Buch lesen: «Mords-Stünzel»

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Wolfgang Breuer

Mords-Stünzel

Ein Wittgenstein-Krimi


Dieses Buch ist ein Roman. Handlung und Personen, wie Täter und Opfer, sind frei erfunden. Allerdings spielen darin auch real existierende Personen im sehr realen Wittgensteiner Land eine gewichtige Rolle. Diesen Menschen schulde ich für ihr freundschaftliches Einverständnis dazu meinen aufrichtigen Dank. Sie machen die Geschichte ein ganzes Stück weit authentischer. Bezüge zu und Anspielungen auf Ereignisse des aktuellen Zeitgeschehens sind ebenso gewollt wie notwendig.

Wolfgang Breuer

Mords-Stünzel

Ein Wittgenstein-Krimi

Cover: unter Verwendung einer Zeichnung von

Herbert Kleinbruckner-Gautam (www.bildhauergautam.de)

Rückseite: Foto von Herbert Kleinbruckner-Gautam

Autorenfoto: Fotoatelier Christiane

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eISBN 978-3-96136-022-2

Print ISBN 978-3-96136-021-5

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Inhalt

Sonntag, 12. Juni

Montag, 13. Juni

Dienstag, 14. Juni

Mittwoch, 15. Juni

Sonntag, 12. Juni

„Junge, kannst Dü mäa äwe mul helfe, hie dä Ohänga aus’m Dreck ze zieh?“ „Kienhewersch Winfried“ hatte sich an einen jungen Mann gewandt, der gerade dabei war, die Rückseite eines Marktstandes zu demontieren.

Doch der Angesprochene, den er eigentlich für den Junior vom „Schaumwaffel-Willi“ aus Aue gehalten hatte, schaute ihn nur etwas irritiert an. Von dem Wittgensteiner Platt hatte er kein Wort verstanden und fragte: „’tschuidigen’s, wos moanans?“

‚Mist, das iss’n Ausländer’, dachte der Bauer aus Rinthe und wollte gerade abdrehen. Aber der Mann fragte nochmals, diesmal auf Honoratioren-Bayerisch: „Wo-mit-konn-i-Eahnahöij-fen?“

Damit kam etwas mehr Licht ins Dunkel der Konversation. Also versuchte es auch Winfried erneut: „Es wäa schön, wenn De ma mal helfen könntest, hier an mei’m Pferdeanhänga. Ich krich den net aus dem Dreck da raus.“ Das war jetzt Wittgensteiner Hochdeutsch. Der Bayer lächelte und kam näher. Ging doch!

Benedikt, Sohn eines Loden- und Trachtenhändlers aus Lenggries in Oberbayern war ein ausgesprochen netter Typ. 22 Jahre alt und augenblicklich, während der Semesterferien, mit den Eltern auf Tour quer durch die Republik. Natürlich war der ‚Bene’, wie ihn alle nannten, bereit, dem Manne zu helfen, der sich durch ein ganz unglückliches Rangiermanöver direkt hinter dem Trachten-Stand festgefahren hatte. Sein Tandemanhänger steckte zwischen zwei Buchen fast bis zu den Achsen im aufgeweichten Boden. Und Winfrieds alter 230er Mercedes bekam die Karre nicht mehr raus.

Es war Sonntag, Tag eins nach dem sage und schreibe 184. Stünzelfest. Die große Tierschau mit Prämiierung, Markt und Rummel. Wieder war es ein grandioses Ereignis, das bei tollem Wetter über fünfzehntausend Menschen auf den herrlichen Waldfestplatz gelockt hatte. Und nun waren Händler aus aller Herren Länder dabei, ihre nicht verkauften Waren und ihre Stände zusammenzupacken und den Heimweg anzutreten.

Am späten Abend hatte es plötzlich wie aus Kübeln gegossen. Da war keiner von ihnen bereit, seinen Krempel zusammenzupacken und dabei patschnass zu werden. Der Abbau musste halt jetzt passieren.

Nur noch von den Laubbäumen fiel der eine oder andere Regentropfen herunter. Ansonsten schwante wieder so etwas wie Sommer über Wittgenstein.

Landwirt Winfried Stremmel, Hausname „Kienhewersch“, war am Morgen zu Fuß hergekommen. Denn er hatte über Nacht seinen Pkw samt Pferdeanhänger hier stehen lassen. Weil der Wallach, den er mit dem Hänger üblicherweise transportierte, gestern seinen Besitzer gewechselt und Winnie dieses lukrative Geschäft anschließend mit vielen Gläsern Pils, diversen Kurzen und dem legendären „Bullenauge“ begossen hatte. Seine Trinklaune war fast grenzenlos.

