Das Erbe

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Im Eulengebirge

Monate später ...

Die wilden, dunklen Wälder schoben sich dicht an die schmale Fahrstraße heran. Hoch oben zogen sich neblige Bergkämme über dem Tal dahin, das sich hier in vielen Windungen tief in das einsame Gebirge schlängelte. Der Weg war nicht gepflastert, aber die alte Splittdecke sorgte noch immer für ein recht sicheres Fahren. Der dunkle Personenwagen zog brummend weite Serpentinen hinauf, sich immer mehr einer bestimmten Gipfelregion nähernd. Mit Erleichterungen stellte Wolf fest, daß offenbar niemand sich in den Bergwäldern aufhielt. Weder Menschen noch Fahrzeuge waren ihm in der letzten dreiviertel Stunde begegnet. Er wollte sich vorerst einen Überblick verschaffen. Sein Ziel war die Gegend, wo sich der Zugang zu der Stollenanlage befinden mußte.

Er machte sich keine Illusionen darüber, daß das Auffinden dieses Einganges wahrscheinlich das Schwierigste an dem ganzen Unterfangen sein könnte. Die Karte neben ihm auf dem Beifahrersitz, sorgsam abgedeckt gegen eventuelle unbefugte Blicke, wies ihm zwar in groben Zügen den Weg, aber das eigentliche Loch im Berg war auf ihr nicht detailliert angegeben. Hier mußte er die Handskizze Meurats zu Hilfe nehmen. Dieser hatte nach seiner Erinnerung ungefähr den Platz markiert.

Bald mußte neben der Straße der Verlauf der ehemaligen Schmalspurbahn auftauchen, die damals angelegt worden war und die sich wie eine Bergbahn zur Gipfelregion des Komplexes Steinberg schlängelte. Eine Umladestation zwischen Straße und Bahntrasse hätte existiert, wo die Gleise kurzzeitig parallel zum Fahrweg verliefen. Dieses laut Karte langgezogene Hochtal, mit einem rauschenden Wildbach, müßte er gleich erreicht haben. Tatsächlich glitzerte da auch schon unter dichten Tannen am Weg das Wasser des Bergbaches. Der Nebel des frühen Morgens hing dicht über den waldigen Höhenzügen, und der frische Duft von Tannengrün und nassem Moos drang verstärkt durch das spaltbreit geöffnete Fahrerfenster ins Innere des alten Wagens. Aufmerksam steuert Wolf nun in den sich endlich hier auftuenden Talgrund hinein.

Nochmals verglich er die Karte mit der Örtlichkeit und fuhr langsam weiter. Das leise Brummen des Motors wurde vom Morgendunst der dichten Waldungen zu beiden Talseiten gedämpft, und der namenlose Wildbach rauschte zudem angenehm laut über die uralten Felsbrocken in seinem Bett.

Der ehemalige Umschlagplatz zwischen Bergbahn und Gebirgsstraße schälte sich langsam aus den grauen Schleiern heraus. Ein paar alte Schuppenreste, ein kleineres gemauertes Gebäude und ein rostiger Wasserhochbehälter standen neben dem ehemaligen Bahndamm. Wolf fuhr den Opel in die Deckung der ruinenartigen Bauten, stieg aus und sah sich vorsichtig um. Allenthalben lagen überall noch die Reste verschiedenster Baumaterialien herum. Hier eine Ladung längst zu Stein erstarrter Zementsäcke, dort ein Haufen rostiger Rohre, an anderer Stelle wiederum Stapel inzwischen vermodernden Bauholzes. Die feuchte Witterung des Gebirgs-tales sorgte für den schnellen Verschleiß der zurückgebliebenen Dinge. Und schon zog auch das grüne Walddickicht sich wieder enger um den verlassenen Platz einstiger menschlicher Aktivitäten. Etwas Unheimliches hatte der Ort schon an sich. Fröstelnd zog Wolf die Schultern zusammen und schritt über knirschenden Bausand zu dem Gebäude unmittelbar an der schmalen Bahntrasse.

