Hightech-Kapitalismus in der großen Krise

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5. Omnipräsenz der Spekulation im Kapitalismus (I)

»Spekulation« ist »Mystik für den Verstand«

Karl Jaspers, Philosophie, 3, Met., 135

Allem kapitalistischen Handeln wohnt ein Moment von Spekulation inne. Für die Betrachtung kann es zurücktreten hinter den konkreten Herstellungsprozessen und ihren anlagemäßigen und persönlichen Verkörperungen. Doch insofern diese Prozesse markt- und gewinnorientiert sind, gilt allemal: »Wer spekuliert, versucht sein Glück mit dem Fetischcharakter der Ware Kapital. Das Machwerk, das Macht über die es Machenden hat (KV I, XI.5) und dessen Bewegung sich zwar aus ihrem Handeln speist, aber gegen dieses sich verselbständigt, erlaubt die Wette auf seine nächste Oszillation.« (KV II, 180)

Aber natürlich ist einer, dessen Handeln ein spekulatives Moment innewohnt, deshalb noch lange kein Spekulant im umgangssprachlichen Sinn. Hat es also nicht wenigstens einen Sinn, die »Spekulanten« zu verurteilen? Auf diese Frage lassen sich Antworten auf zwei Ebenen suchen. Die erste geht uns leichter ein, weil Wirtschaftspolitik angebbare Akteure und damit auch ›Schuldige‹ kennt, während die zweite Antwort systemisch ist und wir uns mit unserem moralischen Verlangen nach persönlich zurechenbarer Schuld schwer tun. Halten wir uns also zunächst an die Ebene der Politik. Hier stoßen wir, zumal bei der Hauptmacht des Kapitalismus, den USA, auf die wirtschaftspolitische Bemühung, »der unzureichenden Nachfrage durch die Förderung vermehrter Kreditaufnahme zu begegnen – im öffentlichen wie im privaten Bereich«. Robert Brenner, der so spricht (2009, 6), hebt hervor, dass bereits unter Clinton »private Verschuldung die Rolle [übernahm], die zuvor der öffentliche Kredit gespielt hatte. An die Stelle des traditionellen Keynesianismus trat etwas, was man ›Vermögenspreis-Keynesianismus‹ nennen könnte.« (Ebd.) »Keynesianismus« ist er freilich nur mehr in einem vulgarisierten Verständnis, da »Keynes zwar nachfragepolitisch gefördertes Wachstum befürwortete, aber die wesentliche Einschränkung machte, dass dies nur solange Sinn hätte, als damit noch merkliche Wohlstandssteigerungen zu erreichen sind. Auf längere Sicht hielt er hingegen die Stagnation für unausweichlich und damit auch eine Umorientierung weg vom Wachstum hin zu kürzeren Arbeitszeiten« (Zinn 2008c, 39).30 Bei der konjunkturpolitisch ausgenutzten Börsenblase dagegen dienen die momentanen Kurse von Wertpapieren sowie die Hauspreise als Basis für Konsumentenkredite. In der Folge ist die Konsumnachfrage »mehr denn je vom Auf und Ab der Kurse bestimmt« (Katz 2011). Unter der Präsidentschaft George W. Bushs hatte sich daran nur insofern etwas geändert, als nun auch der Staat auf Pump lebte, schon um zwei Kriege finanzieren zu können, ohne auf Steuergeschenke an die Reichen verzichten zu müssen. Nach dem Platzen der Dot.com-Blase zu Beginn des Jahrhunderts stützte der ›Vermögenspreis-Keynesianismus‹ der Konsumentenkredite sich einseitig auf den Immobilienmarkt. Dass einige Staaten und staatliche Notenbanken konjunkturpolitisch geradezu als Zuhälter der Spekulation gehandelt haben, erklärte die Frankfurter Allgemeine im März 2008 zur Folge des »Doppelschlags«, der die US-Ökonomie 2000/2001 getroffen hat: »Erst platzt die Internetaktienhausse, dann folgen die Terrorangriffe vom 11. September.« (Fehr 2008) Die Politik antwortete mit Kaufaufrufen, Zinssenkung und Krediterleichterungen, um, wie Peter Gowan (2009) gezeigt hat, das Platzen der Dot.com-Blase frei nach Hyman Minsky strategisch durch den Aufbau der Immobilienblase zu kompensieren.31 »Wir haben daher«, fährt Brenner (2009, 6) fort, »während der letzten etwa zwölf Jahre das außergewöhnliche Schauspiel einer Weltwirtschaft erlebt, in der die Fortdauer der Kapitalakkumulation buchstäblich abhängig geworden ist von historischen Wellen der Spekulation, sorgfältig genährt und rationalisiert durch die staatlichen Entscheidungsträger und Behörden«. Keine Rede mehr von gierigen Bankern.