Trotzdem ging aber irgendwann vor seinem geistigen Auge ein rotes Lämpchen an. Denn der Mann aus Rinthe hatte absolut keinen Bock auf dauerhaftes Zufußgehen, weil ihm im Suff sein Lappen abgenommen worden war. Mit 61 kriegt man den Führerschein in der Regel nur noch mit tausend Klimmzügen wieder. Und das war ihm sogar in seinem „wahne sträwen Kopp“ erinnerlich geblieben.

Also hatte er sich von einem Taxi heimfahren lassen. Das war gar nicht so teuer. Denn seine Nachbarn, Ulla und Helmut Dreisbach, hatten zur selben Zeit dasselbe Fahrtziel. Und so wurden die Kosten für den Trip geteilt.

Noch billiger war jetzt nur noch sein Fußmarsch hierher. Ein Kraftakt zwar, nach der Stallarbeit. Aber die frische Luft, die er bei der Wanderung rauf nach Stünzel gegen letzte Alkoholausdünstungen in seiner Lunge tauschte, ließ ihn richtig munter werden. Der durchaus ansehnliche, schlanke Mann mit dichtem, grauem Haar fühlte sich fit wie ein Turnschuh.

Benedikt Raitmaier hatte sich inzwischen die Lage genauer angesehen und dem Winnie angeboten, seinen BMW-Offroader ganz vorne dran zu hängen. „Des dearft’ reich’n. Dann ziag ma Sie samt Daimler do heraus. Obschleppseil hob’ i dabei. Is des a Wort?“

„Jo, kimma su mache …, äääh … können wa so machen“, grinste der Hilfebedürftige und ging schon mal zu seinem Auto, um die vordere Anhängeschlaufe für das Schleppseil ausfindig zu machen. Häufig hatte er die in den 23 Lebensjahren seines Diesels nicht benutzen müssen. Aber jetzt galt’s.

Ein paar Minuten später hatten sie das Gespann zusammengebunden. Und der ‚Bene’ war langsam angefahren. Doch es ging nicht so recht vorwärts. Darum erhöhte der BMW-Fahrer die Drehzahl. Dreck spritzte auf die Frontscheibe von Winfrieds Wagen. Des Offroaders breite Schlappen drehten auf dem nassen Boden durch. Trotz „Four-Wheel-Drive“. Früher nannte man das „Allrad-Sperrdifferenzial“.

‚Jetzt bloß den Scheibenwischer auslassen’, dachte sich der Landwirt. ‚Sonst hast du gleich den größten Schmier vorne drauf und siehst gar nix mehr.’

Aber es klappte einfach nicht. Und der junge Bayer kapitulierte erst einmal. Er stieg aus und kam zum Daimler zurück. „Des woa fei a saublede Idee. Wos hoidn’s dovon, dess ma den Hänger abkoppijn und z’erst a moij schaugn, des mia mit die zwoa Autos do naus kimma? Mia hätt’n sofoart an Traktor hoi’jn soijn.“

„Die Idee hatte ich auch schon. Awwa hia is ja keina weit und breit“, ärgerte sich Stremmel, der sich langsam in den Slang seines jungen Helfers reingehört hatte. „Kein Schwein mit’m Schleppa da.“

„Doch, do kimmt oana!“, rief der Bene begeistert aus. „Un wos fir an Brumma!“ Tatsächlich näherte sich ein riesiges Gefährt. Der Bayer rannte quer zwischen halb zerlegten Buden und Wagen zum Hauptweg, hielt den Treckerfahrer an und erklärte ihm in breitem, alpenländischem Slang, wo der Hase im Pfeffer lag. Der Mann auf dem mächtigen Deutz begriff offenbar sofort und nickte. Kurz darauf hatte er erst den BMW und dann den Mercedes samt Hänger am Haken und zog sie fast behutsam aus dem Dreck. Eine prachtvolle Demonstration von Stärke war das, für die sich die Männer im Schlamm brav bedankten.

„So, i muass jetz’ a. Pfia Di, meijn Liawa“, rief der Benedikt, holte das Schleppseil ein und stieg in seinen BMW, um wieder vor den Stand seiner Eltern zu fahren. Winnie, glücklich wieder auf halbwegs trockenem und festem Boden zu stehen, wollte es ihm gleich tun. Doch er musste zunächst die Fußmatten einsammeln, die er am Morgen als Unterlage für seine durchdrehenden Räder in die Pampe am Boden gelegt hatte. „Meine Herrschaften, sin’ die dreckich“, motzte er vor sich hin, als er die vor Matsch triefenden Teile mit weit ausgestreckten Armen und spitzen Fingern zu seinem Anhänger schleppte. Die Seitentür vorne war unverschlossen geblieben und leicht zu öffnen. Wie immer, wenn nichts drin war. So konnte er die schmierigen Matten einfach mit Piff um die Ecke in den Hänger feuern und sich vom Acker machen.

