Hightech-Kapitalismus in der großen Krise

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

1. Attraktion und Repulsion von Arbeitszeit

Die Kapitalisierung des Geldes beschreibt Marx phänomenologisch als Verwandlung des von diesem dargestellten Werts in ein »automatisches Subjekt«. Und zwar erscheint der Wert hier als »das Subjekt eines Prozesses, worin er unter dem beständigen Wechsel der Formen von Geld und Ware seine Größe selbst verändert, sich als Mehrwert von sich selbst als ursprünglichem Wert abstößt, sich selbst verwertet« (K I, 169). Stellt der Wert sich in dieser Bewegung »als eine prozessierende, sich selbst bewegende Substanz« dar (ebd.), so verlangt dieser Prozess nach einem persönlichen Träger, der sich auf deren Standpunkt stellt und insofern aufhört, »sich als Selbstzweck zu behandeln, vielmehr sich jenem verselbständigten Zweck-Selbst zur Verfügung stellen, sein Ich zum Ich des sich verwertenden Werts machen« muss (KV II, 102). Sein Verhalten entspricht dem Eigentumsbegriff der bürgerlichen Moderne als »Verfügung über fremde Arbeitskraft« (3/32), sei es unmittelbar über ihre Verwirklichung als lebendige Arbeit, sei es mittelbar über deren Resultate. Ohne Arbeitskraftverkäufer würde das Kapital erlöschen zu nichts als »verstorbener Arbeit«, die sich – direkt oder indirekt – erst »belebt durch Einsaugung lebendiger Arbeit und umso mehr lebt, je mehr sie davon einsaugt« (K I, 247). Damit kommt die Zeit ins Spiel. »Die Zeit, während deren der Arbeiter arbeitet, ist die Zeit, während deren der Kapitalist die von ihm gekaufte Arbeitskraft konsumiert.« (Ebd.) Im ›wilden‹ Kapitalismus, in dem noch keine Arbeiterbewegung die Beschränkung der Arbeitszeit erkämpft hat, »wird freie Zeit für eine Klasse produziert durch Verwandlung aller Lebenszeit der Massen in Arbeitszeit« (552). Doch auch der profitierende Betreiber dieses Prozesses entgeht nicht einer analogen Verwandlung seiner Lebenszeit, womöglich mit dem Unterschied, dass er sein Dasein als personifiziertes Kapital nicht auf geregelte Arbeitszeiten begrenzen kann und ihm das ›Abschalten‹ und ›Ausspannen‹ noch weniger gelingt als dem von Joseph Weizenbaum 1980 beschriebenen Typus des »zwanghaften Programmierers« (vgl. HTK I, 22).

Die Tendenz zur Ausdehnung der Arbeitszeit pro gekaufter Arbeitskraft als Quelle zusätzlichen absoluten Mehrwerts geht einher mit der komplementären Quelle zusätzlichen relativen Mehrwerts dank maximaler Verkürzung der Arbeitszeit pro konkretem Arbeitsprodukt, sei es durch Potenzierung der gegenständlichen Produktionsmittel, sei es durch »dichtere Ausfüllung der Poren der Arbeitszeit, d.h. Kondensation der Arbeit« (23/432). Entsprechendes gilt für die Zeit zwischen Fertigstellung des Produkts und seinem Verkauf, die Zirkulationszeit und die damit verbundenen Transport- und Wartezeiten aller Art. Vor allem bewegt das Kapital sich zwischen Attraktion und Repulsion der lebendigen, Zeit verbrauchenden Arbeit, wenngleich auf verschiedenartigen Bezugsebenen. Der »Heißhunger nach Mehrarbeit« (249) als der Zeit der Verwertung geht einher mit dem ebenso unersättlichen Bestreben, den verwertungsnotwendigen Zeitbedarf zusammenzudrängen. Zuerst Mechanisierung und schließlich auf deren vorangeschrittenste Form gestützte Taylorisierung der Arbeitskraftverausgabung, dann Automation als Erübrigung tendenziell aller lebendiger Arbeitszeit zumindest im unmittelbaren Produktionsprozess machen auf der Ebene der kapitalistischen Produktionsweise Epoche. Da auch die Spekulation ihre eigentümlichen, dabei vom allgemeinen Entwicklungsstand zehrenden Produktivkräfte hat, markieren die entsprechenden Einschnitte ihre Geschichte nicht weniger als die der Produktion.

