Die Verschwundenen

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Felder oder mit dem Rücken zur Welt

Als ich beim Nachhausekommen meine Post aus dem Briefkasten holte, erkannte ich auf einem Kuvert sofort Felders Handschrift. Sie hatte auch etwas Unverwechselbares. Es war die Schrift eines Kindes, die Buchstaben ungelenk und unsicher, und die Zeile halten konnte Felder auch nicht. Ich war so neugierig, dass ich den Brief noch im Stiegenhaus aufriss.

Letzten Sommer waren es sieben Jahre, dass Felder nach Cambridge gegangen war. Er hatte in Wien seinen Doktor in Philosophie und Geschichte gemacht, doch dann war, kurz nach der Promotion, sein Vater gestorben. Felder hatte seinen Vater abgöttisch geliebt und verschwand nach dessen Tod spurlos. Für Wochen hörte und sah ich nichts von ihm. Ich rief ihn mehrmals an, er hob aber nicht ab. Ich fuhr auch zu seiner Wohnung, läutete und wartete anschließend eine Stunde auf der Straße. Ich starrte immer wieder hinauf zu seinem Fenster, konnte aber nicht einmal einen Schatten hinter den zugezogenen Vorhängen entdecken. Dann rief er eines Tages an. Er klang so beiläufig, als hätten wir uns erst gestern das letzte Mal gesehen, und schlug ein Treffen vor. Wir verabredeten uns für den Abend im Weidinger, seit der Schulzeit unser Stammcafé. Bei billigem Weinbrand erzählte mir Felder, dass er dem Ruf nach Cambridge folgen würde. Es gäbe da ein Forschungsprojekt, das wie auf ihn zugeschnitten sei. Über das Thema der Arbeit könnte er noch nicht sprechen, das Vorhaben würde aber mindestens fünf Jahre in Anspruch nehmen. Für den Umzug nach England wäre schon alles vorbereitet. Seine Wohnung hätte er aufgegeben und den größten Teil seines Besitzes verkauft, sodass er nur einen Koffer als Umzugsgepäck hätte. Nicht anders, als würde er auf eine Reise gehen. Ich nahm an, dass Felder wegen seiner brillanten und auf Englisch verfassten Doktorarbeit eine Assistenzstelle in Cambridge angeboten worden war. In dieser mehr als vierhundert Seiten umfassenden Schrift The Dandys of Revolution, einer Doppelbiografie über Karl Marx und Friedrich Engels, vertrat Felder die These, dass erst der Hedonismus und die dandyhaften Allüren es den beiden Männern ermöglicht hätten, ihre sozialen Ideen zu entwickeln. Solche Ideen hat man nicht mit schmutzigen Fingernägeln, sagte Felder damals. Irgendwann erwähnte er auch , dass Friedrich Engels nach dem Tod von Karl Marx dessen Werke herausgegeben hatte, weil Marx selbst an dieser Aufgabe gescheitert war.

In dem Brief, den ich ungeduldig noch im dämmrigen Licht des Stiegenhauses las, schrieb Felder, dass seine Studien so gut wie beendet seien. Nicht, weil sein Opus Magnum auch tatsächlich abgeschlossen sei, sondern weil er im Sterben liege. Er habe Krebs, und von dem halben Jahr Lebenserwartung, das ihm die Ärzte ursprünglich prophezeit hatten, sei nicht mehr viel übrig. Und dann schrieb er, dass er mich sehen wolle.

Ich kannte Felder, seit ich zehn war. Wir waren zusammen aufs Gymnasium gegangen. Lange Zeit wussten wir nichts miteinander anzufangen, erst mit fünfzehn oder sechzehn begannen wir mit unseren gemeinsamen Kaffeehausbesuchen. Fast täglich gingen wir nach der Schule hinüber ins Weidinger, wo wir Billard spielten, das Felder als seine Leibesübung bezeichnete. Tatsächlich weigerte er sich, noch irgendeiner anderen sportlichen Betätigung nachzugehen und ließ sich regelmäßig mit fadenscheinigen Ausreden und gefälschten ärztlichen Attesten vom Turnunterricht befreien. Wenn er doch einmal mitmachen musste, konnte man sicher sein, dass er noch in der ersten Minute des Aufwärmens mit einem vermeintlich lädierten Knöchel aus dem Turnsaal humpeln und den Rest der Stunde in der Garderobe verbringen würde, lesend. Felder trug immer ein Buch bei sich, nie in seiner Schultasche, sondern immer direkt am Körper. Entweder in seiner Jacken- oder Hosentasche oder überhaupt in der Hand.