Was ihm auffiel, war, dass die Matten keinen Ton, nicht mal ein Rascheln auf dem Stroh im Inneren des Hängers verursachten. Sie schienen auf etwas Weiches gefallen zu sein. ‚So’n Mist’, dachte der Bauer, ‚is’ da etwa noch die Pferdedecke drin, runner gefallen un’ liecht jetz’ unner dem Matsch?’ Die hätte eigentlich der Käufer von „Luego“, haben sollen. Da war nämlich der Name des Wallachs eingestickt.

Nichts, was ihn jetzt sonderlich beunruhigte. Aber irgendwie wollte er doch nachschauen. Eventuell müsste er da heute noch nach Feudingen, um dem neuen Besitzer sein Eigentum nachzuliefern.

Also öffnete er die Seitentür nun weiter, schaute um die Ecke in den Wagen und schreckte zurück. „Hey, was machen Sie denn da drin? Kommen Sie da raus. Sofort. Hallo, aufstehen bitte!“ Auf dem Stroh und unter seinen dreckigen Fußmatten lag eine junge Frau. Sie schien tief zu schlafen und rührte sich nicht einen Millimeter. Daneben die Pferdedecke.

„Das gibt’s doch auf kei’m Schiff, verdammt noch mal“, wurde Stremmel jetzt lauter. „So besoffen kann ma doch gar net sein. Aufstehen jetz’! Awwa dalli! Sonst schmeiß’ ich Sie eijenhändich raus!“ Doch die Frau rührte sich nicht.

Winfried wurde richtig sauer. Da musste er wohl jetzt wirklich selbst Hand anlegen. Obwohl ihm mulmig dabei zumute war. Eine fremde, liegende Frau anfassen. Bei dem Gedanken kam er sich nicht gut vor. So ganz ohne Zeugen. Also kletterte er in seinen Hänger und kniete sich neben die vermeintlich Schlafende. „Aufstehen, bitte!“, wurde er noch lauter. Er fasste sie an den Schultern und wollte sie wachrütteln. Doch dann sah er plötzlich, dass der Schlaf dieser wirklichen Schönheit einer für die Ewigkeit war. Die Augen der jungen Frau waren offen, ihr Blick starr. Sie war tot. Eindeutig.

Der Landwirt wich zurück, atmete tief, rang sich aber bald zur Pulskontrolle an der Frau durch. Doch die Suche nach einem fühlbaren Herzschlag in den Adern konnte er sich getrost sparen. Der Arm, an dem er kontrollieren wollte, war steif und eiskalt.

„Du liewa Herrgott“, entfuhr es ihm. „Was für ’ne Katastrophe. Was für eine unglaubliche Scheiße“, wurde er immer lauter. Eine Tote. Und das noch in meinem Pferdeanhänger. „Die is’ doch noch keine 25 Jahre alt,“ stammelte Stremmel laut vor sich hin. „Und dann noch so ein hübsches Ding.“ Er war total durch den Wind.

„Hey!“, brüllte er, „hey, komm doch mal einer her!“ Aber niemand hörte ihn.

In seinem Kopf spielte alles verrückt. ‚Was soll ich denn jetz’ machen?’ Er brauchte eine Weile, um wieder zu klarem Verstand zu kommen. Dann aber war alles klar für Winfried. ‚Erst Polizei anrufen und dann die Händler informieren, die noch am Platz waren. Die müssen noch bleiben’, dachte er. Sie waren vielleicht Zeugen.

Winnie ließ alles so, wie er es vorgefunden hatte. Auch seine Fußmatten lagen noch auf der Leiche, als er ausstieg und sein Handy aus seinem Daimler holte.

„Polizeinotruf, guten Morgen“, kam es wenige Sekunden nach seiner Nummernwahl 110 mit weiblicher Stimme aus dem Mobiltelefon.

„Ich hab’ hier ’ne Frauenleiche zu melden“, verkündete Winfried Stremmel mit zitternder Stimme. Alles was Recht ist. Aber keiner kann von einem 61-Jährigen verlangen, in einer solchen Situation cool zu bleiben.