30 Insofern »bedeutet der Keynesianismus nach dem Ende des Ost-West-Konflikts die stärkste wirtschaftstheoretische und ideologische Bedrohung für die neoliberale Gegenreformation« und »ist deshalb weit mehr als eine wirtschaftstheoretische Gegenposition zum Neoliberalismus; er ist die demokratische Alternative zur folter- und schießwütigen Inquisition des gegenwärtigen Kapitalismus, zum praktizierten ›Pinochetismus‹ der Kapitalstrategie der Gegenwart.« (Zinn 2008c, 38)

31 »Indeed, the operational belief systems of what might be called the Greenspan-Rubin-Paulson milieu seems to have been post-Minskian. They understood Minsky’s theory of bubbles and blow-outs, but believed that they could use it strategically for blowing bubbles, bursting them, and managing the fall-out by blowing some more.« (Gowan 2009, 10)

Und selbst noch 2009, da laut Weltbank die Große Krise noch immer keinen »Boden«, wie die Börsianer sagen, gefunden hatte, beschrieb der Leiter der Abteilung Volkswirtschaft der DZ-Bank die Situation folgendermaßen: »Der zweifellos auf der Welt vorhandene Geldüberhang dürfte sein Ventil eher in einer neuen ›asset bubble‹ finden« (Jäckel), einer erneuten »Anlagen-Spekulationsblase« – das ist der Kern von Brenners »Vermögenspreis-Keynesianismus«.

Doch Vorsicht! Das moralische Schuldverlangen darf sich nicht vorschnell auf die US-Regierung festlegen. Denn die ganze Welt hat davon gezehrt. Ihr Geld vermehrt haben die einen, Lohnarbeit gefunden die anderen. Dass die USA in Folge jener Politiken zunehmend mehr verbrauchten, als sie herstellten, und als »Konsumenten letzter Instanz« wirkten, wurde zum Konjunkturmotor der Welt. Chinas Überproduktion bildete die komplementär-dynamische Gegenmenge zur US-Überkonsumtion. Dafür legte China seine Handelsüberschüsse vornehmlich in US-Staatsanleihen fest, zumal Direktinvestitionen von der US-Politik behindert wurden. Auf die dabei sich entfaltende Herr-Knecht-Dialektik kommen wir im »Chimerika«-Kapitel zurück.

6. Überkapazitäten oder Kapital-Überproduktion?