Es war gar nicht einfach, auf die Schnelle einen halbwegs erschwinglichen Flug zu finden. Ich buchte schließlich ein Ticket für eine Maschine, die am nächsten Tag um neun von Bratislava aus nach London Stansted fliegen würde. Von Stansted aus gab es dann, laut Felder, einen direkten Zug, der mich in weniger als einer Stunde nach Cambridge bringen würde. Ich wollte mir das frühe Aufstehen am nächsten Morgen ersparen und fuhr deshalb schon am Abend nach Bratislava. Ich fand eine günstige Pension auf halbem Weg zwischen Stadt und Flughafen, direkt an der Endstation der Trolleybuslinie 204. Die einzigen Gäste außer mir waren zwei ältere Russen, beide schwarz gekleidet und grauhaarig, die bei meinem Kommen im Aufenthaltsraum neben der Rezeption bei einem Bier zusammengesessen waren und das Zimmer neben meinem bewohnten. Sie unterhielten sich bis Mitternacht, nicht laut, die Wände waren aber dünn, und so hörte ich ihr Gespräch mit, ohne jedoch ein Wort zu verstehen. Mir fielen die langen Pausen auf, für mich ein Zeichen für die Vertrautheit, die zwischen ihnen herrschte. Felder und ich, wir würden uns nie als alte Männer Nächte in fremden Hotelzimmern mit endlosen Gesprächen um die Ohren schlagen. Felder würde sterben. In wenigen Wochen schon.

Am nächsten Morgen ging ich ohne Frühstück aus dem Haus. Ich wollte unterwegs einen Tee trinken, fand mich aber in einem Industriegebiet wieder, wo es außer Tankstellen, Werkstätten und weitläufigen Fabrikgeländen nichts gab. An einer vierspurigen Ausfallstraße wartete ich schließlich auf den Bus zum Flughafen. Eine gute Viertelstunde saß ich auf der metallenen Bank des Wartehäuschens gegenüber einer von Pappeln umstandenen Werkshalle. Ein Stück die Straße hinunter kündigten haushohe Werbetafeln einen Supermarkt und eine Shopping-Mall an. Der Morgenverkehr zog an mir vorbei, eine junge Frau kontrollierte mit einem nervösen Blick in den Rückspiegel, ob sie die Spur wechseln konnte. Wer weiterkommen wollte, musste nach vorne und zurück schauen. Ich würde Felder nicht nur zum ersten Mal seit sieben Jahren wiedersehen, ich würde auch Zeuge seines endgültigen Verschwindens werden. Kurz wünschte ich mir, Felder wäre schon tot, und ich müsste nicht zu ihm, sondern nur zu seinem Begräbnis fliegen, denn bei aller Neugier auf Felder verursachte mir unsere Begegnung auch Unbehagen.

Wenn Felders Misanthropie gespielt war, dann war sie gut gespielt. Als einem Blinden einmal vor unseren Augen die Geldbörse auf die Straße fiel, ging er weiter und sah mir vom Gehsteig aus zu, wie ich die verstreut liegenden Münzen, Geldscheine und Plastikkarten aufsammelte. Als mich der Blinde schließlich mehr misstrauisch als verunsichert fragte, ob denn jetzt wirklich wieder alles in seiner Geldbörse sei, machte Felder ein Gesicht, als hätte er nichts anderes erwartet, ja als wäre Enttäuschung die einzig mögliche Folge eines einmal eingegangenen zwischenmenschlichen Kontakts.

Schon mit dem Erhalt seines Briefes war es mir vorgekommen, als zöge mich Felder hinüber in seine Welt, die nichts zu tun hatte mit dem Leben der anderen. Dieses Gefühl verstärkte sich noch, als ich im Flughafen London Stansted aus der Ankunftshalle hinunterging zum Bahnhof. Fast alle Passagiere drängten dort nämlich zu den Bahnsteigen eins und zwei, von denen aus alle paar Minuten die Züge nach London abfuhren, ich aber ging als einziger weiter zum abseits gelegenen Gleis drei. Der Zug stand schon da, würde aber erst in fünfzig Minuten losfahren und war deshalb noch versperrt. Ich studierte den Fahrplan. Die Fahrt nach Cambridge dauerte, genau wie Felder gesagt hatte, eine knappe Stunde. Der Zug würde anschließend weiterfahren Richtung Norden, über Petersborough und Leicester nach Birmingham.