Wie sich herausstellte war es eine Art kleiner Güterschuppen mit angebautem Aufsichtsraum. Das Innere des Lagers zeigte sich dunkel und leer, nachdem Wolf vorsichtig die marode Schiebetür quietschend aufgezogen hatte. Der ehemalige Aufsichtsraum bot ein noch traurigeres Bild. Blinde Fensterscheiben verbreiteten in dem wüsten, kleinen Büro mit dem rostigen Kanonenofen ebenfalls nicht gerade viel Helligkeit. Hier war gründlich geplündert worden. Zerschlagen der massive Schreibtisch, die Türen der alten Blechspinde aufgebrochen, und ansonsten bedeckte nur Unrat den Boden. Sich schüttelnd verließ der einsame Besucher wieder das verwilderte Haus. Draußen begann sich der Nebel nun endlich etwas zu lichten, Feuchtigkeit an den rostroten Schienen niederschlagend, die hier in Fragmenten noch vorhanden waren. In den tief dunkelgrünen Waldungen um den Platz rief plötzlich ein Eichelhäher laut in die Stille. Wolf zuckte ungewollt zusammen und suchte automatisch Schutz hinter einem Haufen Schrott, der neben der Hochzisterne lag.

Er bereute plötzlich, allein gefahren zu sein. Pawlek, in dem Dorf am Fuß des Gebirges, hatte seine Begleitung angeboten. Pawlek war der Mann, dessen Adresse Wolf noch kurz vor seiner Abreise ins Eulengebirge überraschend von Meurat erhalten hatte. Der Anwalt teilte ihm mit, daß Pawlek ihm sozusagen als Verbindungsmann zur Verfügung stünde. Der gebürtige Pole sei früher eine Art Adjutant gewesen, spreche fließend Deutsch und kenne sich in der Gegend gut aus. Er würde daher auch schweigen, um dieses Geheimnis zu wahren, von dem in seinem heimatlichen Umfeld niemand wußte, so die knappen Auskünfte Meurats. Doch Wolf war mißtrauisch. Seinen ersten Gang in die Berge wollte er unbedingt allein unternehmen. Er brauchte keinen Aufpasser. Und der alte Pole zeigte sich auch sehr wortkarg und war keineswegs begeistert, als Wolf bei ihm auftauchte. Es war in der Abenddämmerung gewesen. Pawlek werkelte in einem kleinen Schuppen neben der Holzhütte herum, in der er wohnte. Kaum hatte sein Gast sich zu erkennen gegeben, zerrte er ihn auch schon vom windschiefen Gartenzaun weg. Erst im Schuppen, in Deckung eines mächtigen Holzstapels, musterte Pawlek ihn mißtrauisch.

„Sie kommen von unserem gemeinsamen Freund. Und ich soll ihnen gegebenenfalls helfen“, murmelte er leise und schaute sich immer wieder nervös um. Wolf bejahte, worauf sein Gegenüber ihn noch dichter an den Holzstapel zog. „Es ist gefährlich...“, zischte der Mann wie eine Schlange. Das zerfurchte, braune Gesicht war dabei todernst. „Lassen Sie diese Dinge ruhen ...“

„Nun machen Sie mal halblang. Ich habe hier etwas zu erledigen, weiter brauchen Sie eh‘ nichts zu wissen. Das dient ja auch Ihrer Sicherheit. Ihre Hilfe in allen Ehren, ich bin aber nur im Ausnahmefall darauf angewiesen“, sagte Wolf zu dem Alten. „Und denken Sie daran, daß nichts vergessen ist ... Also, keine Dummheiten!“ Die deutlichen Worte taten ihre Wirkung. Der Mann kroch förmlich in sich zusammen. „Ja, ja, natürlich ...“

„Gut jetzt“, unterbrach ihn Wolf, nun schon etwas versöhnlicher klingend. „Wenn ich etwas von Ihnen will, weiß ich jetzt, wo ich Sie finde. Das reicht mir fürs erste.“

„Wenn Sie in die Berge wollen, begleite ich Sie.“

„Das ist erstmal nicht nötig. Einen ersten Eindruck verschaffe ich mir selber“, gab Wolf kurz zurück. „Ansonsten melde ich mich“.

Er verabschiedete sich kurz und wandte sich wieder der zerfahrenen Dorfstraße zu. Aus den Augenwinkeln bemerkte er noch, wie der Alte unter dem Schuppendach ihn mit stechendem Blick verfolgte. Wolf verließ das Bergdorf zu Fuß, das sich mit seinen niedrigen Hütten förmlich in das Tal duckte. Am Rande des Ortes erreichte er sein Auto, mit dem er in die Kreisstadt zurückfuhr, wo sich sein Hotel befand.