2. Zirkulation ohne Zirkulationszeit

»Zirkulation ohne Zirkulationszeit ist die Tendenz des Kapitals«, notiert Marx in den Grundrissen (Gr, 572; vgl. 560). Im Hightech-Kapitalismus verfolgt das industrielle Kapital dieses Ziel durch die computergestützte Rationalisierung der Logistik und Lagerhaltung im Zeichen der Lieferung zum produktionslogisch genauen Zeitpunkt (»just in time« ). Das Transportwesen erfand sich neu als »Logistik«. Während die Produktivkräfte der räumlichen Sachkapi­talbewegung, sieht man von elektronischer Steuerung und Koordination ab, im Grundprinzip unverändert blieben, revolutionierte die Elektronisierung die Bewegung des spekulativen Finanzkapitals. Dieses näherte sich dem Ziel der zeitlosen Zirkulation bis an deren absolute physikalische Grenze. Damit schickte der Hightech-Kapitalismus sich an, das »automatische Subjekt« der Verwertung des Werts, von dem Marx spricht (K I, 169), aus seiner metaphorischen Existenz zu erlösen, indem er das lebendige Subjekt des Spekulationsarbeiters durch den Automaten ersetzte. Dieses Bestreben schlug sich nieder in der Ersetzung des Börsenmaklers durch »eine Maschine, die mit Maschinen kommuniziert« (Strobl 2010). So weit als möglich wurde die rastlose Bewegung des Wertverwertens in elektronische Netzwerke verlegt. Indem Computer vernetzt wurden und die entsprechenden elektronischen unstofflichen »Metamaschinen«, als die wir die Programme als prozessierende Schaltungskonfigurationen analysiert haben (HTK I, 112-15), miteinander wechselwirkten, schloss das Geräteensemble der Spekulation sich zu einem physikalischen System. Die Systembetreiber wurde »Hochfrequenz-Händler« getauft. Eines der Netzwerke nannte sich BATS. Zu seinen Eigentümern zählten u.a. die City Group, der Crédit Suisse, Morgan Stanley und die Deutsche Bank. Die Abkürzung BATS sollte an bats, »Fledermäuse«, denken lassen, da diese Tiere sich im Dunkeln mittels Echolot orientieren. Im elektronischen Handelssystem herrscht vom Standpunkt menschlichen Bewusstseins völliges Dunkel.

Als BATS 2006 gegründet wurde, wurden von der New Yorker Börse (NYSE) noch 70 Prozent der Geschäfte in gelisteten Kapitalgesellschaften abgewickelt; vier Jahre später waren es noch 20 Prozent. Im September 2010 gab BATS die Ausführungszeit für seine zweite Elektronische Börse »BATS Y-Exchange« (BYX) mit im Durchschnitt weniger als 250 Mikrosekunden und die Ergebnisanzeige mit 265 Mikrosekunden an, das sind 0,00025 bzw. 0,000265 Sekunden.53 Nun wurde die Lichtgeschwindigkeit profitrelevant. Menschlichem Vorstellungsvermögen erscheint sie als unendlich groß; die Zeit, in der das Licht irdische Strecken zurücklegt, dagegen unendlich klein. Doch über große Entfernungen zeigt sich beider Endlichkeit. Sie hat es erlaubt, kosmische Entfernungen in »Lichtjahren« zu messen. Für die Eliminierung bzw. Kompression der Zirkulationszeit des Finanzkapitals aufs absolute Minimum wurde angesichts der Konkurrenz die räumliche Entfernung der Handelscomputer vom Rechenzentrum der Netzbetreiber zur Schranke. Die Betreiber entdeckten in der Beseitigung des Hindernisses ein zusätzliches Geschäftsmodell. Sie boten den Händlern an, ihre Handelscomputer im Betreiberzentrum zu installieren. Die Kosten konnten sich nur die Großen leisten. »Kleinanleger […] sind in diesem Spiel die geborenen Verlierer.« (Strobl 2010)

53 <http://batstrading.com/byx/>.