Ich stellte meinen Rollkoffer neben einen Laternenmast und ging den Bahnsteig auf und ab. Über mir stiegen immer wieder Flugzeuge in den Himmel, und auf einer Grünfläche jenseits der Gleisanlagen standen mehrere Holzbänke und Holztische, an denen die Angestellten einer Cargo-Firma ihre Mittagspause hielten. Der Zug war vollständig mit einem Werbetransparent beklebt. Die gesamte Seitenfront sah aus wie die Benutzeroberfläche eines Internetbrowsers, und neben einer der noch immer verschlossenen Waggontüren fand sich ein Button mit der Aufschrift SEARCH. Heute, da ich die Entwicklung kenne, die meine Reise genommen hat, erscheint mir das wie eine zynische Bemerkung des Schicksals.

Im fast völlig leeren Zug suchte ich mir einen Platz am Fenster und holte die Zeitung heraus, die ich mir am Flughafen gekauft hatte. Ich schlug sie auf, schaute dann aber, als der Zug losfuhr, hinaus in die seltsam zeitlose Landschaft. Der Himmel war grau verhangen und gab keinerlei Aufschluss über die Tageszeit, und die Äcker waren frisch gepflügt, sodass es genauso gut Frühlingsbeginn hätte sein können und nicht Mitte Oktober. Dann entdeckte ich unmittelbar neben der Bahntrasse einen Wildhasen, ein Rebhuhn und schließlich eine ganze Schar Fasane, die völlig ungestört vom Lärm des vorbeifahrenden Zuges in meine Richtung starrten, so als blickten sie mich aus einem Märchen heraus an. Dunkel erinnerte ich mich an Geschichten aus meiner Kindheit, in denen Tiere am Wegesrand den Helden gewarnt hatten vor der von ihm eingeschlagenen Richtung. Der wählte daraufhin einen Umweg, was ihm das Leben rettete. Ich spürte, wie der Zug langsamer wurde, und gleich danach kündigte die Lautsprecherstimme den ersten Halt an. Ich stutzte, als ich den Namen der Ortschaft hörte, denn was ich verstand, war Oddly End, so als würde mir in einem holprigen Englisch mitgeteilt, dass ich auf ein seltsames Ende zusteuerte. Als wir einfuhren in die Station, konnte ich jedoch lesen, dass die Ortschaft den Namen Audley End trug, und ich fragte mich, was es wohl sei, das Felder von mir wollte. Sentimentalitäten waren seine Sache nicht, nie gewesen. Er hatte mich sicher nicht zu sich gerufen, um Abschied von mir zu nehmen.

 

Mir fiel ein Ausspruch Felders ein, der mir die ganzen Jahre hindurch so deutlich im Gedächtnis geblieben war, dass ich noch heute seine Stimme höre, ja den exakten Tonfall, in dem Felder diesen Satz gesagt hatte. Wir waren noch in der Schule, vielleicht sechzehn oder siebzehn Jahre alt, und Felder hatte damals gemeint, der bequemste Platz im Leben sei in der zweiten Reihe. Die Zugehörigkeit zu den Besten, egal ob in der Schule oder später im Berufsleben, hätte nämlich ganz unzweifelhaft lästige und die Existenz korrumpierende Zwänge zur Folge. Der geordnete Rückzug sei deshalb die einzig vernünftige und auch von ihm angewandte Strategie. Tatsächlich hatte er in den ganzen acht Jahren, in denen wir Klassenkollegen waren, nicht ein einziges Mal auf eine mündliche oder schriftliche Arbeit ein Sehr gut bekommen, dabei hatte er aber genauso in den ganzen acht Jahren keine einzige falsche Antwort gegeben oder geschrieben. Stattdessen hatte er die jeweils letzte Frage immer mit einem kurzen Ich weiß nicht beantwortet. Dieses Ich weiß nicht schloss aber so nahtlos und ohne jedes Nachdenken an die Frage des Lehrers an, dass es für jeden augenscheinlich war, dass Felder sich einfach weigerte, die richtige Antwort zu geben. Mit dem Studium ließ er diese Angewohnheit allerdings fallen. Dort gehörte er von Anfang an zu den Besten.