Er wußte nicht, daß der Alte nach seinem kurzen Besuch in den Keller seines Hauses hinabstieg und dort in einem verborgenen Verschlag eine telefonähnliche Anlage in Betrieb nahm, deren getarnte Leitung sich tief in die nahe des Dorfes beginnenden Massive des Eulengebirges zog ...

Die Basis

Major Martin Hahnfeld saß in dem abgeschabten Sessel vor dem zentralen Kommandopult. Vor ihm eine Vielzahl Instrumente, Anzeigetafeln, Schaltknöpfe und einige Fernsehbildschirme. Seine bestiefelten Füße lagen auf einem Hocker, und neben ihm stand ein metallenes Beistelltischchen mit Kaffe und Zigaretten. Zerlesene Zeitschriften der letzten Jahre verteilten sich daneben auf dem hellen Boden. In den mächtigen unterirdischen Systemen, über die er wachte, herrschte eine geradezu geisterhafte Stille, wenn nicht ab und an irgendwo in den dunklen Hallen und fernen Gängen ein Wassertropfen überdeutlich aufschlug ...

Mit müden Augen schaute er auf die zum großen Teil stillgelegte Technik, die, vor nicht allzu langer Zeit und teilweise wohl noch immer, weltweiten Höchststand verkörperte. Hier unten hatte man alles vom Feinsten installiert. Die Bedeutung der Anlage „Gigant“ ließ denn Aufwand schließlich zu. Mochten Russen und Amis sich bei ihrem Vordringen in Österreich und Deutschland an anderen Orten die Zähne ausbeißen und glauben, sie hätten nun entscheidende Funde gemacht und alles ausgehoben. In „Gigant“, dem Geheimobjekt, das als aufgegebene Baustelle bekannt war und wo man mittels scheinbarer Auslagerungen erfolgreich den Anschein erweckte, hier wäre alles verlassen und unfertig stehen geblieben, lag die eigentlich letzte Bastion des Dritten Reiches in Mitteleuropa.

Hahnfeld konnte noch immer nicht ein schadenfreudige Grinsen unterdrücken, wenn er daran dachte, wie die Sieger staunend und ratlos vor gewaltigen technischen Hinterlassenschaften gestanden haben mochten, im Glauben, nun alles gefunden und erobert zu haben. Die nach Kriegsende weltweit in die Schlagzeilen geratene V-Waffen-Fabrik bei Nordhausen war z.B. ein solcher Ort oder die ausgedehnten Anlagen der Heeresversuchsanstalt Peenemünde ... Natürlich waren den Alliierten auch ungeheure Werte in die Hände gefallen. Doch auch hier täuschte das häufig nur installierte Bild ...

Seit Kriegsende saß Hahnfeld jedenfalls schon in der Basis im Eulengebirge und wartete hier auf letzte entscheidende Befehle hinsichtlich des Einsatzes hier befindlicher Technik. Anfangs war er lange nicht so einsam gewesen wie heute. Eine große Gruppe Werwölfe hatte bei ihm ihren Standort gehabt und von hier aus operiert. Doch leider waren die Jungs draußen immer mehr aufgerieben worden oder von Einsätzen einfach nicht zurückgekehrt. Ihr rätselhaftes Ausbleiben hatte ihm große Sorgen bereitet. Als auch der letzte dieser Männer für immer verschwand, hatte er sich persönlich nach draußen begeben und den Zugang verschlossen und gesichert, den die Werwölfe bis dahin nutzten. Das war nun über ein Jahr her... Vielleicht hatten es viele von ihnen auch einfach satt gehabt. Auch das konnte Hahnfeld nun langsam verstehen.

 

Ein schrilles Klingeln riß ihn plötzlich aus seinen Betrachtungen. Sein Verbindungsmann mit der Außenwelt meldete sich überraschend. Eine kurze Serie von Punkten und Strichen zeichnete die absichtlich einfache, aber todsichere Morsetechnik auf dem Papierstreifen auf. Der ehemalige Adjutant des Objektkomman-danten schickte eine Warnung. Nach dem vereinbarten Codesystem, das keineswegs dem normalen Morsealphabet entsprach, teilte er nach dem obligatorischen Kennungscode kurz mit, es nähere sich höchstwahrscheinlich eine Person dem Berggebiet, in dessen Tiefe die von ihm gewartete und bewachte Basis lag. Sehr beunruhigt nahm Hahnfeld die ungewöhnliche Nachricht zur Kenntnis. Da mußte er unbedingt alle aktiven Sicherungsanlagen überprüfen. Das duldete nun keinen Aufschub mehr.