3. Spekulation als raum-zeitliches Differenzgeschäft

Wenn die elektronische ›Bewaffnung‹ der untereinander konkurrierenden Spekulationsakteure Mikrosekunden zur Profitbedingung gemacht haben, so ist dies nur die hochtechnologisch basierte Form, in der ein Urgesetz des Spekulationsgeschehens sich geltend macht. Generell werden nach Marx an der Börse »Differenzgeschäfte« getätigt, worin Geld umläuft, ohne dass dieser Geldumlauf einen »wirklichen Warenumsatz« ausdrückt (24/344; vgl. hierzu und zum Folgenden KV II, 179ff). Eine Variante des Differenzgeschäfts ist das Arbitragegeschäft. Der Name drückt das Moment des Arbiträren aus, das dabei ins Spiel kommt. Dieser Geschäftstyp nützt die Preisdifferenz von Waren gleicher Art auf unterschiedlichen Märkten aus und hat – zumindest im Modell des idealen Marktes – den Effekt, diese Differenzen einzuebnen. Arbitragegeschäfte dieser Art nützen Unterschiede des Ortes aus. Dabei wird unterstellt, dass die auf den Märkten wirkenden übrigen Faktoren sich nicht während der spekulativen Operationszeit und unabhängig von ihr ändern. Die Operation selbst und jede gleichartige seitens der Konkurrenten ändert dagegen die Relationen. Da jeder spekulative Akteur die räumliche Differenz ausnutzen und damit die Grundlage der Spekulation durch den Ausgleichungseffekt seines Eingriffs ganz oder partiell aufzehren kann, bildet das zeitliche Differenzgeschäft das eigentliche Terrain der Spekulation. Verdichtung der Spekulationszeit wird zur Erfolgsbedingung. Die Zeit der Spekulation erstreckt sich innerhalb der Spanne des Verschwindens jener Differenz, auf der die Gewinnmöglichkeit beruht. Zur synchronen Marktkenntnis eines gegebenen Moments kommt bei ihr die diachrone Markterwartung dynamischer Prozesse hinzu.

Die Struktur des »Differenzgeschäfts« ist nicht auf die Börse beschränkt. Marx weist sie bereits in der einfachen Zirkulation auf: »Die Trennung des Tauschs in Kauf und Verkauf macht es möglich, dass ich bloß kaufe, ohne zu verkaufen (accaparement [wucherischer Aufkauf] von Waren), oder bloß verkaufe, ohne zu kaufen (Akkumulation von Geld). Sie macht die Spekulation möglich.« (42/130) Spekulation zielt immer auf eine für den Spekulanten vorteilhafte Preisdifferenz. So bereits in der vermutlich ältesten schriftlich festgehaltenen Spekulationsgeschichte, der von Thales von Milet, dem Gründer der ionischen Philosophie. Dieser soll »in Voraussicht einer reichen Olivenernte alle Ölpressen gemietet und dadurch ein enormes Vermögen gewonnen« haben (Diogenes Laertios, I.26). Auf Grundlage kapitalistischer Produktion schließlich kann das Handelskapital »wie die plötzlich emporschießenden Paroxysmen der Spekulation in gewissen Lieblingsartikeln zeigen, mit außerordentlicher Schnelligkeit Kapitalmassen aus einer Geschäftsbranche ziehn und sie ebenso plötzlich in eine andre werfen« (25/218).