„Eine Frauenleiche? Wer sind Sie denn? Und wo befinden Sie sich zur Zeit?“

„Winfried Stremmel aus Bad Berleburg-Rinthe. Ich bin zur Zeit auf’m Festplatz in Stünzel. Ich hab’ se grade gefunden. Die liecht in meinem Pferdeanhänger. Sieht aus, wie wenn se schlafen würde.“

„Sind Sie sicher, dass die Frau tot ist? Haben Sie auch den Rettungsdienst gerufen.“

„Nein, Rettungsdienst noch net. Aber ich glaub’, den brauchen wa net. Ich bin sicher, dass se tot ist. Wohl schon länger. Denn se is eiskalt und steif. Wahrscheinlich schon Leichenstarre.“

„Alles klar. Konnten Sie irgendwelche Verletzungen an der Toten erkennen?“

„Nä, awwa das is auch net so einfach. Ich hab’ keine Erfahrung mit so was. Un’ ich will auch nix verändern oder noch mal anpacken.“

„Wieso ‚noch mal anpacken’?“

„Ja, weil ich doch nach’m Puls fühlen musste. Awwa dabei wurde’s dann klar, dass se tot is’.“

„Das war richtig, was Sie getan haben“, erwiderte die Frau am Polizeinotruf. „Lassen Sie bitte alles unverändert und warten Sie auf das Eintreffen meiner Kollegen. Die werden aus Bad Berleburg kommen und in dieser Minute losfahren.“

Nachdem sie auch noch Winnies Handynummer aufgeschrieben hatte, beendete die Dame auf der anderen Seite das Gespräch.

Kienhewersch Winfried lief wie ferngesteuert zwischen den Wagen und Anhängern herum, die mittlerweile fast alle fertig gepackt und abreisebereit waren. Vorne fuhren bereits zwei von den Händlern an. „Stopp, anhalten! Ihr könnt noch net weg!“, versperrte er ihnen den Weg. „Ihr müsst noch hier bleiben. Da hinten licht ’ne tote Frau. Die Polizei kommt gleich.“

„Bisse noch so besoffen, dasse weiße Mäuse siehs’ oda wat?“ Der Messer- und weiß der Himmel was noch -Händler aus Remscheid schaute aus dem Fahrerfenster seines Transporters und wedelte mit der linken Hand vor seinem Gesicht herum. „Wo soll denn da ’ne Tote herkommen? Du has’ doch einen am Appel, hömma! Leech Dich wieda hin un schlaf ma aus!“

Doch Winnie rührte sich nicht von der Stelle. Wenn hier einer losführe, dann müsste er ihn über den Haufen fahren.

Von weiter hinten kam der Benedikt nach vorne gesprintet. „Ja, wos is’n? Host scho wieada a Problem? Mia miassat’n longsom a moi los. Mia kriag’n neiche Ware, die mir underwegs auflod’n woijn.“

„Könnta awwa net.“ Winfried Stremmel erklärte schnell die Lage, worauf der junge Kerl kreidebleich wurde, wieder zurückrannte zu den wartenden Eltern und sie mehr oder weniger nötigte, auszuharren, bis die Polizei kommen würde.

Die Nachricht hatte allgemeine Verwirrung unter den Anwesenden ausgelöst. Eine Tote in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft? Die meisten wollten schnell mal in den Pferdeanhänger schauen, um sich zu vergewissern, ob das auch stimmte und ob sie die junge Frau eventuell kannten. Aber sie mussten vorsichtig sein, um keine Spuren zu hinterlassen. Im Übrigen konnten sie ihr Gesicht ja nicht sehen. So blieb ihnen dann, sich schaudernd oder kopfschüttelnd abzuwenden.

Drüben, vom Ort her, waren Martinshörner zu hören. Das Gedudel der Polizeisirenen überschlug sich. Sodass man den Eindruck haben musste, es sei eine ganze Hundertschaft im Anmarsch. Aber es kamen ‚nur’ drei Streifenfahrzeuge.

Jeweils mit zwei Leuten besetzt. Und kurz darauf traf noch ein Notarztwagen ein. Hatte die Dame vom Notruf dann wohl doch für nötig befunden.

„Wer von Ihnen ist Herr Stremmel aus Rinthe?“ Es war Polizeikommissar Jürgen Winter, der das fragte und in die Runde schaute. Winnie meldete sich aus der Gruppe der Umherstehenden. „Ach, Sie sind das. Wir kennen uns doch, Herr Stremmel. Ich wohne in Weidenhausen. So weit liegen unsere beiden Dörfer ja nicht auseinander. War doch erst neulich auf dem Sängerfest, als wir uns zum letzten Mal begegnet sind.“

„Stimmt. Jetzt, wo Sie’s sagen … Hab’ Sie doch noch nie in Uniform gesehen.“ Winnie war weit angenehmer in seiner Haut, als er erfuhr, dass er es mit einem Wittgensteiner Beamten zu tun hatte. Wenngleich er sich ja keiner Schuld bewusst war. Aber die Polizei war für ihn immer etwas Respekteinflößendes gewesen. Das hatte sich bis in sein siebtes Lebensjahrzehnt nicht geändert. „Wenn de net parierst, holt Dich de Polizei. Un dann kommste ins Loch.“ So hatten die Alten immer wieder bedingungslose Loyalität eingefordert. Und das funktionierte.