Ich traf kurz nach Mittag in Cambridge ein. Felder hatte gemeint, dass die Besuchszeit im Krankenhaus erst um sechzehn Uhr beginnen würde, mir blieb also noch Zeit. Ich spazierte die Straße hinunter auf der Suche nach einer günstigen Unterkunft und zog meinen Rollkoffer hinter mir her, der unangenehm laut über die Rillen des gepflasterten Gehsteigs holperte. Gleich hinter dem großen Parkplatz beim Bahnhof begann eine Wohngegend. Die Reihenhäuser aus Backstein unterschieden sich oft nur durch die Farbe ihrer Eingangstüren, die rot waren, gelb, blau und schwarz. Durch ein Fenster sah ich in ein Wohnzimmer, in dem eine Frau saß und Klavier spielte, ohne dass draußen etwas zu hören gewesen wäre. Als ich um die nächste Straßenecke bog, entdeckte ich auf der anderen Seite ein Bed & Breakfast und läutete. Eine Frau, geschätzte siebzig, öffnete mir die Tür. Sie hatte ein freies Einzelzimmer, das nach hinten hinausging in den Garten. Ich nahm das Zimmer, stellte aber nur mein Gepäck ab und spazierte dann weiter hinein in die Stadt. Bei einem seiner seltenen Anrufe hatte Felder einmal von der Wren-Library im Trinity-College geschwärmt. Nicht nur der Raum sei beeindruckend, hatte Felder damals gemeint, in einer Glasvitrine seien auch zwei originale Notizbücher Wittgensteins ausgestellt, der hier eine Stelle als Professor für Philosophie innegehabt hatte. Am Vordereingang des Trinity-College stand ein Mann in weißem Hemd, auf dem Kopf trug er eine Melone. Der Haupteingang sei den Studierenden vorbehalten, sagte er, Besucher, die in die Bibliothek wollten, müssten den Hintereingang beim Fluss nehmen.

Die Wren-Library blickte auf einen Hof mit englischem Rasen. Ich erinnerte mich an ein Schreiben Felders, in dem er gemeint hatte, dass die Engländer den Garten als den Ort des Geistes wiederentdeckt hätten. Der perfekt gestutzte Rasen sei nämlich wie gemacht, so Felder damals, um darauf zu denken, denn der millimetergenaue Schnitt des Rasens habe zweifellos ein millimetergenaues Denken zur Folge.

Ich folgte den steinernen Stufen in den ersten Stock, wo eine schmale, hohe Holztür in den langgestreckten Raum der Bibliothek führte. Die Regale waren in Buchten angeordnet, und vor ihnen fanden sich die von Felder erwähnten Vitrinen, die, zum Schutz der Originalmanuskripte vor dem Sonnenlicht, mit roten Stoffbahnen abgedeckt waren. Gleich in der ersten entdeckte ich neben den Skizzen von Alan Alexander Milne, dem Erfinder des Bären Winnie-the-Pooh, die Notizbücher Wittgensteins. Wittgensteins Handschrift war alles andere als schön und erinnerte mich mit ihren klobigen Buchstaben, die ungeordnet über die Zeilen tanzten, an die Handschrift Felders. Wenn man sich vor der Wahrheit fürchtet (wie ich jetzt), so ahnt man nie die volle Wahrheit, hatte Wittgenstein über eine halbe Seite hinweg geschrieben. Daneben der pausbackig lächelnde Bär.

Bei unserem letzten Telefongespräch, das sicher drei Jahre zurücklag, hatte mir Felder erzählt, dass er wie ein Einsiedler lebe. Er genieße es, den Kontakt mit seinen Mitmenschen auf ein Minimum zu reduzieren. Von einer Bekanntschaft oder Freundschaft, irgendwelchen Affären oder gar einer festen Beziehung erwähnte er nichts. Es schien, als habe er sein Ideal des völlig zurückgezogenen und nur in seinen Büchern lebenden Intellektuellen verwirklicht. Er sagte wortwörtlich, dass es wunderbar sei, niemanden zu kennen.

Auch während seiner Zeit in Wien hatte Felder nie eine feste Beziehung gehabt, nicht dass ich wüsste. Die Libido ist stark, hatte er einmal gesagt, aber so stark ist sie nicht. Er räumte seinem Sexualtrieb auch nicht mehr Rechte ein als seiner vollen Blase. Verspürte er einen Drang, wie er es ausdrückte, verbrachte er den Abend auswärts. Ich begleitete ihn einmal und staunte dann nicht schlecht, denn mit derselben Sicherheit, mit der er als Historiker Jahreszahlen oder Namen gespeichert hatte, hatte er auch die Miene, die Körperhaltung und die Gesten gespeichert, die notwendig waren, um jemanden zu verführen. Tatsächlich dauerte es keine fünf Minuten, bis er an jenem Abend mit einer schlanken Brünetten in Kontakt kam. Die Menschen denken und reden vielleicht kompliziert, sagte Felder einmal, aber sie verhalten sich einfach. So einfach und durchschaubar, dass es peinlich ist, setzte er hinzu und meinte dann noch, dass es komplizierter wäre, Pflanzen bei Laune zu halten als Menschen. Bei ihm hätte trotz aufopfernder Pflege noch keine Zimmerpflanze länger als eine Woche überlebt, dass einem ein Mensch eingeht, wäre hingegen nur mit gröbster Fahrlässigkeit möglich.