 

Was zu Marx’ Zeiten außerordentliche Schnelligkeit war, ist von den elektronischen Geräten, mit denen das Finanzkapital arbeitet, inzwischen in neue Dimensionen katapultiert worden. Blitzartig lässt es sich mit ihrer Hilfe von einem Massengut aufs andere werfen, ohne dass sein Umlauf einen physisch »wirklichen Warenumsatz« ausdrückt. Die Inkubationszeit der Großen Krise des Hightech-Kapitalismus zeigte dies in Gestalt der extremen Preissprünge von Rohstoffen und Nahrungsmitteln (Erdöl, Getreide u.v.a.m.) aufs Doppelte, dann wieder auf einen Bruchteil in historisch kürzester Zeit. Die Differenzen, auf die bei solchen, nicht mit den physischen Stoffen, sondern Ansprüchen auf sie getätigten Geschäften spekuliert wird, sind erwartete Preisdifferenzen. Die Erwartung ist subjektiv, das Resultat des aus ihr folgenden Handelns objektiv. Die Spekulation richtet sich auf mögliche Kursveränderungen. Diese hängen vom Verhältnis von Angebot und Nachfrage ab. Die in Kauf- oder Verkaufsaufträge umgesetzte Erwartung verändert dieses Verhältnis unmittelbar. Die Aktion des spekulierenden Subjekts ›fällt ins Objekt‹. Der Vorgang zeigt das Muster einer sich selbst erfüllenden Prognose. Ist das Handelsvolumen gemessen am handelbaren Wert gering, hält sich der Effekt in den ­Differenzialgrenzen von etwas, das nur unmerklich größer als Null ist. Doch die Fonds und andere Großakteure des Börsengeschehens, die Milliarden US-Dollar bewegen können, lassen den Preis bereits in der erwarteten Richtung hochschnellen, zumal sie, eifersüchtig belauert von Ihresgleichen, alsbald Gesellschaft bekommen. Wer bei der Hausse nicht sofort und von Anfang an dabei ist, dem zerrinnt mit verrinnender Zeit der Differenzgewinn. Während »auf den Gütermärkten steigende Preise die Nachfrage [dämpfen] und fallende [sie] erhöhen«, gilt auf den Finanzmärkten »der umgekehrte Preismechanismus […], bei steigenden Preisen zu kaufen und bei fallenden zu verkaufen« (Wagenknecht 2008, 92). Wer bei Baisse nicht sofort verkauft – und sei es nur, um womöglich bei weiter gefallenen Kursen wieder einzusteigen –, verliert.

4. Mannlose Spekulation

Die Hochtechnologie in der Hand der Berufsspekulanten ist dabei, diese seit Jahrhunderten wirkenden Mechanismen kurzfristiger Differenzspekulation, also der Spekulation auf Veränderungen in der Zeit gleichsam die Zeit selbst auszutreiben. Dabei werden die menschlichen Händler durch Mikrochips ersetzt oder auf Restfunktionen zurückgedrängt. Zugleich entsteht innerhalb der geschlossenen Welt der vernetzten Rechner die Möglichkeit eines Insidergeschäfts neuen Typs. Diesmal sind es keine menschlichen Eingeweihten, die ihr Wissen zu Geld machen, sondern »räuberische Algorithmen«. So heißen die anonym in den Handelsplattformen agierenden, unstofflichen und gleichwohl materiellen »elek­tronischen Metamaschinen« (HTK I, 112f), die in den Eingeweiden des menschenlosen Prozesses selbst »auf der Jagd nach Profit sind« (Strobl 2010). Sie sind die Piranhas der sog. »Latenz-Arbitrage«; sie fischen nach Wertdifferenzen, um in den winzigen Zeitintervallen »zwischen dem Eintreffen einer großen Kauforder und ihrer Ausführung«, wo Mikrosekunden zählen, »alles abzugrasen, was an Angebot zum aktuellen Kurs im Markt ist« (ebd.).