Von den Zugängen in den geheimen Bereich der eigentlichen Basis konnte so gut wie niemand wissen. Die Werwölfe hatten nur die unterirdische Kaserne gekannt, deren geheimes Tor in die Außenwelt Hahnfeld eigenhändig unzugänglich machte. Auch der einzige innere Zugang war von ihm versperrt worden, als sie ausblieben. Würde sich jemand von der äußeren Talseite her zu schaffen machen, ertönten innen die Alarmglocken. Dann wäre der Eindringling aber auch schon tot ... Dieser Fall war jedoch noch nie eingetreten. Außerdem war dieser Außeneingang zur Kaserne sehr gut getarnt und offenbar bis heute nicht verraten worden. Die Gegend der Basis war außerdem bei der Bevölkerung des Landstrichs am Gebirgsrand bewußt in Verruf gebracht worden. Nur ungern hielten sich die Einheimischen in diesen Wäldern auf. In den Jahren nach Kriegsende waren hier mehrere Holzfäller spurlos verschwunden, und die Leiche des letzten Försters hatte man übel zugerichtet in einer Schlucht am Gebirgsrand gefunden ... Seitdem lastete ein regelrechter Alb auf den Gebirgsbauern, Zapfenpflückern und Holzfällern. Die wildesten Gerüchte gingen um, und jeder hielt sich tunlichst von der unheimlichen Gegend um das Steinbergmassiv fern.

Hahnfeld verließ den halbrunden Raum mit dem Befehlsstand und ging durch eine Stahltür in einen anschließenden Gang. Nur wenige Schritte weiter führte eine Eisentreppe in eine große Halle hinab. Hier, im Licht nur weniger Lampen, die automatisch aufflammten, als Hahnfeld sie betrat, zeigten sich allerlei große technische Anlagen. Mit verschiedenen Farben markierte Rohrleitungen, dicke Träger für Elektrokabel, hohe Schaltkästen, mächtige Tanks und eine Vielzahl anderer Aggregate standen in der mächtigen unterirdischen Grotte, ohne diese jedoch auszufüllen. Es war noch genug Platz für breite Gänge, in denen sich auf markierten Fahrbahnen kleine Elektrofahrzeuge bewegen konnten, die jetzt allerdings schon lange abgeschaltet in ihren dunklen Nischen standen. Hahnfeld würdigte dieses Wunderwerk an Ingenieurleistung keines Blickes. Er eilte durch den dämmrigen, breiten Hauptgang zwischen den technischen Systemen, der sich in Form eines weiten Halbkreises unter dem bedeckenden Gebirge hinzog. Endlich kam er an einer weiteren Stahltür an, die im dunklen Fels eingelassen war. Er gab einen Code in die Zahlentafel, und brummend fuhr die lukartige Abdeckung zur Seite. Dahinter flackerten automatisch trübe Lampen auf, als er den benachbarten Raum betrat. Es war ein langgezogener Felstunnel mit zwei schmalen, glänzenden Stahlgleisen auf dem spärlich geschot-terten Boden. Hier wehte kühle Zugluft, und es roch undefinierbar nach Brackwasser, feuchtem Gestein und altem Öl. Hahnfeld ging mit unheimlich in der Dunkelheit hallenden Schritten zu dem kleinen Bahnsteig des unterirdischen Haltepunktes und erreichte schließlich eine Elektrodraisine, die dort immer bereit stand ...

Die Baustelle

Sonnenstrahlen lugten hinter den zerzausten Bergkämmen hervor. Wind kam auf und wehte die letzten Nebelschleier weg. Der wüste Platz in dem Waldtal bot einen umso trostloseren Anblick. Wolf raffte sich auf. Schließlich war er nicht hier, um die traurigen Überbleibsel der Vergangenheit in dieser einsamen Gebirgsgegend zu begutachten. Er mußte weiter. Der Weg sollte sich jetzt auf der Bahnlinie fortsetzten, die von hier aus noch tiefer in die Berge führte. Da auf der schmalen Trasse die Gleise abgeräumt waren, Schotter und zerborstene Balken einen mehr als unebenen Untergrund bildeten, mußte er den Pkw hier zurücklassen. Er tat es ungern, doch hier oben schien er wirklich der einzige Mensch zu sein. Da dürfte nichts passieren, dachte er. Außerdem war es nach den Angaben der Karte nicht mehr weit. Einen halben Kilometer noch, dann endete die Bahnlinie fast auf der Spitze des Berges. Und dort mußte es schließlich irgendwie hinein gehen. Laut Meurat beginne an diesem Ort ein sehr großes Stollensystem, das mit dem auf der Zeichnung identisch sei. Der Lageplan müßte ab dort den weiteren Weg weisen. Die darin eingetragene Linie begann zumindest unmittelbar an dem Stolleneingang, den er jetzt zu erreichen hoffte. Meurat hatte zumindest versichert, daß dies auch wirklich die Öffnung wäre, die auf der technischen Zeichnung als weiterführend angegeben war.

