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„Ja, okay“, antwortete Winter. „Aber dem werden sie doch seither so sehr auf die Finger gucken, dass ihm der Spaß an den Flechettes vergangen ist.“

„Kann schon sein. Aber der Fall belegt ja Ihre Behauptung, dass es eine oder sogar mehrere Beschaffungsquellen gab, vielleicht sogar noch gibt.“

Jürgen runzelte die Stirn. „Da ist was dran. Sind Sie bitte so lieb und lassen mir den Artikel per Fax oder Mail zukommen?“

„Ich schicke Ihnen gleich den passenden Link fürs Internet. Dann können Sie sich das selbst in aller Ruhe anschauen.“

Nur knapp zwanzig Minuten später hatte Jürgen nicht nur den Artikel mindestens zweimal gelesen, die entsprechenden Polizeidienststellen in Niedersachsen ausfindig gemacht und sogar den zuständigen Ermittler am Telefon gehabt. Und er war auch im Besitz von Namen und Adresse des Delinquenten.

Ob es ihm helfen würde, die Personalien des Menschen zu kennen, das konnte er im Augenblick noch nicht sagen. Immerhin aber hatte er gegen ihn ein gewichtiges, hässliches Pfund in der Hand, das das Landgericht Braunschweig seinerzeit nicht hatte. Es war ein Mord geschehen, mit der gleichen verbotenen Munition, deren Besitz und Einsatz dem Jägersmann aus der Volkswagen-Stadt immerhin Tausende Euro Strafe, den Verlust einer Waffe und ein zeitlich begrenztes Jagdverbot eingebracht hatte. ‚Das kann man schon mal als Daumenschraube einsetzen‘, befand Jürgen und lehnte sich erst einmal zurück, um sich einen Schluck Kaffee zu gönnen. Vielleicht würde sein neu erworbenes Wissen ja reichen, um dem Mann ein richtig schlechtes Gewissen zu machen. Wegen des Verdachts auf Mitwisserschaft in einem Mordfall.

Das war zwar nicht die feine englische Art. Denn selbst bei Mord konnte kein deutsches Gesetz den Flechette-Schützen aus Wolfsburg zu einer Aussage zwingen. Aber wusste er das? Man müsste es halt ausprobieren.

„Können wir Ihnen irgendwie helfen?“, fragte Sarah Renner einen bärtigen Mann, der von einem schwarzen Peugeot in der Bucht der Privatstraße aus zur Ruine herübergekommen war und mit andächtigem Gesicht händereibend in das schwarze Gerippe gestarrt hatte. Man hätte fast meinen können, er bete.

„Ich weiß nicht“, antwortete der Mann, während er von einem Fuß auf den anderen trat, um sich warm zu halten. „Ich weiß nicht, ob Sie mir helfen können. Was ist mit dem Mann passiert, der hier gewohnt hat? … Ist er verbrannt?“

„Nein, er ist nicht verbrannt.“

„Also hat er überlebt?“

„Nein, hat er nicht.“

Der Mann mit dem gepflegten Vollbart schaute die Polizistin mit großen Augen an. „Wie denn? Ist er erstickt, oder hat er seine Brandverletzungen nicht überlebt?“

„Nichts von alldem“, antwortete Sarah. „Darf ich erst einmal fragen, wer Sie sind? Ich bin übrigens Sarah Renner von der Kripo in Bad Berleburg.“

„Ach so, ja, natürlich. Mein Name ist Kleinbruckner-Gautam. Ich bin Kunstlehrer dort oben im Internat Schloss Wittgenstein.“

Nun war es an der Kommissarin, verblüfft zu sein. „Aber nicht schon länger. Oder?!“

„Nein, nein. Seit 2015 bin ich dort oben. Wieso fragen Sie?“

„Weil ich da oben zur Schule gegangen bin. Liegt aber schon länger zurück. Wir können uns also gar nicht kennen.“