„Wo liegt denn die Frau?“, drängte der Notarzt. „Können Sie uns dahin bringen?“

„Natürlich. Kommense!“ Winnie setzte sich in eine Art Trab. Stimmte ja. Für den Arzt durfte keine Zeit vergehen.

Hinter ihm rannte jetzt eine kleine Armada her, rüber auf den Seitenweg im Buchenwald. Notarzt, Sanitäter, Jürgen Winter und ein weiterer Polizist. Im Laufen rief Winter den vier anderen Kollegen zu: „Bitte die Personalien der Händler und Schausteller aufnehmen und befragen! Niemand fährt oder geht weg, bevor nicht die Kripo hier ist!“

„Na, das kann ja noch heiter werden heute!“, rief eine Frau, die sich vor ihrem Brezelwagen aufgebaut hatte.

„Das ist mir zu dunkel hier drin!“, rief der Notarzt aus dem Anhänger heraus. Könntet Ihr mal hinten die Klappe aufmachen?“

„Aber bitte nur mit Handschuhen!“, befahl Winter. „Wegen der Fingerabdrücke. Lasst Euch welche vom Rettungssanitäter geben.“

Als die Klappe heruntergelassen war, lag die junge Frau da wie auf einer Show-Bühne. Ihr dunkles, langes Haar umgab ihr Gesicht wie eine Corona. Und gnädig beleuchtete die milchige Junisonne dieses Drama. Wenngleich die Schöne im Stroh von draußen gar nicht wie tot aussah. Nur extrem blass und mit fragendem Blick. Doch der Mediziner bestätigte jetzt offiziell ihr Ableben und schloss ihre Augen. Vor mindestens zwölf Stunden sei sie gestorben, stellte er fest, nachdem er den Leichnam genauer angeschaut und die Umgebung gesichtet hatte. Die Todeszeit könne man vage anhand der Leichenstarre bestimmen, die intensiv ausgeprägt war.

„Es ist jetzt 9.40 Uhr“, begann Jürgen Winter zu rechnen, „minus zwölf Stunden. Das wäre um 21.40 Uhr gewesen.“

„Ja, gehen Sie mal davon aus, dass sie grob gerechnet zwischen neun und elf Uhr heute Nacht starb.“ Der Notarzt packte seine Utensilien zusammen und stellte einen Totenschein aus. Todesursache: „Vermutlich Äußere Gewalteinwirkung, Fraktur des Os hyoideum wahrscheinlich.

Bitte lassen Sie alles weitere durch einen Kollegen vom Rechtsmedizinischen Institut untersuchen. Die Sache ist mir nicht geheuer. Die Frau hat mehrere Einstichstellen in der linken Armbeuge. Darunter eine recht frische. Aber ich kann in dem Wagen hier keinerlei Spritzutensilien finden. Dazu scheint mir ihr Zungenbein gebrochen zu sein. Beides würde einen natürlichen Tod nahezu ausschließen.“

„Na bravo“, kommentierte Winter die ärztliche Feststellung und wandte sich an den Kollegen Rüdiger Mertz, der ihn begleitet hatte. „Kannst Du bitte die Kollegen von der Kripo informieren, dass wir das ‚große Besteck’ aus Siegen brauchen?“ Gemeint waren damit Rechtsmedizin und Spurensicherung.

„Klar, mach’ ich.“ Der Polizeihauptmeister ging ein paar Schritte zur Seite und setzte die Info per Smartphone ab. Auf der anderen Seite hatte sich Corinna Lauber gemeldet, die frisch zur Kriminaloberkommissarin befördert worden war. Die allseits beliebte Kollegin hatte Wochenenddienst und war sofort an der Strippe. „Hatte mich schon vorbereitet, dass da eventuell noch was dazu kommt. Bin schon fast bei Euch. Ich fahre gerade an Hemschlar vorbei. Okay, ich rufe sofort in Siegen an. Bis gleich.“