Felder hatte mir den Weg zum Bakersfield Hospital genau beschrieben. Ich folgte der Mill Road Richtung Süden, indische und chinesische Take-Away-Lokale reihten sich aneinander, eine Brücke führte über die Trasse der Eisenbahn, später überquerte ich die Madras Street, die Cyprus Street und die Suez Street. Fast war es, als führte der Weg zu Felder um die halbe Welt. Das Bakersfield Hospital erinnerte eher an eine Ferienanlage als an ein Krankenhaus. In einem weitläufigen Park standen mehrere Bungalows verteilt, die verschiedene Namen trugen. Das Arthur House, in dem Felder lag, fand sich ganz am Ende des Areals. Schon von Weitem entdeckte ich die drei Kiefern, von denen Felder geschrieben hatte, dass sie vor seinem Fenster stünden.

Ich wusste kaum etwas über Felders Familie, nur dass er nie viel Geld gehabt hatte. Gingen wir in unserer Studentenzeit gemeinsam essen, entschied er sich immer für die billigsten Lokale. Doch ganz egal wo wir schließlich landeten, setzte Felder sich stets mit dem Gesicht zur Wand. Mit dem Rücken zur Welt, sagte er einmal, sonst schmeckt mir das Essen nicht.

Ich erschrak, als ich Felder sah. Nicht, weil er so gezeichnet war von seiner Krankheit, sondern weil sie, im Gegenteil, nicht die geringsten Spuren zeigte. Das dichte braune Haar, das völlig faltenlose Gesicht, die regen, überhaupt nicht glasigen Augen, alles genau wie ich es in Erinnerung hatte.

Schulz, sagte Felder, danke fürs Kommen, und schien überhaupt nicht überrascht, mich zu sehen.

Gut schaust du aus, meinte ich ganz spontan, und Felder nickte und erzählte, dass ein schwuler Krankenpfleger ihm den Spitznamen Dorian Gray gegeben habe.

Weil ich mich trotz meines Dahinsterbens überhaupt nicht verändere, sagte Felder. Vor dem Spiegel habe ich das Gefühl, die Zeit würde stillstehen, was seltsamerweise auch für einen Sterbenden nur schwer zu ertragen ist.

Felder lag in einem Einzelzimmer. Ruhig hast du es hier, sagte ich, ging zum Fenster, schob den Vorhang zur Seite und sah hinaus. Ein leichter Nebel hing in den Kiefern und lag über dem Rasen. Eine Patientin im weißen Bademantel schien mit ihren langsamen Schritten wie ein Geist auf dem Dunst zu schweben. Ich habe meine Wohnung verkauft, um mir dieses Einzelzimmer leisten zu können, erzählte Felder. Nach einem Leben allein wollte ich mich zum Sterben nicht in einen Schlafsaal legen.

Felder war, während er sprach, immer tiefer in sein Polster gesunken. Jetzt griff er mit seinen feingliedrigen Fingern zu dem Galgen über seinem Bett und zog sich hoch. Als er fast aufrecht dasaß, zeigte er hinüber zu zwei Tragetaschen aus dem Supermarkt, die neben seinem Schrank auf dem Boden standen.

Meine Studien, sagte Felder, alles, was ich in den letzten sieben Jahren zusammengetragen habe. Mein vergängliches Denken, zusammengehalten von unvergänglichem Polyäthylen.

Wie Felder dann erzählte, bestanden seine über die letzten sieben Jahre hindurch geführten Aufzeichnungen ausschließlich aus ganz genau ausgewählten Zitaten. Beim Lesen hatte ich immer sofort gewusst, was in meine Arbeit gehörte und was nicht, so Felder, ohne aber auch nur die geringste Ahnung zu haben, was denn das Thema meiner Arbeit sein könnte und wie sich all das in Kapitel gliedern lassen könnte. Dabei bin ich mir sicher, dass meine Arbeit ein Thema hat, dass ich also eine ganz konkrete Fragestellung verfolgt habe, und dass einem anderen diese Fragestellung bei Durchsicht meiner Aufzeichnungen auch sofort klar werden würde.