Gautam lächelte. „Interessant, was aus den Schülerinnen und Schülern so alles wird“, murmelte er, während er weiter in Bewegung blieb. „Was ist denn nun mit dem Mann hier passiert?“

„Ich frage mal anders herum: warum wollen Sie das denn so genau wissen?“

„Weil ich ihn ein wenig kannte und er mir in seiner Situation einfach nur leidtat.“

„Sie kannten ihn? Wo haben Sie ihn kennengelernt?“

„Hier neben seinem Haus. In diesem saumäßig heißen Herbst. Ich war auf Motivsuche für meine Klasse und hatte den Platz dort drüben ausgeguckt.“ Mit der rechten Hand zeigte der Kunstlehrer auf eine ebene Fläche rechts neben der Ruine.

„Ich hatte Landschaftsmalerei auf den Stundenplan gesetzt und brauchte nun nicht nur einen tollen freien Blick ins offene Tal, sondern auch genügend Platz für 15 Schülerinnen und Schüler. Er saß am offenen Fenster. Dort, wo er eigentlich immer saß. Da habe ich ihn einfach gefragt, ob er uns das erlauben würde.“

„Und? Hat er?“

„Oh ja. Sogar gerne. Ich glaube, es hat ihm gefallen, so viele junge Menschen um sich herum zu haben. Ich kann mir nämlich nicht vorstellen, dass es bei ihm vor sozialen Kontakten nur so gestrotzt hat.“

„Wie kommen Sie darauf?“

„Na ja, ich habe Herrn Feistauer schon gelegentlich mal besucht an seinem Fenster. Dabei hatte ich immer den Eindruck, dass er förmlich nach Gesellschaft gierte. Aber er wäre wohl nicht im Traum auf die Idee gekommen, mich einmal hinein zu bitten.“

Die Kommissarin hatte sich auf dieses Frage- und Antwortspiel eingelassen, um dahinter zu kommen, wes Geistes Kind der Passant tatsächlich war. Immerhin trug Kleinbruckner Gautam außer einem Sakko und einem Schal nichts, was ihn auch nur ansatzweise hätte wärmen können. ‚Da muss jemand schon ein ordentliches Informationsbedürfnis haben, um das auszuhalten‘, mutmaßte sie.

„Über was haben Sie sich denn so unterhalten?“, bohrte sie weiter.

„Über Gott und die Welt. Am liebsten sprach er allerdings über die Kunst. Er war reineweg begeistert, als er erfuhr, dass ich eigentlich Maler und Bildhauer bin. Ich hatte den Eindruck, dass der Mann ein sehr feingeistiger Zeitgenosse war.“

‚Ach Gott‘, dachte sie, ‚feingeistig.‘ So ganz von der Hand zu weisen war diese Vermutung Gautams nicht. Schon allein die Existenz dieser sündhaft teuren Porzellanhunde könnte ein Beleg für die Richtigkeit dieser Annahme sein.

„So. Und jetzt schulden Sie mir noch eine Antwort, Frau Renner.“ Der Bärtige schaute seinem Gegenüber tief in die Augen. „Woran ist Herr Feistauer gestorben?“

„Er wurde erschossen. Gestern Abend.“

Gautam verlor jede Menge Gesichtsfarbe. „Erschossen?“, röchelte er. Man sah, wie sein Adamsapfel große Schwierigkeiten hatte, das notwendige Wasser im Mund zu halten, um seinen Besitzer nicht gänzlich stimmlos werden zu lassen.

„Wer war das?“

„Wir wissen es nicht. Keine Ahnung.“

„Das gibt es doch gar nicht. Wie kann denn jemand diesen armen Kerl einfach abknallen?“

„Das wissen wir auch nicht. Vielleicht war es eine Art Vergeltung.“ Eine Antwort, die ihr spontan und völlig unüberlegt über die Lippen gekommen war. ‚Mist!‘, dachte sie.