Wenige Minuten später kam Corinna in ihrem zivilen Dienst-Mondeo angerauscht. Besser, sie wurde angerauscht. Denn nicht sie saß am Steuer, sondern Sven Lukas, der ‚Freak’. Sie hatte ihn auf der Fahrt von ihrem Wohnort Girkhausen in der Wache in Berleburg aufgesammelt und von seinen schon fast manisch betriebenen Internet-Recherchen weggezerrt. „Komm“, hatte sie gesagt. „Das auf dem Stünzel ist realer als alles, was Du hier aus dem Netz ziehen kannst.“

„Stimmt“, hatte er gegrinst. „Das war schon ganz schön real, was ich gestern auf dieser Fete im Wald erlebt hab’. Ich war ja vorher noch nie da und hab’ mir die Augen gerieben, als ich sah, was da abgeht. Vor allem, was da weggeschluckt wird. Alte Schwedin“, lachte er, als sie die Treppe runter zum Wagen liefen.

„Mit der meinst Du aber jetzt nicht mich“, hatte sie sich kokett zur Wehr gesetzt.

„Mit der Schwedin, meinst Du? … Nee, die ist bedeutend älter.“

Es wurde eine fröhliche Fahrt aus einem todtraurigen Anlass. Diesen Widerspruch können Außenstehende nur schwer verstehen. Deshalb dringt so etwas auch selten nach ‚draußen’. Für viele der Polizeibeamten sind solche Spaß-Situationen einfach überlebenswichtig. Ohne einen gewissen Galgenhumor würden sie nämlich ihre häufig erschütternden Diensterlebnisse nicht heil an Geist und Seele überstehen. Und das hier war halt mal eine Portion ‚Humor zur Prophylaxe’. Bei der Einfahrt in den Festplatz, entlang der aufgereihten Händlerfahrzeuge, zischte Corinna dann auch: „So, aufhören mit Grinsen. Dienstgesicht bitte. Wir sind da.“

„Die sind da drüben“, hatte ihnen eine Kollegin bedeutet, die gerade bei einer Zeugenbefragung im Streifenwagen saß. Mit einer Kopfbewegung deutete sie ihnen den Weg an. Und während die beiden Kripo-Leute zum ‚Tatort’ liefen, meinte Sven: „Sieht ganz schön trostlos aus jetzt. Gestern steppte hier der Bär. Mann oh Mann.“

„Das scheint Dich ja ganz schön beeindruckt zu haben, die Trinklust meiner Landsleute“, lachte Corinna.

„Nee, das war nur geiles Beiwerk. War echt was geboten. So richtig nachhaltig beeindruckt hat mich aber eigentlich nur Kathrin, die ich gestern hier kennengelernt habe. Eine tolle Frau. Lebt in Laasphe und studiert an der Uni in Siegen. Wenn’s klappt, dann werde ich sie morgen Abend ab…“

„Dann wirst Du sie morgen Abend was?“, wollte Corinna wissen.

Sven kam nicht weiter. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er auf die Tote, die sie hinter einer Art Paravent fanden. Winter und Mertz warteten dort. Der Notarzt war bereits gefahren.

„Nee“, verbesserte Sven Lukas seinen Satz von eben, wobei er sich fast anhörte wie ein Roboter, so seltsam statisch klang seine Stimme, „nee, ich werde sie morgen Abend nicht abholen.“ Dann stiegen ihm Tränen in die Augen.

„Lukas? … Lukas? Hey, was ist los mit Dir?“, wollte Corinna wissen.

Doch er antwortete nicht.

„Kennst Du die Frau?“

Er nickte stumm.

„Wer ist das?“ Corinna erahnte die Antwort zwar. Aber sie wollte sie von dem Kollegen hören. „Ist das etwa Kathrin?“

„Ja“, brachte er unter Schlucken hervor, „das ist …, das ist Kathrin. Kathrin Kögel, gestern 24 Jahre alt geworden.“ Weiter kam er nicht. Sven drehte ab und ging langsam ein Stück in den Buchenwald hinein. Jürgen Winter folgte ihm mit einigen Schritten Abstand. Bis der schwer angeschlagene Kriminalhauptmeister stehen blieb. Jürgen legte seinen Arm um dessen Schulter und zog seinen Kopf nahe an sich.

„Heul’s raus, Junge. Das tut gut. Und schäm’ Dich nicht deswegen. Keinem von uns ginge es anders.“

„Aber ich hab’ sie doch erst gestern Mittag kennengelernt. Das gibt’s doch gar nicht, Mensch“, kam es mit weinerlicher Stimme zurück.

Jürgen blieb stumm. Was hätte er auch antworten sollen. ‚Das Schicksal ist eine Hure’, dachte er bei sich. ‚Sie arbeitet präzise nach Auftrag. Nur, woher der Auftrag kommt und wer sie dafür bezahlt, das ist nicht bekannt.’