Sollte man angesichts des kreditbasierten Überkonsums der USA als anscheinend unentbehrlicher Konjunkturlokomotive womöglich statt vom finanzgetriebenen vom Konsumkredit-getriebenen Kapitalismus sprechen? Um solchen Schlagwörtern zu entgehen, wechseln wir die Analyseebene. Das Problem der Probleme, »die Hauptursache«, ist für Robert Brenner das Sinken der Profitrate. Wo er dieses Sinken auf »eine anhaltende Tendenz zur Überkapa­zität in der weltweiten verarbeitenden Industrie« zurückführt (2009, 5), unterscheidet Marx drei krisentheoretisch zu berücksichtigende Wirkungszusammenhänge. Den ersten fasst er als einen dem Verwertungsprozess innewohnenden Mechanismus der Produktivkraftentwicklung; den zweiten als Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate; den dritten als Gesetz der Kapital-Überakkumulation. Es ist kein bloßer Streit um Worte, wenn wir uns mit der zunächst bequemer scheinenden Kategorie der »Überkapazität«, die sich auf einzelne Branchen und damit auf bestimmte Güterklassen (Gebrauchswerte) bezieht, nicht zufrieden geben und stattdessen versuchen, mit Marx ins innere Getriebe des Kapitalverwertungsprozesses im systemischen Ganzen vorzudringen.

6.1 Extraprofit als Magnet der Produktivkraftentwicklung

Dank einer dem Standard vorauspreschenden Produktivkraftentwicklung können Einzelkapitale einen Extraprofit erzielen. Die Konkurrenten müssen bei Strafe des Untergangs nachziehen, wodurch das neue Produktivitätsniveau zum Standard und der Extraprofit eingeebnet wird, sofern er nicht aus einer dem nunmehr neuen Standard wiederum vorauspreschenden Produktivkraftentwicklung neu entspringt. Das Kapital kann sich folglich im Ganzen nicht anders vermehren, als indem es zugleich seine Produktionsweise permanent umwälzt. Der letzte Große Sprung vorwärts dieser Art war der zur computergestützten Produktionsweise, der sich mit seiner Myriade kleinerer Sprünge in der Dynamik des transnationalen Hightech-Kapitalismus noch immer als Destabilisierung und Dynamisierung aller Produktions-, Politik- und Lebensverhältnisse auf Erden bemerkbar macht.

Produktivitätsschübe, die nicht durch Verkürzung der Arbeitszeit oder durch wachsende Nachfrage ausgeglichen werden, setzen Arbeitskräfte frei. Für den Fall, dass die durch technische »Steigerung der Arbeitseffizienz« bewirkte Freisetzung im Unterschied zur konjunkturellen Arbeitslosigkeit nicht durchs Wachstum neuer Branchen ausgeglichen wird, hat Emil Lederer zur Zeit der Großen Krise des Fordismus in den 1930er Jahren den keynesschen32 Begriff der »technologischen Arbeitslosigkeit« weiter ausgearbeitet (1938/1981, 51ff).33 Für uns Heutige bietet sich in der Großen Krise des Hightech-Kapitalismus der Begriff der hochtechnologischen Arbeitslosigkeit an. Wir können davon ausgehen, dass längerfristig »die Leistung je Beschäftigtenstunde (Arbeitsproduktivität34) schneller steigen wird als das Bruttoinlandprodukt«, mit der Folge, dass das benötigte »Arbeitsvolumen« weiter zurückgeht (Hickel 2004). Die Versuchung liegt nahe, angesichts ungünstiger Kräfteverhältnisse regressiv zu reagieren wie einst die Maschinenstürmer und die Rückkehr zu arbeitsintensiven Produktionsweisen zu fordern. Doch es führt nur zu unglücklichem Bewusstsein und politischen Niederlagen, wo nicht gar zum Umschlag in finstere Reaktion, einer illusionär verklärten Vergangenheit nachzujammern und das Alte zu »betränen«, wie Marx zu sagen pflegte. Wir wollen gegen unsere heutige geschichtliche Enteignung angehen. Das verlangt zunächst Verständigung darüber, was der Fall ist, welcher objektiven Möglichkeiten wir unter den bestehenden Verhältnissen beraubt werden.

 

32 »We are being afflicted with a new desease of which some readers may not yet have heard the name, but of which they will hear a great deal in the years to come – namely technological unemployment. This means unemployment due to our discovery of means of economising the use of labour outrunning the pace at which we can find new uses for labour.« (Keynes 1930, CW 9, 325; vgl. Kurz 2002, 340) Beruhigend fügt Keynes hinzu, jener Zustand sei aber nur vorübergehendem Anpassungsmangel geschuldet (ebd.).