„Ja, wie …, äääh … ich mein’, wem soll er denn was getan haben?“, kam auch prompt die Verständnisfrage.

„In diesem Zustand wahrscheinlich nicht. Da haben Sie recht. Aber es gab für ihn ja auch eine Zeit vor der Querschnittlähmung.“

Sarah wusste, dass sie sich bei dem Gespräch verdammt weit aus dem Fenster lehnte. „Vielleicht liegt die Antwort auf Ihre Frage also vor seiner Behinderung.“

‚Oder vielleicht im Grund für seine Behinderung‘, fiel ihr siedend heiß ein. ‚Das musst du dringend mit den Kollegen besprechen.‘

Der Künstler schien zu grübeln. „Sie meinen, da hatte noch jemand eine alte Rechnung mit Feistauer offen?“

„Hat er Ihnen denn erzählt, was ihm widerfahren ist?“

„Wie meinen Sie das?“

„Na ja, irgendein Unfall oder eine Krankheit hat ihn ja in den Rollstuhl gebracht.“

„Nein, hat er nicht. Aber das müssten Sie doch spielend aus seinen Akten erlesen können.“

‚Akten? Hast du ‘ne Ahnung‘, dachte Sarah, ‚kein Blatt Papier haben wir gefunden.‘

„Hören Sie“, erklärte sie schließlich, „ich kann Ihnen unmöglich mehr zu dieser Sache sagen. Wir sind noch ganz am Anfang unserer Ermittlungen. Bitte haben Sie Verständnis.“

„Natürlich. Aber bitte haben Sie Verständnis dafür, dass ich so intensiv nachfrage. Das Bild hier hat mich doch ziemlich geschockt. Und Ihre Info über den Mord erst recht. Ich kannte den Mann ja schließlich. Was ich gar nicht auf die Reihe bekomme, ist die Tatsache, dass das Haus abbrennt, nachdem Stunden zuvor darin ein Mann umgebracht und seine Leiche längst herausgetragen worden ist. Das kann doch kein Zufall sein.“

„Vermutlich haben Sie recht. Aber Sie sehen ja selbst, wir bewegen uns hier in einem extrem spekulativen Bereich. Aus dem Stand lässt sich da gar nichts sagen.“ Die Kommissarin beeilte sich nun, das Gespräch zu beenden. Allerdings nicht, ohne sich vorher die Personalien von Kleinbruckner Gautam geben zu lassen.

Im Abdrehen zu seinem Wagen hin schnüffelte der wie ein Drogensuchhund in der Luft, die aus dem schwarzen Haufen aufstieg und hätte dazu noch zu gern eine Frage gestellt.

Doch die Polizisten war bereits wieder zu ihren Kollegen hinübergegangen, die nach wie vor mit Argusaugen beobachteten, was Steffen Siebert dort mit filigranem Werkzeug veranstaltete. Doch jetzt nicht mehr am ausgeglühten Rollstuhl, sondern an einem kleinen mobilen Arbeitstisch, den der KTU-Mann neben dem Rüstwagen seines Instituts aufgebaut hatte.

„Ich kriege Dich, das verspreche ich Dir“, flüsterte er sich gebetsmühlenartig selbst vor, während er mit hauchfeinen Werkzeugen Ruß von einem kleinen, fast hauchdünnen Metallschild abtrug.

„Ist das das Typenschild?“, wollte Sarah wissen. Siebert nickte. Ihm war jetzt nicht nach Konversation.

Da klopfte sie Rüdiger auf die Schulter und bedeutete ihm, ihr ein Ohr zu leihen.

„Gibt’s was Neues?“, fragte der.