Derart ermutigt machte sich Wolf auf seinen einsamen Weg. Unter den Füßen knirschte der aufgewühlte Schotter und verbogene Gleisenden ragten mitunter gefährlich spitz aus dem Boden. Auch allerlei Schrott lag anfangs noch am niedrigen Bahndamm, der dann allerdings verschwand und hohem Unkraut Platz machte. Als eine sich schlängelnde Schneise zog die schmale Trasse durch den dichten Bergwald. Nach einer letzten sanften Biegung sah der Wanderer endlich ihr vorläufiges Ende. Eine spärlich bewachsene, zerklüftete und steile Felswand erhob sich plötzlich am Ende des letzten geraden Streckenabschnittes. Davor lag ein größerer Lagerplatz auf dem es ähnlich dem Ort aussah, von wo er gerade kam. Ein Fuchs schnürte über die große Lichtung und verschwand schnell im grünen Dickicht, das den Bauplatz von drei Seiten umgab. Wolf stieg am Rande auf eine umgekippte Kabeltrommel und hielt Ausschau. Für einen Moment glaubte er eine kurze Reflexion, eine Art Aufblitzen in den oberen Felspartien des vor ihm liegenden Hanges wahrzunehmen. Aber eine genaue Absuche mit seinem mitgeführten Fernglas zeigte nichts. Dennoch wurde Wolf noch vorsichtiger. Er pirschte mehr, als das er zwischen den verlassenen Baustellen- und Lagerplatz-überresten aufrecht ging. Anscheinend hatten die Polen schon alles einigermaßen Brauchbare abgeräumt und aus dem Gebirge transportiert. Dennoch lagen hier noch genügend Überbleibsel herum, die einen deutlichen Eindruck von der einstigen Größe der Baumaßnahme gaben. Zielstrebig näherte er sich nun den aufstrebenden grauen Felswänden und suchte die Stelle, wo die Gleise der Schmalspurbahn endeten oder besser noch, in sie hineinführten.

Das von Rost fast dunkelbraune Tor lag in einer schwachen Senke. Tatsächlich führte die ehemalige Trasse, nach einigen Verzweigungen auf dem Baugelände, dorthin. Es war ein wirklich mächtiges Tor. Aber die Entdeckung hatte einen Haken. Eine gewaltige Sprengung begrub das Stahltor einst. Unter Felsmassen verschüttet schaute nur seine schmale Oberkante aus dem angehäuften Steingewirr heraus. Zweifellos war es aber der von ihm gesuchte Stolleneingang. Wolf kletterte auf den schräg am Hang liegenden Haufen zerborstenen Gesteins, den die Detonation abgerissen hatte. Da war nichts zu machen. Die Felstrümmer lagen ineinander verkeilt und hatten derartige Größen, daß allenfalls mit schwerer Technik geräumt werden könnte. Es zeigte sich aber auch nicht das kleinste Schlupfloch.

Er stieg zwischen den Brocken umher, nahm nochmals das herausschauende obere Ende des Tores in Augenschein und versuchte mit der Taschenlampe in einen mehr als schmalen Spalt zwischen dem Stahl und Gestein hineinzuleuchten. Der Lichtkegel verschwand im Dunst des dunklen Stollens, ohne auf irgendein Hindernis zu treffen. Doch nun war guter Rat teuer. Er konnte hier nicht hinein. Und die Mittel, den Stollenzugang gewaltsam zu öffnen, standen ihm nicht zur Ver-fügung. Was hatte Meurat ihm da nur für Angaben gemacht!

