken sah, ließ er sich aus dem Luftstrom fallen und glitt zu ihm hin. In elegantem Bogen strich er über das Wasser. Dann rauschten die Wellen hoch, als sein muskulöser Körper die Oberfläche durchschnitt.

Wasser! Ein richtiger See! Ach wie sich Galdan freute! Frisches klares Wasser! Er schlug mit den Flügeln, besprühte sich über und über mit dem köstlichen Nass. Dann tauchte er unter. Neugierig schaute er sich um. Was waren das nur für seltsame Pflanzen! Lange grüne Fäden spannen sich vom Grund aus hoch bis dicht unter die Wasseroberfläche. An anderen Stellen sahen sie fast aus wie weißliche und bräunliche Blütenrispen. Wie ein Pfeil schoss der Fischvogel durch das Wasser, stieg hoch, durchbrach die Oberfläche und fiel mit einem lauten Klatschen zurück. Ach, war das herrlich!

Als er genug im Wasser getobt hatte, schwamm er ans Ufer. Er hatte nämlich mächtigen Hunger! Das Gras, das bis fast an den Wellensaum reichte, duftete fein. Im Nu war Galdan aus dem Wasser und fraß mit großem Appetit.

Plötzlich hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden. Er schreckte hoch. Ob wohl die ...? - Nein. Das konnte nicht sein. Nidal hatte doch gesagt, dass sie für diesmal genug hätten. Angestrengt spähte Galdan in die Runde. Aber er sah niemanden. Das konnte nicht sein! Er war sicher, dass da jemand war.

„Hey du!“ rief er. „Komm raus!“

Nichts rührte sich.

„Nun mach doch keinen Quatsch! Zeig dich endlich! Ich tu dir nichts!“

Da schoben sich die Zweige eines Busches etwas auseinander und der Kopf eines jungen Rehes lugte vorsichtig dazwischen hervor. Galdan lachte laut und herzhaft. Da war der Kopf wieder verschwunden.

„Nun hab doch keine solche Angst!“ munterte Galdan den kleinen Gesellen auf. „Ein Fischvogel tut niemandem etwas!“

„Ich weiß nicht, wer du bist!“ klang es zaghaft aus dem Gebüsch hervor.

Galdan lachte wieder. Er machte einen Schritt auf den Busch zu. „Bleib weg!“ rief es in höchster Angst hinter den Blättern.

„Nun hab dich doch nicht so!“ erwiderte Galdan. „Ich bin ein Fischvogel. Ich komme von weit her, vom großen See im Süden. Und ich heiße Galdan.“

„Ein Fischvogel? - Was ist das?“

„Na das siehst du doch!“ antwortete Galdan. „Du siehst, dass ich ein großer Vogel mit einem langen Hals und einem langen schmalen aber kräftigen Schnabel bin. Du siehst mein silbriges Federkleid, das wie Schuppen am Körper anliegt und du siehst meine Greifhände an den Flügelenden. Ich kann natürlich fliegen und schwimmen. Ich kann auch gut tauchen, weil ein Fischvogel eine Lunge und Kiemen hat. Und ein Fischvogel beißt keine kleinen Rehe, weil er nur Gras und Algen und Blätter frißt. - Zufrieden?“

„Ich weiß nicht. -“

Hilflos zuckte Galdan mit den Schultern. „Mach was du willst!“ sagte er unwirsch. „Ich jedenfalls fresse jetzt weiter.“

Damit wandte er sich wieder zum Gras und ließ es sich schmecken. Als er eine Weile das saftige Grün mit seinem kräftigen Schnabel gerupft hatte, hörte er hinter sich ein Rascheln. Mit einem Ruck drehte er sich um. Zitternd stand das kleine Reh mitten auf der Wiese. Es hatte offenbar nicht damit gerechnet, dass er es bemerken würde. Schritt für Schritt bewegte es sich rückwärts, die Lauscher steil aufgestellt, die großen Augen starr vor Angst auf das seltsame Wesen vor ihm gerichtet.

„Bist du aber ein netter Kerl“, lächelte Galdan.

Das Reh blieb stehen. Sagte aber nichts. Galdan machte einen Schritt auf es zu. Das Kitz machte einen Schritt rückwärts. Galdan machte noch einen Schritt. Und das Reh wich wieder zurück.