„Ja, ich habe mich gerade eine ganze Weile mit einem Bildhauer unterhalten, der oben am Internat Kunstunterricht gibt. Er hat Feistauer bei einer seiner Exkursionen kennengelernt und danach auch besucht. Der beschreibt unser Opfer als einen feingeistigen und kunstinteressierten Menschen mit hohem Gesprächsbedarf.“

„Interessant. War er denn häufiger hier zu Gast?“

 

Sarah berichtete ausführlich von der Unterhaltung und von den ‚Fenstergesprächen‘, die die beiden geführt hatten. „Er hatte den Eindruck, dass Feistauer förmlich nach Gesprächen gierte. Aber eben nur auf Distanz.“

„Seltsam. Was wäre für den Rollifahrer denn so schlimm gewesen, wenn jemand ins Haus kommt? Die Wohnung war doch nach dem Bericht der Kollegen picobello sauber und aufgeräumt.“

„Sagt mal, ist Euch eigentlich klar, dass Feistauers Mörder nicht alleine war?“ Irritiert schauten die Teilnehmer der Nachmittagsrunde ihren Chef an.

„Wie kommst Du denn darauf?“, wollte der ‚Freak‘ wissen.

„Ganz einfach. Du erinnerst Dich, wie wir den Toten vorgefunden haben?“

„Natürlich. Er saß in seinem Rollstuhl, als sei nichts gewesen. Nur hatte er ein Loch im Kopf und war tot.“

„Und sonst nichts?“

„Doch. Seine rechte Hand hing im Vorhang. Deswegen hat der Schneepflugfahrer ja auch zunächst geglaubt, Feistauer habe ihn gegrüßt.“

„Hat er aber nicht. Wieso also hatte er die Hand erhoben?“

„Keine Ahnung.“

„Na, denk doch mal nach!“

„Meinst Du … weil er noch jemanden gegrüßt hat, bevor er erschossen wurde?“

Klaus nickte.

„Ach, das würde mich aber sehr wundern. Wer grüßt schon einen Menschen, der mit einer Waffe auf einen zielt?“

„Vielleicht hat er ja nicht den Schützen gegrüßt, sondern dessen Begleiter.“

„Das wird ja immer abenteuerlicher“, schaltete sich Pattrick Born ein. „Kannst Du uns vielleicht mal Einblick in Deine Gedankenwelt gewähren?“

„Gerne“, antwortete Klaiser. „Feistauer hat gewunken. Das ist sicher. Dass er damit nicht seinen Mörder gemeint haben kann, weil der ja mit einer Waffe gekommen sein muss, ist auch klar. Im Übrigen wäre er vom Fenster verschwunden, wenn er dergleichen beobachtet hätte. Ergo wird da doch noch eine weitere Person gewesen sein, die ihm, also unserem Opfer, bekannt gewesen sein muss.“

„So weit, so gut“, drängte Sven. „Aber das heißt doch nicht zwingend, dass da zwei zusammen gehandelt haben.“

„Doch. Oder kannst Du Dir vorstellen, dass derjenige, der Feistauer zugewunken hat, nicht mitbekam, dass hinter oder neben ihm in aller Seelenruhe einer mit einem Gewehr auftaucht, anlegt, einen Schuss abfeuert und dann wieder verschwindet?“

„Nein, kann ich nicht“, lenkte Sven ein. „Du hast recht.“ So sahen das die Kollegen ebenfalls.

„Natürlich muss da einer gewesen sein, der das Opfer abgelenkt hat, während sich in dessen Hintergrund der Mörder in Stellung gebracht hat. Ein abgekartetes Spiel also.“

„Richtig. Womöglich ist der Bekannte mit seinem Wagen in so’ner Art Halbkreis in die Einmündung der Privatstraße hineingefahren und hat mit der Fahrzeugfront zur Schloßstraße hin angehalten. Er steigt aus und geht ein paar Schritte auf Feistauer zu, während der Killer unbemerkt auf der anderen Autoseite aussteigt, womöglich sogar noch auf der Motorhaube anlegt und abdrückt.

Und so, wie sie kamen, so sind sie auch wieder verschwunden.“

„Könnte tatsächlich so gewesen sein“, meinte Sven. Aber er hatte noch eine andere Variante auf Lager. „Und wenn die stimmt“, meinte er, „gäbe es auch eine Erklärung für das großvolumige Fahrzeug, das Frederik Tiemann hat wegfahren hören, als er von seinem Unimog abstieg.