Felder sank wieder in sein Polster zurück. Auch wenn seinem Gesicht keinerlei Erschöpfung anzusehen war, mussten ihn allein das Aufrechtsitzen und das Sprechen ungeheuer anstrengen.

Mir fehlt also jemand, der meinen Aufzeichnungen einen Titel gibt und sie gliedert. Und nach reiflichen Überlegungen bin ich zu dem Schluss gekommen, dass du der Mensch bist, der diese Aufgabe erfüllen wird, sagte Felder, so als könnte ich gar nicht anders, als seinen letzten Wunsch zu erfüllen.

Felder betätigte den roten Knopf der Schaltvorrichtung, die über seinem Bett baumelte, woraufhin, kaum eine Minute später, die Schwester im Zimmer erschien und er mich bat, kurz draußen zu warten. Als ich am Gang stand, fiel mir auf, dass auf dem Namensschild neben seiner Tür Ravenscraft stand. Als die Schwester mit der Bettpfanne Felders Zimmer verließ und ich wieder hineinging zu ihm, sprach ich ihn darauf an.

Da steht ein falscher Name an deiner Tür, sagte ich.

Ich weiß, sagte Felder, so hieß der Mann, der vor mir in diesem Zimmer gelegen ist. Ich habe ihnen gesagt, sie sollen den Namen dort lassen. Als ein anderer stirbt es sich leichter.

Das Fenster stand offen. Trotzdem roch ich noch die Mischung aus Kot und Desinfektionsmittel. Felder hatte jetzt die Plastiktragetaschen mit seinen Aufzeichnungen vor sich auf dem Bett stehen. Die Schwester musste sie ihm hinaufgehoben haben.

Dass ein Leben in zwei Taschen passt, noch dazu in zwei billige Plastiksäcke aus dem Supermarkt, sagte Felder, ist beruhigend und verstörend zugleich. Hätte ich als 18-Jähriger gewusst, dass ich in meinem Leben nicht mehr zu tun habe, als zwei Taschen mit Aufzeichnungen zu füllen, hätte mich das sicherlich entspannt. Andererseits frage ich mich schon hin und wieder, ob ich nicht etwas hätte schaffen sollen, das nicht in irgendwelche Taschen passt.

Felder schwieg jetzt und schaute aus dem Fenster. Ich hatte mich wieder auf den Sessel an seinem Bett gesetzt und wollte ihm schon anbieten, ihn ausruhen zu lassen und besser morgen wiederzukommen, als er sich zu mir drehte und ein bekanntes Schmunzeln über sein Gesicht huschte. Beim Billardspielen im Weidinger hatten wir die Angewohnheit gehabt, uns gegenseitig skurrile Anekdoten zu erzählen, von denen wir irgendwo gelesen hatten, und ganz so wie damals begann Felder jetzt ansatzlos, von einem Phineas Gage zu berichten, der Ende des 19. Jahrhunderts als Sprengmeister für eine amerikanische Eisenbahngesellschaft tätig war. Bei einer von ihm selbst herbeigeführten Explosion trat ihm eine drei Zentimeter dicke Eisenstange von unten durch die linke Wange in den Kopf und erst durch das Stirnbein wieder aus dem Schädel heraus. Gage erlebte den ganzen Unfall mit, ohne auch nur für eine Sekunde das Bewusstsein zu verlieren. Auch später konnte er sich minutiös an den Unfallhergang erinnern und gab bereitwillig, ja stolz, Auskunft darüber. Ebenso selbstbewusst ließ er sich auch fotografieren. So ist ein Bild überliefert, das ihn zeigt mit strengem Seitenscheitel, dem geschlossenen Lid über der seit dem Unfall leeren linken Augenhöhle und auch mit der mehr als einen Meter langen Eisenstange, die er wie ein Zepter neben seinem Körper hält. Gage galt als medizinisches Wunder, da trotz massiver Verletzungen im Frontalhirn seine körperlichen und auch seine intellektuellen Fähigkeiten nach einer nur kurzen Genesungszeit wieder völlig intakt waren. Hingegen zeigten sich auffallende Persönlichkeitsveränderungen, da der vorher als äußerst besonnen und ausgeglichen geltende Gage sich nach dem Unfall oft kindisch und impulsiv gebärdete. Als so beachtlich galt sein Fall, dass von seinem Kopf nicht wie sonst üblich eine Totenmaske, sondern tatsächlich eine Lebendenmaske angefertigt wurde, die bis heute erhalten ist und ganz deutlich die Narbe des Eintritts der Eisenstange unter dem linken Jochbein und das zertrümmerte Stirnbein fast am Scheitelpunkt des Schädels erkennen lässt.