33 Während Keynes und Lederer den Begriff der »technologischen Arbeitslosigkeit« gesamtwirtschaftlich anlegen, verengt Ralf Dahrendorf seinen Sinn betriebswirtschaftlich auf »Arbeitslosigkeit auf Grund des Preisvorteils der Technik gegenüber der Arbeit« (1983, 25ff; zit.n. Kurz 2002, 350).

34 Zu den Schwierigkeiten, Arbeitsproduktivität analytisch aus der bürgerlichen Statistik herauszurechnen, welche die Daten in den empiristisch-gewinnorientierten Kategorien der kapitalistischen Praxis abbildet, vgl. Scherrer 2001. Alles scheint hier darauf angelegt, die hochtechnologisch gesteigerte Arbeitsproduktivität hinter der Profitrate verschwinden zu lassen. Dass diese sinken kann im Zuge des Fortschritts der Arbeitsproduktivität, entspricht einerseits dem marxschen Tendenzgesetz des Falls der Profitrate und wird verschärft durch die Zunahme der Konkurrenz und die dramatische Verkürzung der Amortisationsfristen. »Cutthroat competition demands shortening the life cycle of products and launching new designs before investments can be completely repaid.« (Katz 2011)

6.2 Die These vom tendenziellen Fall der Profitrate

Auf der Produktivitätsdynamik fußt nun eine weitere, deren Effekt auf den ersten Blick verrückt erscheint: je mehr stofflichen Reichtum die menschliche Arbeit zu schaffen vermag, desto schwächer wird – im Kapitalismus, wohlgemerkt, und nur hier! – der Antrieb zur Reichtumsproduktion. Spezifischer Antrieb kapitalistischer Produktion ist ja nicht der stoffliche Reichtum an Gebrauchswerten, sondern der abstrakte, in Geld ausgedrückte Reichtumszuwachs, anders gesagt, der Mehrwert im Verhältnis zum eingesetzten Kapital. – Erinnern wir uns: Mehrwert entspringt der lebendigen Arbeit ab dem Moment, an dem sie den Wert der Arbeitskraft reproduziert hat. Alle Arbeitszeit über diesen Punkt hinaus ist Mehrarbeitszeit, und das erste Verhältnis, um das es dem Kapital geht, ist das Verhältnis der Mehrarbeit zur (für die Reproduktion der Arbeitskraft) notwendigen Arbeit bzw., in Wert ausgedrückt, das Verhältnis des Mehrwerts (m) zum (als Lohn gezahlten und, weil den wertmäßig variablen Kapitalteil darstellend, als v abgekürzten) Wert der Arbeitskraft, kurz: die Mehrwertrate (m/v). Das darauf aufbauende Verhältnis, ist das der Masse des angeeigneten Mehrwerts (M) zum Wert der insgesamt eingesetzten persönlichen (V) und sachlichen (C) Produktionsfaktoren, kurz: die Profitrate (M/C + V). Weil aller Wert vergegenständlichte Arbeit ausdrückt, umschreibt Marx das Verhältnis von V und C auch als das Verhältnis der lebendigen Arbeit zur toten Arbeit. Mit der Produktivkraftentwicklung schrumpft nun die lebendige im Verhältnis zur toten Arbeit, und mit der steigenden Komplexität der Anlagen tendiert deren Geldausdruck (Anlagekapital) im Verhältnis zu dem in Lohn ausgedrückten Kapitalteil nach oben. Sofern nun die »Wertzusammensetzung des Kapitals […] durch seine technische Zusammensetzung bestimmt wird und deren Änderungen widerspiegelt«, spricht Marx von der »organischen Zusammensetzung des Kapitals« (23/640). Nehmen wir ein empirisches Beispiel: kostete 1970 eine Chipfabrik 30 Millionen, so zu Beginn des 21. Jahrhunderts annähernd das Hundertfache. Auch wenn für einen genauen Vergleich weitere Parameter einbezogen werden müssten und die zwischenzeitlich akkumulierte Inflation herauszurechnen wäre, deutet sich der gewachsene Investitionsbedarf pro Arbeitsplatz an. Wenn aber nur die Arbeit Mehrwert bildet und die Profitrate durch das Verhältnis des Mehrwerts zum eingesetzten Kapital bestimmt ist, ergibt sich das Gesetz, dass bei steigender organischer Zusammensetzung des Kapitals die Profitrate fällt. Das Beispiel der Chipfabrik zeigt aber auch, wie Produktivkraftentwicklung die Herstellung der Produktionsmittel erfassen und die Produkte verändern und zusätzlich verbilligen kann. Wenn sie die Lebensmittel im weitesten Sinn der zum Leben benötigten Gebrauchs- und Verbrauchsgegenstände ergreift, wozu inzwischen auch die zunehmend in den unterschiedlichsten Gebrauchsgütern fungierenden Chips gehören, kann Produktivkraftentwicklung die relativen Kosten der Arbeitskraft senken. Sofern nicht durch Arbeitszeitverkürzung wettgemacht, erhöht sich also der Anteil der Mehrarbeit am Arbeitstag und so die Ausbeutungsrate (Mehrarbeit/notwendige Arbeit). Diese beiden realen Möglichkeiten der Wertsenkung von C und V nennt Marx »entgegenwirkende Ursachen«. Er spricht daher vorsichtig vom bloß »tendenziellen« Fall der Profitrate. – Wie immer man das Sinken der Profitrate erklärt, der Wirtschaftshistoriker Robert Brenner kann zeigen, dass es sich dabei um eine langfristige Tendenz handelt. Auf diese Tendenz antwortete das Kapital, unterstützt von staatlicher Wirtschafts- und Finanzpolitik, mit einer Reihe von Profit-Forcierungspolitiken, deren Folgen sich in der Großen Krise entladen haben.