Stellt Euch folgendes vor: die Tat läuft ab, wie vom Chef beschrieben. Die beiden Gangster steigen ein und wollen los, da sehen sie das gelbe Rundumlicht des Schneepflugs von unten den Berg hinaufkommen. Bergauf, fürchten sie, kommen sie nicht weg. Weil sie von dem Schneepflugfahrer gesehen und auf der glatten Straße eventuell sogar zu langsam sind und von ihm eingeholt werden könnten. Also suchen sie ihr Heil in der Rückwärtsfahrt in die Straße ‚Schloßberg‘ hinein.“

„Dorthin hätte der Schneepflug ja aber auch fahren können“, gab Claudia Siegemund zu bedenken.

„Hätte er nicht. Die Privatstraße wird von Tiemann und seinen Kollegen nicht geräumt.“

„Aber das konnten die Verbrecher doch nicht wissen.“

„Doch, konnten sie. Denn sie haben ja sehen können, dass die Fahrbahn richtig tief verschneit war, während vorne an der Einmündung nur das an Schnee lag, was seit dem letzten Räumen dazugekommen war. Sowas sieht man auch an den typischen Randhaufen, die ein Schneepflug hinterlässt.“

„Wow.“ Nicht nur Klaiser war beeindruckt von Svens Kombinationsgabe. „Also ist das Duo Deiner Theorie nach rückwärts in die Privatstraße rein und hat gewartet, bis der Schneepflug vorbei ist.“

„Demnach sogar noch ein bisschen länger. Vielleicht haben sie sich auch festgefahren oder sowas in der Art. Sie sind ja erst wieder raus, als Tiemann schon wieder zurück war und seinen Unimogquer auf der ‚Schloßstraße‘abgestellt hatte. Der hörte dann das Blubbern eines hochmotorisierten Wagens.“

Klaiser nickte. „Am ‚Schloßberg‘ gab es wohl gestern Abend sonst kein Fahrzeug dieser Größenordnung, wenn ich Dich richtig verstanden habe.“

„Stimmt.“

„Ich habe das übrigens überprüft“, erklärte Petra Fischer. „Der einzige Sechszylinder aus dieser Straße gehört einem Herrn Fechner und steht schon seit Tagen in der Werkstatt. Bei einem Anruf dort hab’ ich erfahren, dass der Range Rover auf eine neue Antriebswelle wartet. Weil die aber zunächst bestellt werden musste, könne sie erst heute eingebaut werden.“

„Und das Fahrzeug ist seither nicht bewegt worden?“

„Keinen Millimeter. Konnte er auch nicht, weil die kaputte Welle ausgebaut ist.“

„Na, dann dürfte die Theorie vom großvolumigen Täterfahrzeug ja stimmen.“

„Schön und gut. Aber wesentlich weiter bringt uns das im Augenblick auch nicht“, wandte Born ein. „Das einzige, was wir mit ziemlicher Sicherheit wissen, ist, dass es sich womöglich um zwei Täter handelt, die vermutlich einen Sechs- oder Achtzylinder gefahren haben, Typ unbekannt.“

„Pattrick, nicht so defätistisch“, lachte Klaiser. „Für einen halben Tag haben wir immerhin schon einiges zusammengetragen.“

„Und es kommt noch mehr“, unterbrach Jürgen Winter, der gerade zur Tür hereinkam. „Steffen Siebert und seine Leute haben das Typenschild des ausgeglühten Rollstuhls von Feistauer entschlüsselt. Und jetzt wissen wir doch schon einiges mehr über den Herrn.“

Triumphierend warf Jürgen ein Bündel Papier auf den Tisch, setzte sich grinsend hin und schenkte sich zunächst eine Tasse Kaffee aus der großen Thermoskanne ein. Die anderen warteten mit unterschiedlich langen Geduldsfäden.