 

Interessant ist auch, so Felder weiter, dass Phineas Gage die Eisenstange Zeit seines Lebens immer mit sich führte. Das hat mich an einen ähnlichen Fall in meinem Bekanntenkreis erinnert. Dieser Mann wäre beinahe an einem Blinddarmdurchbruch gestorben, und er führte vom Tag seiner lebensrettenden Operation an stets den entfernten Wurmfortsatz in einer verschweißten und bruchsicheren Kunststoffphiole mit sich. Tatsächlich scheint es, so Felder, dass das, was uns beinahe das Leben gekostet hätte, wie ein Amulett betrachtet wird, das uns fortan vor dem Tod bewahren soll. Glücklich Genesene sind offensichtlich anfällig für das Irrationale. Insofern muss ich noch froh sein, dass mein Krebs inoperabel ist, sonst hätte ich jetzt vielleicht ein Einmachglas mit meinem Tumor auf dem Nachtkästchen stehen und würde ihn morgens und abends anbeten.

Wir sagten nichts, und durch die Stille wurde die Luft wie zum Schneiden. Jetzt eine Partie Billard im Weidinger, sagte ich, das wäre es. Felder nickte und drehte den Kopf wieder zum Fenster. Ein Windstoß blähte den weißen Vorhang, und ich sah, dass Felder sich auf die Unterlippe biss. Ich musste an Philip und Raffael denken, die zwei Klassen über uns waren und regelmäßig ins Weidinger kamen zum Schachspielen. Philip galt unter den Lehrern als verstecktes Genie, und Raffael wich nicht von seiner Seite. Mich zogen meine Klassenkameraden oft damit auf, dass Felder und ich die beiden abkupferten, wobei Felder dabei natürlich das Genie war und ich der Lakai. Felder gegenüber sagten sie aber nie etwas. Felder ließen sie in Ruhe.

Weißt du, was Schluckbildchen sind?, fragte ich Felder jetzt, weil ich auch noch meine skurrile Geschichte anbringen wollte. Felder schüttelte den Kopf und schaute zu mir. Er atmete schwer, und ich sah, wie sich sein Brustkorb langsam hob und senkte.

Das sind kleine Papierschnipsel, sagte ich, bedruckt mit einem Heiligenbild. Die nahm man gegen bestimmte Krankheiten ein. Im Mittelalter hat man damit angefangen, am Land soll der Brauch aber noch immer gepflegt werden. Früher gab es noch große Papierbögen mit den verschiedensten Heiligen darauf, sodass man für jedes Leiden den richtigen ausschneiden und schlucken konnte. Später hat man auch Fotos von bekannten Predigern hergenommen, sie in Wasser gelegt und anschließend die Flüssigkeit getrunken. Daneben gab es auch Esszettel, die mit magischen Zeichen, Gebeten oder Bibelzitaten beschrieben waren und die man in Brot eingebacken und Kranken verabreicht hat.

Ich wollte noch erzählen, dass die Bauern auch dem Vieh solche Esszettel ins Futter gemischt haben gegen Tollwut oder Milzbrand, als mir mit einem Mal Felders Grinsen auffiel, ein zynisches Grinsen, das mich verunsicherte.

Was?, fragte ich.

Nichts, sagte Felder, ließ das zynische Grinsen aber in seinem Gesicht stehen, bis mir klar wurde, was er meinte. In meiner Erzählung über die Schluckbildchen und Esszettel hatte ich versucht, genauso zu klingen wie Felder. Ich hatte im annähernd gleichen Rhythmus gesprochen wie er und seinen ironischen Tonfall imitiert. Dass ich Felder in der Schulzeit nachgeahmt hatte, war mir klar gewesen, dass ich aber möglicherweise nie aufgehört hatte damit, diese Erkenntnis traf mich jetzt wie ein Schlag. Auf fast unheimliche Weise steckte Felder mir in Leib und Knochen, und die einzige Möglichkeit, von ihm loszukommen, bestand wohl darin, ihn ein einziges Mal zu übertrumpfen. Ich musste etwas schaffen, das er nicht zustande gebracht hatte, und dazu musste ich seinen letzten Wunsch erfüllen. Felder wusste das genauso gut wie ich und hatte mich damit in der Hand.