6.3 Das Überakkumulationsgesetz

Der kapitalistische Gesamtprozess wie alle private Warenproduktion regelt sich reaktiv aus der Verfehlung des Gleichgewichts, da der gesellschaftlichen Gesamtproduktion kein Plan zugrunde liegt. Das gilt auch für die kapitalistische Warenproduktion. Doch bei ihr kommt etwas Entscheidendes hinzu. Und zwar ist die Verfehlung der gleichgewichtigen Proportionalität ihrem bestimmenden Zweck und treibenden Motiv, der Aneignung von Mehrwert und seiner Verwandlung in zusätzliches Kapital, eingeschrieben. Kurz, die Kapitalverwertung tendiert zur Überakkumulation. Diese schlägt in unregelmäßigen Abständen um in Kapitalvernichtung.

Das wird deutlich, wenn man folgende Bewandtnisse der Kapitalverwertung vor Augen führt: Da Geld nur quantitativ zählt, kennt Geldvermehrung keine qualitative Grenze. Kapitalanhäufung heißt Akkumulation, und Marx bringt die Kapitaldynamik auf die Formel »Akkumulation um der Akkumulation willen« oder, als abgeleitete Notwendigkeit, »Produktion um der Produktion willen« (23/621). Man kann den Kapitalprozess daher »produktivistisch« nennen. Damit will man sagen, dass er an keiner Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse zur Ruhe kommt. Dieses dem Kapital wesensfremde Zur-Ruhe-Kommen könnte unter anderen Verhältnissen etwa so aussehen, dass Produktivkraftentwicklung in proportionale Arbeitszeitverkürzung umgesetzt wird, die den derart partiell Freigesetzten ermöglicht, sich im Sinne dessen, was Frigga Haug (2008) die »Vier-in-einem-Perspektive« genannt hat, als gesellschaftliche Individuen weiterzuentwickeln. Der kapitalistische Produktivismus dagegen mündet in ein stets wachsendes Mehrprodukt, und die kapitalspezifische Natur dieses Reichtums zeigt sich darin, dass er sich auch nur kapitalistisch, das heißt, als sich verwertender Wert oder Einsatz zwecks weiterer Reichtumsvermehrung realisieren lässt. Die gesellschaftliche Reproduktion ist vom Standpunkt des reinen Verwertungsprozesses nie Zweck, allenfalls Medium und Effekt der Selbstvermehrung des Kapitals. Sie dem Markt zu überantworten und Staat und Zivilgesellschaft aus der Verantwortung zu entlassen, stürzt sie daher unweigerlich in die Krise.