Der Pfad

Wieder kam ein Tier aus dem Wald, diesmal ein Reh. Es lief zielstrebig über die verwüstete Baustelle an den Felsen und folgte dann einem Wildpfad, der offenbar auf die Höhe der Wände führte. Aufmerksam schaute Wolf ihm nach. Das rotbraune Tier ver-schwand nach einiger Zeit tatsächlich oben im grauen Felsgewirr. Ein Bussard kreiste im Blau des Himmels, und in den Wäldern begannen die Vögel ihr Morgenlied zu zwitschern. Eine rechte Naturidylle, wären da nicht die Spuren der Menschen gewesen, die hier vor vielen Jahren rücksichtslos tiefe Wunden in die Berge geschlagen hatten. Als ob das scheue Tier im etwas zeigen wollte, machte er sich auf dessen Spur. Vorsichtig durchquerte er das dichte Grün am Hang. Deutlich vor ihm der lockere Boden des Wildpfades. Der Anstieg war nicht übermäßig steil. In leichten Serpentinen wand sich der schmale Steig in die Höhe. Mitunter verlor er sich auf Gesteinsflächen, dann wieder lief er über Moos. Schließlich kam er auf dem Plateau über den Felsen an, etwa 50 Meter unter ihm lag nun der alte Bauplatz und das verschüttete Tor. Wolf sah sich erneut aufmerksam um. Hier oben war die dünne Humusschicht des Waldbodens trocken und mit Gesteinsgrus durchsetzt. Das kleine Plateau, auf dem er stand, war nur spärlich mit gelben Gras und einigen kleinen Kiefern bewachsen. Erst auf der dem Abhang gegenüberliegenden Seite wurde der Wald wieder dichter. Und dort war etwas. Wolf glaubte erst, es wäre das Wild, das dort seinen Weg fortsetzte. Beim Näherkommen sah er aber, daß es sich um einen Trampelpfad handelte, der sich hier als helle Linie durch Moos und Gras in den Wald wand. Der schmale, mitunter kaum sichtbare Weg war nicht sehr oft begangen. Aber irgend jemand hatte hier seine regelmäßige Spur hinterlassen ... Wie ein Indianer pirschte Wolf nun dem Pfad nach. Vergessen war die Zeit. Er mußte auf jeden Fall den Punkt finden, zu dem dieser ominöse Steig hinführte. ‚Hoffentlich komme ich so auch an das Ziel‘, überlegte er. ‚Nicht, daß ich in falscher Richtung laufe und der Weg sich auf irgendeinem fernen Abhang verliert ...‘

Doch er hatte Glück. Nach etwa fünfzehn Minuten vorsichtigem Gehens, wobei er plötzlich und überrascht auf eine betonierte Straße traf, die anscheinend seit Kriegsende nicht mehr befahren war und aus deren breiten Rissen schon dichtes Unkraut sproß, traf der kleine Weg auf eine Stelle, wo er nicht mehr weiterführte. Es war unweit der geheimnisvollen Straße im dichten Wald. Eine alte Wasser-zisterne erhob sich hier und daneben verfallenes Gemäuer. Wolf setzte sich auf zerbröselnde Mauersteine, ruhte aus und besah dabei genau die sich vor ihm öffnende kreisrunde Anlage. Sie war etwas über zwei Meter tief und maß sicher an die 20 Meter im Durchmesser. Der Boden war mit Ziegelschutt, verfaulendem Laub und Moos bedeckt. Hier sammelte sich noch immer die Feuchte der umliegenden Wälder. Sicherlich sollte die Zisterne als Wasser-speicher für tief unten im Fels liegenden Bunkersysteme dienen. Das alte Mauerwerk daneben war sicherlich ein Art Pumpenhaus oder Elektrostation gewesen.