Hilflos blieb Galdan stehen. „Nun glaub mir doch endlich! Ich tu dir nichts!“ drängte er.

Völlig verstört blickte ihn das Reh an. Der kleine Kerl traute sich überhaupt nicht mehr, irgendeine Bewegung zu machen. Starr und steif stand er da, die Augen unablässig auf Galdan gerichtet, mit nackter Angst im Gesicht. Er tat Galdan richtig leid. Wenn er ihm doch nur Mut einflößen könnte! - Aber wie? - So standen sie eine Weile. Und keiner wusste, was er tun sollte. -

Da rauschten die Zweige und ein stattliches Reh trat auf die Wiese. Bei dem Rascheln hatte das Kitz blitzschnell seinen Kopf gewandt. Voller Erleichterung rief es: „Mama!“, fegte mit Riesenschritten zu ihr hin und drängte sich ganz nah an sie. Verwundert blickte sie auf das seltsame Wesen, das ihrem Kind einen so großen Schrecken eingejagt hatte.

„Wer bist du?“ fragte sie erstaunt.

„Ich bin Galdan, der Fischvogel. Und ich komme von dem großen See im Süden“, antwortet Galdan.

Bevor die Rehmutter etwas antworten konnte raschelten erneut die Zweige des Buschwerkes. Das Rudel, zu dem sie gehörte, trat auf den Plan. Alle blieben erstaunt stehen und äugten zu dem seltsamen Vogel hinüber, der vor ihnen im Gras stand.

„Er ist ein Fischvogel, sagt er“, wandte sich die Mutter des Rehkitzes an den alten Rehbock, der das Rudel führte.

Überrascht hob er den Kopf. „Ein Fischvogel?“ fragte er ungläubig nach.

„Ja, ein Fischvogel“, schaltete sich Galdan ein, der langsam ungeduldig wurde. Schließlich war er mit seiner Mahlzeit noch nicht fertig und die Sonne schickte gerade ihre letzten Strahlen über den Horizont.

„Du bist ein Fischvogel?“ fragte der Rehbock.

„Was ist denn daran so komisch?“ fragte Galdan zurück.

„Fischvögel gibt es bei uns nicht“, erwiderte der Rehbock und wiegte sein graues Haupt mit dem stattlichen Gehörn. „Sie wohnen im Süden, viele Tagesmärsche von uns weg.“

„Das stimmt“, pflichtete ihm Galdan bei. „Da komme ich her.“

Sich seiner Würde bewusst und ohne jegliche Furcht schritt der Rehbock auf das Wesen zu, das behauptete, einer jener legendären Vögel aus dem Süden zu sein. Er betrachtete es lange.

Galdan kam sich ganz schön komisch vor. Dann wurde ihm die Sache zu bunt. Sollten doch die dummen Rehe staunen, wenn sie nichts anderes konnten! Er jedenfalls hatte noch Hunger und überhaupt keine Lust, mit halbvollem Magen schlafen zu gehen. So fraß er einfach weiter.

Verblüfft hob der Rehbock den Kopf. Das war ihm noch nicht vorgekommen, dass ein Tier respektlos weiterfraß, wo er doch darüber entscheiden wollte, ob es hier geduldet wird oder nicht. Und überhaupt musste doch erst einmal festgestellt werden, wer das ist! Als er sich von seiner Überraschung erholt hatte, fragte er streng: „Du willst aus dem Süden kommen?“

„Was heißt da: will! - Ich komme von dort!“ zischte Galdan. Er hatte nun wirklich genug.

„Und du bist wirklich ein Fischvogel?“

„Ja. Ich bin wirklich ein Fischvogel. Nun glaubt es doch endlich! Ich bin von zu Hause fortgeflogen, weil ich in den Norden will. Und da muss ich nun mal bei euch vorbei. - Was dagegen?“

Der letzte Lichtschimmer verschwand gerade vom Spiegel des Sees, der nun ruhig und glatt in der Dämmerung lag. Vom Waldrand war ein schwacher Schemen übrig geblieben. Nur noch undeutlich konnte Galdan die Rehe vor dem Dickicht erkennen.