Die Selbstvermehrung des Kapitals muss nun eine Hürde überwinden, die ihr selbst entspringt. Bereits der Wert der Waren und damit der in ihm enthaltene Mehrwert bedarf seiner Realisation als Verkaufserlös – ein immer riskanter Vorgang, den Marx mit einem Salto Mortale in die Geldform vergleicht. Und nun verlangt der so realisierte Mehrwert nach einer zweiten Realisation, die seine dominante Bestimmung erfüllt, sich aus Geld wiederum in Kapital zu verwandeln. In neues Kapital verwandelt es sich, indem es sich in seine sachlichen und persönlichen Produktionsmittel umtauscht und in den Verwertungsprozess eintaucht. Der Produktionsdurchgang stößt wiederum in Waren gebundenen Wert (einschließlich Mehrwert) aus, dessen Realisation ihn aufs Neue als Geld erscheinen lässt. Doch bei jedem Durchgang erhebt sich auf wachsender Stufenleiter erneut die Frage, woher die zahlungsfähige Nachfrage nach jenem Mehr an Produkten kommt. Diese Frage hat Rosa Luxemburg aufgegriffen und ihrem ökonomietheoretischen Hauptwerk über die Akkumulation des Kapitals zugrundegelegt: »Wie ist es aber mit der Realisierbarkeit der Früchte jener Ausbeutung, mit den Absatzmöglichkeiten?« (RL 5, 418)

Jenes Mehr ließ das Kapital einzig für sich selbst produzieren. Nun zeigt sich, dass seine Umwelt, obgleich sie ihm an sich gleichgültig ist, ihm doch nicht in jeder Hinsicht gleichgültig sein kann. Sie dient dem Kapital als Realisierungsmittel. Doch der Witz des Kapitals ist, dass es die Realisierungsmittel gerade selbst aneignet, sie also der Gesellschaft vorenthält. Es ist, als ginge es darum, das englische Sprichwort zu widerlegen: »You can’t have the cake and eat it«. Damit das Kapital diesen Kuchen kriegt, müssen andere ihn schlucken. »Gerade dass der ›Genuss‹ der Produkte auf andere übertragen wird, ist für das Kapital entscheidend«, sagt Rosa Luxemburg. »Denn der Genuss der eigenen Klassen: Kapitalisten und Arbeiter, kommt für die Zwecke der Akkumulation nicht in Betracht.« (RL 5, 373) Aber wie kann Warenwert von anderen fürs Kapital realisiert werden, wenn dieses die möglichen Realisierungsmittel gerade für sich behalten muss, weil anders sein Nachwuchs nicht in seine Fußstapfen treten und zu Kapital werden könnte und es damit auch seinem eigenen Kapitalcharakter an den Kragen ginge? Nicht die Realisierung der Gewinne, sondern die aus ihnen zu bestreitende Akkumulation des Kapitals bildet also die eigentliche Schwierigkeit. Denn das Kapital lebt einzig in der ewigen Unruhe des Verwertungsprozesses. 35

35 Der »kreislauftheoretische Sachverhalt, dass Gewinne vor allem von den Ausgaben der Kapitaleigner als Klasse selbst, dann noch von den kreditfinanzierten Staatsausgaben und dem Leistungsbilanzüberschuss abhängen« (Zinn 2008c, 27), ist davon zu unterscheiden.