‚Dann gab es von hier vielleicht eine Verbindung in die Tiefe‘, überlegte Wolf. Und daß der geheimnisvolle Pfad hier endete, machte ihn ohnehin stutzig. Er stand wieder auf und betrachtete den Boden genauer. Inmitten des verbrochenen Mauerwerks am Rande der Zisterne wuchsen schon kräftige Büsche. Das war seltsam. Sie sahen aus, als ob sie schon seit recht langer Zeit hier gediehen. Selbst ein nicht mehr ganz junger Baum sproß aus den Betonbrocken und verdeckte das Innere der eingefallenen Ruine. Überhaupt standen hier einfach zu viele Büsche und Bäume herum, die so schnell nicht nachgewachsen sein konnten. In Wolf kam immer mehr der Verdacht auf, daß diese Vegetation nichts anderes als nachträglich angelegte Tarnung war. Mit Macht zwängte er sich jetzt durch die Büsche. Von dem kleinen Bauwerk am Rand des Wasserbehälters war wirklich nicht mehr viel übrig. Seine ehemaligen Grundmauern ragten noch etwa einen halben Meter aus hohem Gras und Erdhaufen heraus. Überall verstreut Ziegelsteine und Putzreste. Doch während sich sonst schon dichtes Gras und Unkraut durchgehend auf den baulichen Relikten ausgebreitet hatte, lagen hier an einer Stelle in einer unauffälligen und kaum noch als solche zu erkennenden Mauernische die roten Brocken fast blank und frisch am Boden. Wolf sah nun ganz genau hin und glaubte gar, im roten Gesteinsgrus schwache Fußabdrücke zu erkennen. Doch die stammten keineswegs von ihm ... Sein Herz begann automatisch schneller zu schlagen. Welcher Unbekannte trieb sich hier eventuell noch in seiner Nähe herum? Diese Frage ließ ihm keine Ruhe. Vorsichtig zwängte er sich erneut durch die Büsche nach draußen und suchte den Wald in der Umgebung der Zisterne sorgfältig nach weiteren Hinweisen ab. Doch er konnte nichts feststellen. Halbwegs beruhigt kehrte er zurück und begann jeden einzelnen Ziegelstein umzuwenden, bemüht, dabei so leise wie möglich zu bleiben. Es dauerte daher eine Weile, bis er das Stahlluk fand. Es saß tief unten in einer Wand der Mauernische, die es gut schützte. Wo früher ein stabiler Handhebel zum Öffnen war, befand sich jetzt allerdings nur noch ein gewaltsam abgebro-chenes Stahlende. Es gab aber die Öffnung für ein großes Vierkanteisen. Diese zeigte im Inneren keinerlei Rostansätze und sah eher aus, als würde sie noch immer mechanisch beansprucht ...

 

Das nutzte Wolf allerdings nichts. Hatte er doch kein Werkzeug dabei, mit dem er den primitiven aber nichtsdestotrotz stabilen Verschlußmechanismus wirksam hätte zu Leibe rücken können. Leise fluchend setzte er sich nochmals auf die inzwischen von der Sonne leicht angewärmten Schuttbrocken. Ein bunter Falter gaukelte um Gräser und das niedergelegte Mauerwerk, und ein Specht begann sein unregelmäßiges Tackern im nahen Wald. Das dunkle Schott in der Nische schien ihn höhnisch anzugrinsen. Und fast körperlich glaubte er zu spüren, daß ringsum meilenweite Einsamkeit herrschte.

Doch nun mußte er vorerst zurück. Die Zeit war bei der Suche hingegangen. Immer mehr machte sich auch der Magen bemerkbar, nach einer baldigen Mahlzeit verlangend. Das verborgene Schott bekam er eh‘ nicht auf. Da mußte geeignetes Werkzeug herbei. Wolf wandte sich also dem Rückweg zu.

Vorsichtig benutzte er den schmalen Pfad, der ihn schon hierher geführt hatte. Bald überquerte er inmitten der hier ebenfalls dichten Bergwälder wiederum die ominöse alte Straße und erreichte schon etwas außer Atem das Plateau des Steilhangs, unter dem die Baustelle mit dem verschütteten Tor lag. Hier verweilte er kurz hinter verwitterten Felsklippen, ehe er seinen Abstieg begann.