„Ja komm, mach’s nicht so spannend“, forderte Klaiser den Kollegen auf. „Tu mal Butter bei die Fische.“

„Also“, hub Winter theatralisch an, „der Rollstuhl wurde am 14. Juni 2018 von der orthopädischen Universitätsklinik in Bonn bestellt. Und dort ist unser späteres Mordopfer zuvor auch mehrfach operiert worden, nachdem man es halbtot eingeliefert hatte.“

„Weiß man, wieso der Mann halbtot war? Was war ihm passiert?“

Der Kommissar nahm einen Schluck Kaffee und berichtete: „Habe ich gerade eben von den Kripo-Kollegen in Bonn erfahren. Ein oder mehrere Unbekannte haben ihn am 19. November vorletzten Jahres mit einem Truck gegen eine Verladerampe gedrückt und den Mittelteil seines Körpers nahezu total zerquetscht. Becken, Lendenwirbelsäule, Oberschenkel, innere Organe – alles ein Matsch, wurde mir gesagt. Das hier“, er zeigte auf den Papierstapel, „sind Auszüge aus den Ermittlungsakten. Haben sie mir gerade erst zugemailt, sind aber bisher noch auf keinen grünen Zweig gekommen.“

Es gab niemanden in der Runde, der nicht spätestens in dem Moment zusammengezuckt war, als Jürgen Winter von der Tortur an der Rampe berichtete. Lediglich der Kripo-Chef hatte seine Gesichtsfarbe behalten. „Das deckt sich mit dem, was Doc Kölblin nach der Obduktion bereits vermutet hatte.“

„Wo hat sich dieses Drama überhaupt abgespielt? Etwa in Bonn?“

„Nein, nein. Feistauer ist in einem verlassenen Militärdepot in der Nähe von Porz-Wahn gefunden worden. Spaziergänger hatten jenseits des Sperrzaunes seine Schreie gehört und Alarm geschlagen. Aber die Kollegen mussten auf dem riesigen Gelände erst eine ganze Weile suchen, um den Mann auch zu finden.“

„Von den Tätern keine Spur?“

„Doch ein paar schon. Immerhin hatten sie den Zaun an einer Stelle aufgeschnitten, wo ein Waldweg direkt an das Gelände heranführt und waren von dort aus mit dem Lkw eingedrungen und so auch wieder abgehauen. Dabei haben sie einen Blinker kaputtgefahren. Und an einer Stelle Fahrspuren im Boden hinterlassen.

Mit denen konnte die Kriminaltechnik überhaupt erst die Tat rekonstruieren und sind schließlich über die Blinkerfragmente dahintergekommen, dass es sich um einen russischen Truck vom Typ KAMAZ gehandelt hat.“

Klaiser pfiff durch die Zähne. „Wow, gar nicht schlecht. Ein Russe. Kennt jemand die Marke?“

„Nee.“ Kopfschütteln allenthalben.

„Und? Haben sie den Lkw gefunden?“, fragte Claudia Siegemund nach.

„Nein, haben sie nicht. Von der Sorte gibt’s hier in Deutschland keine.“

„Na eben. Also werden die Täter wohl aus dem Ausland gekommen und auch wieder nach dort ausgereist sein. Und? Warum findest Du das dann trotzdem ‚gar nicht schlecht‘, Klaus?“

„Genau deswegen. Weil es ein Stück weit ein Bild von Herrn Feistauer vervollkommnet.“

„Verstehe ich jetzt nicht. Inwiefern vervollkommnet?“

„Weil es durchaus sein kann, dass unser Mann einer Abrechnung unter östlichen Geheimdienstlern zum Opfer gefallen ist.“

„WIE BITTE?“ In diesem Moment hätte man kein Foto der Versammelten machen und weiterreichen dürfen. Weil alle ziemlich dämlich dreinblickend mit offenen Mündern dasaßen und ein erbärmliches Bild abgaben.