Die ›mannlose‹ Spekulation verändert das Erscheinungsbild bestimmter Börsenkrisen. Normalerweise ist sie nicht der Grund des Geschehens, wohl aber seines Modus. Sie potenziert die Ausschläge der Kurse, wie sie auf diesen Ausschlägen wiederum ihre Wellenreiterei praktiziert.54 Die eigentümliche Form, die ihr entspringt, wo der Modus zum Grund wird, ist der »Blitz-Crash«. Angekündigt im »ersten Weltbörsenkrach der Geschichte« (Mandel/Wolf 1988, 30) vom Oktober 1987,55 bei dem »die Kisten das Kommando« übernahmen, lässt der Effekt der seither fortgeschrittenen Prozess-Mikroisierung sich bei der Blitz-Baisse vom 6. Mai 2010 beobachten: Der Dow Jones verlor binnen weniger Minuten fast tausend Punkte. Ein geringfügiger Rückgang hatte quasi in Echtzeit die Verkaufsorder der Spekulationsmaschinen losgetreten. So erklärte sich der Sturz. Dass er zunächst fortdauerte, rührte nun ausgerechnet daher, dass Menschen dem mannlosen Betrieb wieder das Zepter aus der Hand nahmen, indem sie die Maschinen abschalteten. Was retten sollte, verschlimmerte den Schaden. Mangels öffentlicher Regulierung konnten die Betreiber jeder Handelsplattform nach eigenem Gutdünken entscheiden, ob (und wann) sie abschalten wollten. Nun aber schalteten viele von ihnen »ihre Computer während des Kurssturzes ab […,] nachdem andere Programme im großen Stil Verkaufsorders platziert hatten, um von den fallenden Kursen zu profitieren«. Doch damit »stießen die Verkaufsorders nicht mehr auf Kauforders. Ein Tsunami von Verkaufsaufträgen drückte die Kurse vieler Aktien auf surreal niedrige Niveaus, das Papier der weltweit tätigen Beratungsgesellschaft Accenture zum Beispiel fiel von 41 Dollar auf einen Cent. Die Situation beruhigte sich erst wieder, als Händler aus Fleisch und Blut auf den Plan traten und wie in alten Zeiten Käufe und Verkäufe untereinander abwickelten.« (Strobl 2010)

54 Ausgangspunkt und Resultat für die high-frequency traders ist »a ›new normal‹ of permanently heightened volatility« (Story/Bowley 2011).

55 Seine Erscheinungsform und die damit einhergehenden Wahrnehmungsformen habe ich festgehalten im gleichnamigen Exkurs der Neuen Vorlesungen zur Einführung ins »Kapital«, 197-200.

Am Börsenplatz Frankfurt/M generierten »Algo-Trader« im Februar 2010 über 40 Milliarden Euro Handelsaufträge, fast die Hälfte des Gesamtumsatzes. Sie »haben ihre Computer so programmiert, dass sie nach bestimmten Mustern Aktien kaufen und verkaufen, sie zwischendurch oft nur Sekunden behalten und am Ende des Tages meist keine einzige Aktie besitzen.« Der Kursmakler entfällt. »Der Computer führt Angebot und Nachfrage zusammen und errechnet daraus einen Kurs. Das passiert innerhalb einer Sekunde etliche Male für eine einzige Aktie.« (Mohr 2010a) Im Februar setzte die Börse 97 Milliarden Euro über das elektronische System Xetra und nur 6 Milliarden auf dem Parkett um. Damit waren die Tage des Parketthandels gezählt. Der Börsenrat beschloss, ihn spätestens 2012 einzustellen. Von der ›Maschinisierung‹ über Xetra versprach man sich eine viel breitere Anlegerschaft aus ganz Europa mit »Zugriff auf 10 000 Aktien und 30 000 Anleihen, die bislang nur auf dem Parkett […] und damit nur einem […] nationalen Publikum zugänglich waren« (ebd.).