Verblüfft trat der Rehbock einen Schritt zurück. Was war das nur für ein seltsames Tier, das so klein war und doch so mit ihm zu sprechen wagte?

„Es ist weit von dort bis hier her und noch viel weiter bis zum Norden. - Eine solche Reise macht man nicht ohne Grund“, setzte der Rehbock sein Verhör fort.

„Das stimmt“, nickte Galdan. „Ich will die Lampe des Lichtkönigs holen. Es ist schon genug Unheil passiert.“

Überrascht hob der Rehbock den Kopf. „Du willst so ein Unternehmen wagen?“ fragte er ungläubig.

„Ich habe keine Lust, mein ganzes Leben in Angst vor dem Fürsten der Finsternis zu verbringen“, entgegnete Galdan altklug.

„Das ist wahr“, nickte der Rehbock. „Es ist eine furchtbare Plage. Seit vor vielen vielen Jahren die Lampe gestohlen wurde, haben wir keine Ruhe mehr. Immer wieder tauchen diese schrecklichen Gestalten auf und schleppen weg, was sie erwischen können.“

„Ich habe es vor ein paar Tagen das erste Mal in meinem Leben selbst mit gemacht“, erzählte Galdan. „Ich konnte mich zusammen mit meinen Freunden gerade noch verstecken. Es war furchtbar. Ich will nicht dauernd davor Angst haben müssen.“

„Oh ja“, seufzte der Rehbock. „Wir sind noch viel schlimmer dran als ihr. Wir müssen laufend damit rechnen, dass sie wieder kommen. Erst wenn sie bei uns nicht genug erwischen, dringen sie weiter nach Süden vor. Seit einiger Zeit ist es ganz schlimm. Wir trauen uns kaum noch aus unseren Verstecken heraus.“

 

Jetzt war Galdan vieles klar. Deshalb also reagierte das kleine Reh so ängstlich. Und deshalb auch waren die anderen so misstrauisch. Ja wenn sie dauernd mit den Häschern rechnen müssen! -

„Dann war das bei euch noch schrecklicher als bei uns?“

„Ich weiß nicht, wie es bei euch war“, antwortete der Rehbock. Aber mein Rudel ist nur noch halb so groß und von allen Kindern ist nur Bugsi geblieben. -“

In dem Zwielicht sah Galdan, wie die Schatten, die von den Rehen übrig waren, traurig ihre Köpfe senkten. Ohnmächtige Wut brandete in ihm hoch. Wenn er auch nur noch den geringsten Zweifel gehabt hatte, so war der nun verflogen! Er würde diese Lampe holen! Und wenn es das letzte wäre, was er in seinem Leben tun könnte! Diese schreckliche Plage musste ein Ende haben! Und das so schnell wie möglich! Er wird sich von nichts und niemandem aufhalten lassen! Die Lampe musste einfach wieder her!

„Siehst du“, begann Galdan wieder. „Und deshalb bin ich auf dem Weg nach Norden."

„Aber du bist doch noch ein junger Vogel!“ setzte der Rehbock dagegen. „Was willst du schon gegen den Fürsten der Finsternis und seine Häscher ausrichten?!“

„Ich habe sie einmal überlistet. Das wird mir auch ein zweites Mal gelingen“, meinte Galdan zuversichtlich.

„Wie hast du das gemacht?“ fragte der Rehbock erstaunt.

Da erzählte der Fischvogel, wie sie sich vor den furchtbaren Gestalten versteckt hatten.

„Das mag einmal gut gegangen sein. Aber im Nordland ist es etwas anderes. Da gibt es solche Bäume bestimmt nicht. Und es ist das Reich des Fürsten. Da ist einer der Feind des anderen. Wir Kinder des Lichtes kommen da nicht durch."

„Ein Fischvogel schon“, erwiderte Galdan keck.

Der Rehbock seufzte tief. Irgendwie imponierte ihm der Mut des Kleinen. Aber er war sicher, dass er nicht mehr zurückkehren werde, wenn er wirklich weiter fliegen sollte.

„Ich warne dich noch einmal! Es ist dein Ende, wenn du nicht umkehrst! Entweder du wirst unterwegs gefressen oder du endest als Sklave des schrecklichen Fürsten dort, wo es keinen Norden mehr gibt und schreckliche Stürme toben“, mahnte der Rehbock mit unheilverkündender Stimme.