Als ich das Krankenhaus verließ, wusste ich nicht, wohin mit mir. Ziellos streifte ich durch die südlichen Vororte von Cambridge und kam dabei an einem Friedhof vorbei. Unmittelbar vor dem Eingang befand sich ein kleiner Park, eigentlich nicht viel mehr als ein von einem Wiesenstreifen umrahmter Platz mit drei Bänken und einem Freiluftschach mit grabsteingroßen Spielfiguren. Mir kam es vor wie vom Teufel persönlich aufgestellt, der hier den Seelen der Verstorbenen die Möglichkeit gab, in einem einzigen, alles entscheidenden Spiel der drohenden Hölle zu entkommen. Die Figuren standen jedoch in Grundaufstellung da, so als hätte der letzte Verstorbene auf seine Partie verzichtet.

Auch am nächsten Tag besuchte ich Felder auf seinen Wunsch hin um sechzehn Uhr und blieb für genau eine Stunde. Er müsse zahlreiche Untersuchungen über sich ergehen lassen, außerdem habe ihm der Arzt von längeren Besuchszeiten abgeraten, deshalb, so Felder, der rigide Zeitplan. Er erzählte mir, dass er Cambridge die ganzen sieben Jahre über nicht verlassen habe. Er habe hier alles gehabt, was er brauchte, es habe keinen Grund gegeben, wegzugehen. Der endlose Regen im Herbst und die Wochen ohne Sonne störten ihn nicht, was ich ihm ohne Weiteres abnahm, hatte ich doch nie einen anderen Menschen kennengelernt, der dem Wetter derart gleichgültig gegenüberstand wie Felder. Ihm fehlen weder Süden noch Hitze, so Felder, sein Platz unter der Sonne sei im fensterlosen Raum.

Und dann erzählte er mir, dass er seinen Körper der Anatomie verschrieben habe und dass es ihm ein großes erotisches Vergnügen bereite, sich vorzustellen, wie junge, gut aussehende Medizinstudentinnen, die ihn lebend keines Blickes gewürdigt hätten, seinen toten Körper berühren müssten.

Ein Begräbnis, sagte Felder nach einer Pause, wird es nicht geben, und damit auch keinen Grund für dich, bis zu meinem Ableben in Cambridge zu bleiben.

Felder sah mich bestimmt an, und es kam mir so vor, als sei er stolz darauf, diese Dinge sagen zu können, ohne schlucken zu müssen und ohne dass ihm die Augen feucht wurden.

Schließlich kam er wieder auf seine Aufzeichnungen zu sprechen und klang dabei weniger fordernd als gestern. Fast kleinlaut fragte er, ob ich mich nach getaner Arbeit auch um die Veröffentlichung des Buches kümmern könnte, und ich gab ihm mein Versprechen.

Felder nickte zweimal und sah dann auf die Uhr.

Leider, sagte er.

Ich verabschiedete mich von ihm und wandte mich zur Tür.

Die Aufzeichnungen, sagte Felder und zeigte zu den beiden Plastiksäcken neben seinem Bett.

Ich nahm die beiden Taschen, die genauso schwer waren wie erwartet, und hatte die Hand schon an der Klinke, als mir etwas einfiel.

Stört es dich gar nicht, dass ich deine Arbeit vollende?, fragte ich.

Felder starrte mir unverwandt ins Gesicht.

Natürlich stört es mich, sagte er, aber ich muss damit ja nicht leben.

Es war das letzte Mal, dass ich Felder sah. Als ich am nächsten Tag ins Bakersfield Hospital kam, teilte mir die Krankenschwester mit, dass er noch am Vorabend verstorben sei.

Ich verließ das Krankenhaus in einer Mischung aus Trauer und Befreiung, wobei ich nicht sagen konnte, welches Gefühl stärker war. Ich nahm denselben Weg wie zwei Tage zuvor und kam wieder an dem kleinen Friedhof vorbei. Auch heute waren keine Schachspieler zu sehen, jemand musste in der Zwischenzeit aber gespielt haben, denn viele Figuren standen geschlagen neben dem Spielfeld. Als ich mich auf eine der Bänke setzte, sah ich, dass Weiß die Partie für sich entschieden hatte. Der matt gesetzte schwarze König lag umgekippt auf dem Boden, und als ein Windstoß kam, rollte er langsam hin und her. Ich stellte mir vor, wie Felder den Teufel besiegt hatte und jetzt, der Hölle entronnen, unsichtbar durch Cambridge flanierte. Mit aller Zeit der Welt. Und dann drehte ich mich um, weil ich das Gefühl hatte, beobachtet zu werden.