Eine weitere Folge der automatisierten Spekulation ist die Zunahme des Geld- und Devisenhandels. Sie markiert eine der Veränderungen seit 2003, als Band I erschien. Laut einer Erhebung der Bank für internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) ist in den drei Jahren zwischen 2004 und 2007 der globale Devisenhandel um 71 Prozent gewachsen auf täglich 3,2 Billionen US-Dollar und zusätzlich 2,1 Billionen in Devisen- und Zinsderivaten (FAZ, 26.9.2007, 25). Beigetragen haben die bereits erwähnten spekulativen Zins-Währungsgeschäfte (Carry Trades), die Unterschiede im Verhältnis des Außenwerts einer Nationalwährung zum nationalen Zinsniveau ausnutzen, indem sie im Niedrigzinsland Geld borgen, um es im Hochzinsland anzulegen. Die Frankfurter Allgemeine erklärte die Zunahme zum anderen Teil damit, »dass elektronische Handelsplattformen Geschäfte ›per Mausclick‹ ermöglichen«. Man merkt dem Bericht noch das Erstaunen über den technologisch bedingten Systemwandel an, wenn er fortfährt: »Zum Teil werden Geschäfte sogar nur noch von Computern ausgelöst, die gleichzeitig fortlaufend mehrere Handelsplattformen auf kleine Preisunterschiede hin absuchen und ggf. – im Takt von Tausendstel Sekunden – Kauf- und Verkaufssignale auslösen, um von den Kursunterschieden zu profitieren.« Im Kassahandel stieg der Umsatz von 0,6 auf 1 Billion. Darin drücken sich die Kapital- und Warenströme aus. Die Diskrepanz zwischen dem Welthandelsvolumen in Warenpreisen und dem Welthandelsvolumen in Geld rührt zum Teil von der bis zur Großen Krise von 2008ff trotz aller US-Verschuldung kaum bestrittenen Funktion des Dollars als einer »Ersatz-Weltwährung« her.56 Sie bedeutet, dass fast alle Transaktionen zwischen anderen Währungen über ihn abgewickelt werden. »Ein Tausch von chinesischen Yuan in Euro wird also über einen Tausch von Yuan in Dollar und von Dollar in Euro ausgeführt.« Mit dem Effekt dieser Dollarfunktion einer Zwischenwährung summiert sich der Effekt des Zwischenhandels durch die Banken, da Angebot und Nachfrage auf diesem »Marktmacher-Markt« nicht direkt-zentral zusammentreffen wie an der Börse. Findet die Bank keinen Abnehmer, verkauft sie sofort an einen Großhändler. Im Schnitt entfiel in den drei Jahren ca. die Hälfte des Gesamtumsatzes am Devisenmarkt auf die an der BIZ-Erhebung teilnehmenden Großhändler untereinander.57

56 Der Dollar »amounts to a surrogate world currency« (Foster/Magdoff 2008). Den Dollar »Weltgeld« zu nennen, löscht den Widerspruch zwischen dem formellen Zahlungsmittel eines Staates und einer informellen Weltmarktwährung. Bei Marx hängt der Begriff des »Weltgeldes«, mit dem er James Steuarts »money of the world« übersetzt (23/159), an dem der Geldware, die einen Selbstwert im Unterschied zum bloßen Wertzeichen darstellt..

57 Stärker nahmen die »Devisenswaps« zu (im selben Moment Verkauf und auf später terminierter Rückkauf von Fremdwährungsbeträgen), von 0,94 auf 1,7 Bio, und die »Zinsswaps« von 0,6 auf 1,2 Bio. Bei Zinsderivaten lagen die Börsen mit 6,1 Bio vor dem Interbankenhandel aufgrund kurzlaufender Geldmarkt-Terminkontrakte wie dem Euribor-Future. (Ebd.)

5. Hochfrequenz-Werbung

Das spekulative Moment der Ausspähung von Differenzen in der Zeit erobert auf Basis der fürs Börsengeschäft entwickelten Technologie auch den Internet-Werbemarkt. Wie die Konkurrenz um günstige Kurse bei spekulativen Objekten sich an die Grenzen der Zeit herantastete, so nun die Konkurrenz um die Verwandlung von Kundenwünschen in Verkaufschancen. Das Einwerben von Internet-Werbeaufträgen ist ein hart umkämpfter Markt. Was jene Einwirkungsform für die Unternehmen attraktiv machte, war der sinkende Wirkungsgrad der Streuwerbung. Nachdem immer mehr potenzielle Käufer sich primär übers Internet über Angebote informierten, öffnete die Rechentechnologie in drei Stufen den zeitlichen Mikrokosmos für individualisiertes »Echtzeit-Bieten«.