So standen sie eine ganze Weile. Und Sven Lukas schien sich langsam zu beruhigen. Mit geröteten Augen schaute er nach einer ganzen langen Weile fast beschämt auf zu dem Kollegen, der ihn noch immer im Arm hielt. „Es ist so scheiße, das Ganze!“, rief er plötzlich, machte sich frei und ging zurück zu dem Pferdeanhänger. Jürgen folgte ihm.

„Geht’s wieder?“ Corinna legte einen besorgten Gesichtsausdruck auf, als sie den jungen Kollegen kommen sah.

„Ja, glaub’ schon“, antwortete dieser. Wissend, was jetzt kam. Corinna wollte sicher wissen, wann und unter welchen Umständen er Kathrin kennengelernt hatte, was er über sie wusste und wie intensiv diese erste Begegnung war. Das kannte er natürlich aus Schulung und praktischer Anwendung. Insgeheim hoffte er, dass er das ohne bedeutende Gemütsausbrüche durchstehen würde.

Doch die Kollegin ließ sich Zeit mit der Befragung. Vorher beauftragte sie Rüdiger Mertz noch damit, per POLAS, dem Polizeiauskunftssystem, und in anderen Datenbanken Recherchen in Sachen der Getöteten anzustellen. Besonders, ob sie in irgendeiner Form wegen Drogenkonsums und einschlägiger Delikte aktenkundig geworden war. Darüber hinaus natürlich Feststellung ihres Wohnortes, ihrer Familienangehörigen et cetera.

„Wäre eigentlich jetzt Aufgabe des ‚Freaks‘“, sinnierte Mertz. „Aber das geht natürlich überhaupt nicht. Arme Sau, der Kollege.“ Dann marschierte er zum Dienst-Bulli, der im hinteren Bereich alle möglichen Apparaturen wie Telefon, Laptop, Internetanschluss usw. beherbergte.

Corinna wandte sich an Jürgen Winter und ließ sich von ihm noch einmal den Totenschein zeigen, den der Notarzt ausgestellt hatte. ‚Todesursache: Vermutlich Äußere Gewalteinwirkung, Fraktur des Os hyoideum wahrscheinlich’ las sie dort. Und dann kontrollierte sie die Einstichstellen am linken Arm der jungen Frau. Tatsächlich konnte man erkennen, dass eine von ihnen jüngerer Natur sein musste. An den Kehlkopf der Toten aber traute sie sich nicht heran.

„Wie intensiv hat er sie denn untersucht?“, wollte Corinna von Jürgen wissen.

„Naja, schon ziemlich. Okay, ausgezogen hat er sie nicht. Ich glaube, das hat sich für ihn erübrigt, nachdem er die Fixermerkmale ohne das dazugehörige Besteck und das mit dem Zungenbein entdeckte.“

„Natürlich. Das spricht alles für sich. Und die genauere Ermittlung der Todesursache ist jetzt ohnehin Aufgabe von Doc Kölblin und seinen Leichenfledderern. Ich wollte nur sicher gehen, dass der Notarzt seine Arbeit auch gründlich gemacht hat.“

„Das hat er ohne Zweifel“, beurteilte Doktor Kölblin persönlich die Auswertungen des Mannes vom Rettungsdienst in Bad Berleburg. Der Chef der Rechtsmedizin war ebenfalls Opfer der Sonntagsdienst-Regelung und verdammt schnell mit seiner Truppe am Ort des Geschehens aufgeschlagen.

„Es ist erstaunlich. Man erkennt keine Einblutung im Bereich des Kehlkopfs. Aber das Zungenbein ist eindeutig kaputt. Das junge Ding ist aller Wahrscheinlichkeit nach erwürgt worden. Gratulation an den Kollegen, der das bei seiner groben Leichenschau erkannt hat.“

Die umherstehenden Polizisten mussten schlucken. Tatsächlich Mord. Verdammte Sauerei!

Der Sonntagvormittag verging mit Personenbefragungen und mit einer Tatort-Nachsuche, die genauso kompliziert, wie am Ende ineffektiv war. Weil sich im Wald- und Wiesengelände hinter der abgeräumten Budenstadt der ursprüngliche Standort des Gespanns von Winfried Stremmel nicht mehr einwandfrei feststellen ließ. Zu tief und zu zertreten waren die Fahrspuren. Und Winnie konnte sich auch nicht mehr auf den Meter genau daran erinnern. Weil ihm jetzt die abgebauten Buden als Referenzpunkte fehlten. Sechs Uniformierte waren eigens nachgefordert worden. Aber so intensiv die Polizisten auch suchten. Es fand sich nichts Relevantes. Schon gar keine Spritzen oder dergleichen. Nur Müll und jede Menge ganzer und noch mehr zerballerter Biergläser.