„Ich habe nochmal beim LKA nachgebohrt und von dort erfahren, dass der BND früher wohl ein hehres Interesse daran hatte, den Mann zu schützen.“

„Weshalb das?“ Pattrick Born wurde ganz hibbelig. Immerhin war er ja dahintergekommen, dass das Mordopfer die ganze Zeit unter einem falschen Namen gelebt hatte.

„Er war Überläufer aus der DDR. HVA-Agent auf westdeutschem Territorium.“

„Was ist denn ein HVA-Agent?“

„Einer von der Hauptverwaltung Aufklärung. Das war die Auslandstochter der Stasi.“

„Und der hat hier in der Bundesrepublik spioniert?“

„Demnach schon. Bis ersich dem BND als Überläufer gestellt hat. Und die Brüder aus Pullach, beziehungsweise jetzt Berlin, haben ihn umgedreht und gegen seinen eigenen Laden eingesetzt.“

„Ja gut. Aber das ist schließlich schon 30 Jahre her. Der hatte doch Ewigkeiten keinen Job mehr.“

„Sag das nicht. Es gibt auch heute noch ehemalige Stasi-Topagenten, die eine panische Angst davor haben, enttarnt und zur Rechenschaft gezogen zu werden. Ich stelle mir vor, dass Feistauer durch seine Doppelagenten-Tätigkeit viele von denen gut kannte.

Davon hat er jahrelang profitiert und konnte noch lange nach der Wende jede Menge wichtiger Infos abschöpfen. Vor allem über den großen Bruder vom Roten Platz. Aber irgendwann haben ihm unsere Trenchcoat-Träger die Freundschaft entzogen.“

„Warum?“

„Er wollte nach wie vor den vollen Schutz, hat aber im Gegenzug überhaupt nichts mehr geliefert. Und dann fing er meinen Informationen nach an, fortwährend irgendeinen Mist zu bauen.“

„Au prima“, freute sich Pattrick Born, „dann werden wir jetzt aber wenigstens erfahren, wie er wirklich geheißen hat.“

„Vergiss es. Der hat sogar unsere Geheimdienstler geleimt. Denen hat er nach dem Überlaufen zwar seinen angeblich richtigen Namen mit Markus Dreher, geboren in Weimar, anvertraut. Aber der war auch erstunken und erlogen.

Die HVA hat ihm damals eine derart wasserdichte Legende mit Namen, Stammbaum der Familie und deren angeblichem Vorkriegsbesitz in der Lausitz verpasst, dass sie jeder Überprüfung standgehalten hat. Die sei so belastbar gewesen wie eine Eisenbahnbrücke, hat man mir erzählt. Aber gestimmt hat sie, wie man heute weiß, mit keinem Wort.“

„Das heißt, wir kennen zwar zwei Alias-Namen von ihm, aber nicht seinen echten.“

„Stimmt genau. Vielleicht hat er den selbst schon nicht mehr gekannt.“

„Naja“, sagte Pattrick und schabte an seinem Kinn, „vielleicht brauchen wir den ja auch gar nicht. Mich würde viel mehr interessieren, was der Vogel da draußen in Porz-Wahn getrieben hat.“

„Mich auch“, lachte der Kripo-Chef, „klemmt Euch dahinter! Übrigens: wer kümmert sich um die Fahndungsmeldungen, die dringend präzisiert und rausgegeben werden müssen?“

 

„Ich grüße Sie. Was kann ich für Sie tun?“, fragte die adrette Inhaberin der Physio-Praxis Lienhardt, als Sarah Renner den Eingangsbereich betrat und sich zur großen Überraschung als Polizeibeamtin outete. „Kommen Sie als Patientin? Oder sind Sie etwa dienstlich hier?“

„Letzteres“, antwortete die Kommissarin und setzte sich auf den ihr angebotenen Stuhl vor der Empfangstheke. „Haben Sie einen Moment Zeit?“

Heike Lienhardt wirkte etwas irritiert, schaute auf die Uhr und nickte. „Ungefähr 20 Minuten. Dann kommt der nächste Patient. Wird das reichen?“

„Ich denke schon“, antwortete Sarah und schaute in wunderschöne rehbraune Augen, die sie aus dem hübschen Gesicht der vielleicht 45-jährigen Frau anblickten.