Eine Menge finanztechnischer und wirtschaftspolitischer Instrumente sind erfunden worden, um zu verhindern, dass dieser Widerspruch explodiert. Im Zweifelsfall dient »Militarismus als Vollstrecker der Kapitalakkumulation« (RL 5, 385), wobei »die durch das Steuer-System in der Hand des Staates konzentrierten Mittel zur Produktion von Kriegsmitteln verwendet werden« (400f). Unter den Methoden zur Schaffung von Akkumulationsfeldern führt Luxemburg u.a. das »internationale Anleihesystem« auf (397).

Als Luxemburgs Akkumulationsbuch erschien (1913), war Papiergeld noch durch Gold gedeckt. Indem dieses für die Wertsubstanz des Geldes einstand, war dieses System letztlich auf von Banken gebündelte Ersparnisse angewiesen. Die Aufhebung der Golddeckung zunächst vorübergehend im Ersten Weltkrieg und schließlich, nach weiteren Wechselfällen, definitiv zu Beginn der 1970er Jahre emanzipierte mit dem Geld den Kredit von der Wertsubstanz. Die seither erfolgte Explosion der Kreditinstrumente und –derivate aller Art konnte die Grenzen der Kapitalakkumulation immer wieder hinausschieben. Doch den schließlichen Ausbruch der Krise konnte sie nur verzögern, und die Nebenwirkungen dieser Medikamente bilden ebenso viele neue Krisenpotenziale. Im Manifest beschreibt Marx, noch ohne schon die Feinanalyse des Krisenmechanismus geleistet zu haben und erst recht ohne Kenntnis der neuen Finanzinstrumente, die Folgen dieses Widerspruchs zweiter Ordnung: »Wodurch überwindet die Bourgeoisie die Krisen? Einerseits durch die erzwungene Vernichtung einer Masse von Produktivkräften; anderseits durch die Eroberung neuer Märkte und die gründlichere Ausbeutung der alten Märkte. Wodurch also? Dadurch, dass sie allseitigere und gewaltigere Krisen vorbereitet und die Mittel, den Krisen vorzubeugen, vermindert.« (4/468)

Im Kapital geht es dann vollends zur Sache. Hier wird der Boden, auf dem die Finanzkrise erwächst, begrifflich ausgemessen: Überproduktion von Kapital treibt immer mehr Geldkapital zur Anlage in Papiere, die handelbare »Ansprüche des Eigentums auf die Arbeit« (25/493), genauer gesagt: Rechtsansprüche auf künftiges Mehrarbeitsprodukt darstellen. Wenn ein periodischer Zahlungsanspruch (Miete oder andere Zinsen) gehandelt wird, errechnet sich sein Preis durch »Kapitalisierung«. Damit ist gemeint, dass berechnet wird, wie groß ein Kapital bei gegebener durchschnittlicher Ertragslage sein müsste, um genau diesen Ertrag abzuwerfen. Im Unterschied zum Einsatz von Realkapital in Gestalt sachlicher und persönlicher Produktionsfaktoren handelt es sich hier um fiktives Kapital. Fiktiv ist es, weil es nur einen selber produktionslosen Anspruch auf eine regelmäßige Zahlung ist, die ihrerseits ebensowenig der Produktion entspringt. In seiner Verknüpfung von Geld und mehr Geld über ein zeitliches Intervall hinweg bildet es nur ein Kapital-Analogon. Wird der Kurs solcher Aneignungsansprüche durch die Vermehrung anlagesuchenden Geldes nach oben getrieben, was, weil Kursgewinne winken, wiederum den Antrieb zur Anlage steigert, bläht das fiktive Kapital sich auf. Vervielfacht durch den Kredit, den es auf seine spekulativen Objekte zieht, beschäftigt anlagesuchendes Geldkapital sich gleichsam so lange mit sich selbst – bis die Kapitalfiktion platzt.