Währenddessen rollte in der Tiefe des Steinberges die Draisine die letzten Meter knirschend über das Gleis des dunklen Tunnels. Ihr Benutzer hatte auch dieses Mal gebetet, daß ihn dieses einfache, aber perfekt konstruierte Fahrzeug nicht im Stich lassen möge. Immerhin überbrückte er damit mühelos eine unterirdische Strecke von nahezu zwei Kilometern. Wieder war ein kleiner Bahnhof aufgetaucht. Der schmale Bahnsteig aus dunklem Beton glänzte feucht im spärlichen Schein der wenigen Lampen, die automatisch aufflammten, als die Draisine über einen Schienenkontakt rollte. Kommandant Hahnfeld stieg aus seinem Gefährt und verschwand in einem schmalen Seitengang. Hier lag eine der wenigen streng geheimen Personenschleusen die verblieben, nachdem man den Zugang zu diesem, im Durchmesser ja relativ kleinen Fahrstollen noch während der Bauphase für immer verschloß, als alle seine technischen Einrichtungen installiert und erfolgreich auf Funktionstüchtigkeit getestet waren. Zuerst überprüfte Hahnfeld die Arbeit der Außenkamera. Auf dem Kontrollpult, das sich in einer ausgekleideten Nische neben dem Bahnsteig befand, leuchtete langsam ein kleiner Bildschirm auf. Trübe zeigte sich auf ihm die Außenwelt. „Das Objektiv muß wieder gesäubert werden“, brummte Hahnfeld laut. Er erwischte sich in letzter Zeit häufig dabei, seine Gedanken in der ihn umgebenden Stille zu äußern. „Ich werde doch nicht eines Tag‘s als armer Irrer hier im Berg umherspuken...“, meinte er besorgt zu sich selbst. Dann betrachtete er wieder interessiert das Abbild der Außenwelt auf dem Bildschirm. Die sehr gut versteckte Kamera zeigte ihm mit ihrem Weitwinkel die sich jetzt als besseren Steinbruch darstellende ehemalige Baustelle. Kein Lebenszeichen regte sich hier. Auch in den nahen dunklen Waldrändern machte sich keine ungewohnte Bewegung bemerkbar. „Wir haben sie wirklich gut verscheucht‘, grinste Hahnfeld in Gedanken. ‚Die werden sich bis in die nächste Generation nicht ohne Zittern in diese Berge wagen ...‘ Das empfindliche Außenmikrofon, das eben nur das sanfte Säuseln des Windes und das Rauschen der alten Baumkronen übermittelt hatte, ließ plötzlich das Poltern herabstürzender Gesteinsbrocken vernehmen. ‚Wahrscheinlich nur wieder irgendein Tier‘, merkte Hahnfeld auf, blieb aber noch am Bildschirm.

Vorsichtig kletterte Wolf den steinigen Abhang hinab. Er wählte nicht den schmalen Wildpfad als Abstieg, sondern wollte auf kürzesten Weg wieder zum ehemaligen Arbeitsplateau der verlassenen Baustelle gelangen. Fast wäre er hinabgeschlittert, als sich plötzlich das lose Gestein unter seinen Füßen löste. Im letzten Augenblick konnte er sich abfangen und blieb erleichtert auf dem Hosenboden sitzen. Rechts neben ihm glänzte in einer Felsnische plötzlich etwas kurz auf. Vorsichtig schaute er in diese Richtung und glaubte, im Schatten des Gesteins, so etwas wie das Okular eines Fernglases oder Winkelbeobachtungsgerätes gesehen zu haben.

Spielten ihm jetzt seine Nerven einen Streich? Oder da war wirklich eine Art Beobachtungsgerät? Doch wer, in Gottes Namen, sollte es heute noch bedienen? Stimmte etwa die Mär, daß die ‚Alten‘ noch immer über ihre Geheimnisse wachten?

Sicherheitshalber schmiegte er sich dichter an die warmen Felsbrocken und schob sich vorsichtig nach links weg. Er mußte hier keinesfalls vorzeitig entdeckt werden, von wem auch immer. Erst als er wieder durch den Wald die ehemalige Bahntrasse erreicht hatte, fühlte er sich wieder etwas sicherer. Bis dahin kam es ihm irgendwie vor, als spüre er einen unheimliche Beobachter in seinem Rücken ...

Nach dem er auch den verwilderten Bahndamm hinter sich hatte und den Umschlagplatz inmitten der Bergwälder erreichte war er froh, sein Auto an dem Ort vorzufinden, an dem er es vor rund zwei Stunden zurückließ. Erneut schaute sich Wolf aufmerksam um. Doch er konnte kein Lebewesen entdecken. Das mußte jedoch hier nichts bedeuten. Die felsigen Hänge ringsum, der dichte Wald und das unübersichtliche Lagerplatz- und Bahngelände boten einem heimlichen Beobachter genügend Möglichkeiten, sich unauffindbar zu verbergen. In der Geborgenheit des Wagens fröstelte es Wolf ein wenig. Ein unbehaglicher Schauer lief ihm über den Rücken, wenn er an die noch bevorstehenden Abenteuer dachte. Mit leise brum-menden Motor und verminderter Geschwindigkeit fuhr er das Fahrzeug durch die desolaten Barackenreste und verrottenden Materialstapel zurück in Richtung Waldstraße. Erst als er die dunklen Bäume links und rechts des Wagens sah und er die leicht abfallende Bergstrasse in Richtung des noch fernen Burgstadts rollte, machte sich wieder so etwas wie ein Gefühl von Sicherheit in ihm breit.