„Ich fliege“, antwortete Galdan fest.

„Ich wünsche dir viel Glück“, sagte der Rehbock. Dann begann er zu äsen.

Die anderen fraßen schon. Auch Bugsi hatte sich längst dem saftigen Gras zugewandt. - Jetzt, wo man keine Angst mehr vor dem seltsamen Vogel haben brauchte, konnte man ja in Ruhe seine Abendmahlzeit halten. Auch Galdan war noch nicht fertig. So rupften sie alle in fröhlicher Eintracht die wohlschmeckenden Halme. -

Als Galdan satt war wünschte er allen eine gute Nacht und verkroch sich unter einem Busch. Wohl hatte er sich darauf gefreut, im See schlafen zu können. Aber in der Dunkelheit wollte er doch nicht abtauchen. Wie leicht konnte er in ein gefährliches Schlammloch geraten! So zog er es vor, an Land zu bleiben.

Als am nächsten Morgen die ersten Sonnenstrahlen Blätter und Zweige aus dem Zwielicht schälten erwachte Galdan. Er kroch unter dem Busch hervor, reckte und dehnte sich. Dann nahm er ein Bad in dem herrlich frischen See. Erst danach stillte er seinen Hunger. Als ihn die Rehe seelenruhig fressen sahen trauten auch sie sich aus dem Dickicht hervor. Galdan begrüßte sie freudig. Dann aber fraß er rasch weiter. Er wollte heute wieder eine große Strecke zurücklegen. Einmal musste er doch an der komischen Mauer ankommen. Bugsi näherte sich ihm und zupfte dicht neben ihm Gras.

„Es ist schön, dass du keine Angst mehr vor mir hast, Bugsi“, sprach ihn Galdan an.

Bugsi seufzte.

„Hast du einen Freund?“ fragte der Fischvogel weiter.

„Jetzt nicht mehr“ , antwortete Bugsi traurig.

„Oh“, machte Galdan.

„Der böse Fürst hat alle mitgenommen! Jetzt bin ich ganz allein!“ brach es aus dem kleinen Reh hervor. Dann schaute es Galdan groß an. „Willst du mein Freund sein?“ fragte es leise.

Der Fischvogel blickte wehmütig auf das Kitz. Dann sagte er: “Ich würde es gerne sein. - Aber ich muss weiterfliegen. Ich muss die Lampe holen.“

Bugsi schüttelte heftig den Kopf. „Tu das nicht!“ rief er. „Das ist viel zu gefährlich! Bleibe bei mir! Dann bin ich nicht so allein! Und muss nicht so viel Angst haben!“

Galdan schüttelte traurig den Kopf. „Nein, Bugsi, das geht nicht. Ich würde gerne bleiben. Wirklich. - Aber ich habe eine Aufgabe. Und die muss ich erfüllen.“

Da kam der Rehbock zu ihnen heran. „Du hast wirklich die Absicht, in den Norden zu fliegen?“

Galdan nickte. „Jetzt noch mehr als zuvor. Ihr habt genug Unrecht erduldet. Das darf nicht weiter gehen!“

„Du hast Recht“, erwiderte der Rehbock. „Ich bewundere deinen Mut. Hoffentlich kommst du heil zurück.“

„Ich glaube schon“, erwiderte Galdan zuversichtlich. „Mein Name bedeutet: der im Licht steht. Der Lichtkönig wird mich beschützen.“

„Wenn du in den Norden fliegst, so achte auf den Baum, der alle anderen weit überragt. Dort wohnt die Hüterin der Weisheit in einer Baumhöhle. Es ist eine Eule, von der niemand weiß, ob sie überhaupt je sterben wird. Frage sie, wie du zum Fürsten der Finsternis kommst!“ flüsterte der Rehbock geheimnisvoll.

„Danke!“ rief Galdan. „Das werde ich tun.“

Er verabschiedete sich von allen und ganz besonders von Bugsi. Dann strebte er mit mächtigen Flügelschlägen in das Blau des Himmels hinein. Unter ihm blieb das Rudel zurück, das ihm noch lange nachschaute. Und aus Bugsis Augen tropfte eine kleine Träne.

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