Und letztere bekam Corinna schmerzvoll zu spüren. Sie hatte sich nämlich einen Glasboden durch die Sohle ihrer dünnen Sommerlatschen getreten und einen ordentlichen Schnitt im Fuß davongetragen. Zum Glück waren noch die Pathologen vor Ort, die, wenngleich eigentlich für Leichen zuständig, ihren Fuß gleich zu zweit kunstvoll verarzteten. Damit war fast alles wieder gut. Was blieb, war eine hinkende Ermittlerin.

Auch Mertz war mit seinen Recherchen zur Person nicht sonderlich erfolgreich. Denn Kathrin Kögel fand sich weder im Sündenregister der Polizei, noch in der Flensburg-Kartei wieder. Sie hatte eine blütenweiße Weste, eine Wohnung in der Sebastian-Kneipp-Straße 24 in Bad Laasphe und offenbar keine Angehörigen mehr. Seit dem Herbstsemester 2013 war sie an der Uni Siegen im Fach Wirtschaftsinformatik eingeschrieben.

Auffällig war jedoch, dass es bei der Leiche weder eine Handtasche mit Papieren, noch sonst irgend etwas Verwertbares zur Kontrolle der Personalien gegeben hatte. Nichts. Die Frau in hellen, modisch „angeknabberten“ Jeans, roten Sneakers und einer dunkelblauen Tunikabluse mit Dreiviertelarm hatte nichts dabei. Keinen Personalausweis, keinen Führerschein, nicht mal ein Papiertaschentuch in den Hosentaschen.

„Da hat jemand gründlich aufgeräumt“, war Steffen Siebert von der Spurensicherung schon wenige Minuten nach seinem Eintreffen überzeugt.

Denn nach Sven Lukas’ Schilderungen hatte die Studentin sehr wohl eine Tasche dabeigehabt. Eine Umhängetasche, die mit allem möglichen voll gestopft war. Immer wieder habe Kathrin den ganzen Sermon vor sich auf den Biertisch gekippt, „wenn mal wieder das Smartphone klingelte. Da kamen zig Anrufe zu ihrem Geburtstag“, erinnerte er sich mit roten Augen. „So ’ne Art ‚Shopper’ war das, in Hellgrau. Und die Tasche hatte ’nen Aufdruck. Wartet mal … Ich glaub’, ‚I love Uni Siegen’ stand drauf. Genau, das war’s. ‚I love Uni Siegen’.“

Der arme ‚Freak’ saß auch noch nach einer Stunde im ‚Verhör-Bulli’. Ihm gegenüber Corinna Lauber, die wirklich alles, jede Kleinigkeit, über den Tag mit der jungen Frau wissen wollte. Und Pattrick Born, der ebenfalls zu dem Fall hinzugezogen worden war. ‚Kein Detail auslassen’ musste ihre Devise sein. Denn es wäre der Teufel los, wenn man ihnen nachweisen könnte, dass sie bei der Vernehmung eines Kollegen in einem Mordfall nicht die rechte Sorgfalt hatten walten lassen.

„Könnte ohnehin passieren, dass sie Dir noch Kollegen aus einer anderen Direktion auf den Hals schicken. Der ‚inneren Hygiene’ wegen“, informierte Born den Kollegen. „Man will damit ausschließen, dass es zu Mauscheleien unter Kollegen kommt, die sich gut kennen.“ Sven kannte diese Verfahrensweise.

„Der liebe Gott bewahre mich davor. Ich hab’ doch nix gemacht. Ich hab’ nur eine tolle Frau kennengelernt und mich Hals über Kopf in sie verliebt. Mehr nicht. Das ist noch keine 24 Stunden her. Und jetzt ist sie tot, verdammte Scheiße. Wer glaubt denn, dass ich so was mache?“

Verstohlen aktivierte Sven das Foto-Archiv auf seinem Smartphone und suchte ein Bild heraus. „Hier, seht Euch das an. Das war etwa fünf Minuten, bevor ich nach Hause gefahren bin.“ Es war ein Selfie, das die beiden lächelnd Wange an Wange zeigte. Sie sahen happy aus. Glückliche Gesichter vor dem Hintergrund eines nur noch recht schütter besuchten Bierzelts.

€5,99

Genres und Tags

Altersbeschränkung:
0+
Umfang:
341 S. 3 Illustrationen
ISBN:
9783961360222
Rechteinhaber:
Bookwire
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