Im ersten Schritt entwickelte Google aus »dem Unterschied zwischen Werbeausstrahlung als solcher und in tatsächlicher Rezeption realisierter Werbung« ein Geschäftsmodell: »Immer und ausschließlich wenn die kleinen Textanzeigen bei Google angeklickt werden, entstehen Werbeeinnahmen. Die Kenntnisnahme quittiert den Empfang. Die Werbung ist selbst noch einmal eingepackt. Von außen verspricht sie noch nicht den Gebrauchswert, sondern ein Gebrauchswertversprechen. Google bekommt Geld, sobald sich jemand entscheidet, sich tatsächlich etwas versprechen zu lassen.« (KdWÄ, 266) Der zweite, für den Werbemarkt nicht weniger revolutionierende Schritt gründet auf der Auswertung des in den Supercomputern des Konzerns fixierten Internetverhaltens der einzelnen Nutzer. »Die Wahrscheinlichkeit, dass die Werbung vom Adressaten angeklickt wird und der Adressat sich für die Werbung öffnet, steigt sprunghaft, wenn es gelingt, Werbung auf die individuellen Käuferprofile hin zu flexibilisieren und schließlich sogar zu individualisieren.« (Ebd.)

Der dritte Schritt bringt die gleiche Hochfrequenztechnik zum Einsatz, die in der Spekulation eingesetzt wird. Für die Internet-Plattformen erschließt sich damit noch einmal ein neuartiger Werbemarkt. Was hier verkauft werden kann, ist die Chance, noch innerhalb der Sekunde zwischen dem Eintippen einer Internetadresse und dem Erscheinen der Seite auf dem Bildschirm »dem Nutzer die passende Werbung einblenden zu dürfen«; Echtzeit-Bieten (Realtime-Bidding) heißt dieses Verfahren, das »die Online-Werbung in den kommenden Jahren revolutionieren könnte« (Schmidt 2010a). Hochleistungscomputer in Verbindung mit schnellen Internetleitungen analysieren, ›entscheiden‹ und bewirken in Millisekunden, welcher Internet-Nutzer welche Werbung eingeblendet bekommt. Schmidt hebt in einer Begleitglosse zu seinem Bericht hervor, dass die »Märkte […] gar nichts davon ahnen, was und wie ihnen dabei geschieht«: »Werbung im Internet wird künftig in dem Moment gebucht, in dem der Nutzer […] ein Interesse an einem Produkt […] gezeigt hat. Das […] mindert Streuverluste. Graphische Werbung im Internet wird künftig in hohem Maße ein Technologieprodukt sein.« (2010b) Google ist der Vorreiter auf diesem Geschäftsfeld. Hochtechnologie wird zur Waffe, mit der Kapital anderes Kapital erschlägt: »Wer in zehn Jahren nicht abgehängt sein will, muss jetzt in Technik investieren.« (Schmidt 2010b)

 

Die US-Firma Appnexus ging 2010 mittels eines Rechenzentrums in Amsterdam den europäischen Markt »für die vollautomatisierte Form der Online-Werbung« an (Schmidt 2010a; hierher auch das Folgende). Erfassung der Kundengewohnheiten via Cookies ist die Voraussetzung. Mit einem Verfahren, das »Retargeting« (Wieder-zum-Ziel-Machen) heißt, »wird der Nutzer beim späteren Besuch einer anderen Internetseite wiedererkannt«. Soweit die Identifizierung und die Verknüpfung mit dem permanent aktualisierten individuellen Profil, einer Art digitaler Personalakte. Es folgt die mannlose Interaktion zwischen den Metamaschinen im Computerinnern der einschlägigen Marktinteressenten: »In rund 10 bis 20 Millisekunden findet dann eine Auktion zwischen mehreren Werbetreibenden um diesen Werbeplatz und diesen Nutzer statt.« Es geht nicht nur um den Zuschlag der Werbechance. Sondern die Ware eines Anbieters kann auch durch die entsprechende Ware eines konkurrierenden Anbieters unterboten werden. Ein weiterer Nebenmarkt erschließt sich: Datenhandel wird für Internet-Anbieter der betreffenden Produkte zu einem Nebenerwerb. – Als einer der Effekte dieser technologischen Innovation und der von ihr getragenen Geschäftsmodelle zeichnet sich der Transfer von Werbeetats aus dem Fernsehen ins Internet ab, wie zuvor aus den Druckmedien ins Fernsehen.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?