„Okay. Worum geht es? Habe ich was ausgefressen?“

„Nein, keine Sorge. Ich möchte mich mit Ihnen nur über einen Ihrer Patienten unterhalten.“

„Oh, da bin ich aber nicht sicher, ob ich Ihnen helfen kann. Sie wissen sicher, dass auch für uns Physiotherapeuten so eine Art Schweigepflicht gilt.“

„In diesem Fall glaube ich das nicht.“

„Wieso?“

„Weil der Patient nicht mehr lebt.“

„Ach, dann meinen Sie sicher Herrn Schottmüller. Ich dachte, der sei für all seine Überfälle und Einbrüche verurteilt worden. Das Kapitel muss doch für Sie abgeschlossen sein.“

Sarah schüttelte heftig mit dem Kopf. Albertus Schottmüller war ein sehr spezieller Typ gewesen, den Jens Höver und sie ganz allein zur Strecke gebracht hatten. Doch das lag schon über ein Dreivierteljahr zurück.

Der Mann aus Niederlaasphe war ihnen bei einer nächtlichen Streife gewissermaßen in die Arme gelaufen, nachdem er in ein Radio- und Fernsehgeschäft eingestiegen war. Beim Beladen seines Transporters mit Fernsehern und Kameras hatten die Handschellen geklickt.

Als man ihn schließlich vor Gericht gebracht hatte, standen sage und schreibe 43 Einbrüche und Überfälle zu Buche, die es zu verhandeln gab. Schottmüller gestand sie alle und bekam dafür 12 Jahre Knast. Drei Wochen später war er tot. Er hatte sich in seiner Zelle erhängt.

„Ich wusste gar nicht, dass Schottmüller Ihr Patient war“, staunte die Kommissarin.

„Doch, doch“, antwortete Frau Lienhardt. „Sogar jahrelang. Wegen kaputter Bandscheiben.“

„Ja okay, aber wie gesagt, um Herrn Schottmüller geht es mir nicht. Ich möchte von Ihnen eher Auskünfte über Herrn Feistauer. Der war doch auch Ihr Patient, wenn ich das richtig verstanden habe.“

„Herr Feistauer?“ Die Miene der hübschen Frau verfinsterte sich. „Christof Feistauer?“

Sarah nickte.

„Ja“, brachte die Physiotherapeutin langsam über ihre Lippen und blickte dabei zu Boden, „der war auch mal mein Patient.“ Pause. „Und der ist tot, sagen Sie?“

„Allerdings“, antwortete Renner knapp. Sie ahnte, dass die Frau offenbar von einer unschönen Erinnerung heimgesucht wurde. Wieder entstand eine Pause.

„Wann ist er gestorben?“

„Gestern Abend.“

„Und was hat die Polizei damit zu tun?“

„Er wurde ermordet.“

„WAS?“ Mit weit aufgerissen Augen schoss Heike Lienhardt aus ihrem Bürostuhl hoch und starrte die Kripo-Frau an. „Dann war Feistauer der Mann, der da am Schlossberg erschossen worden ist?“

„Richtig. Haben Sie in der Zeitung davon gelesen?“

„Eine Zeitung haben wir heute Morgen noch keine bekommen. Wahrscheinlich im Schnee steckengeblieben“, antwortete Heike Lienhardt eher abwesend und setzte sich wieder hin. „Nein, ein Patient hat vorhin von dem Mord erzählt. Er wusste aber auch nicht viel mehr, als dass man einen Mann erschossen in seinem Haus gefunden habe. Wer hat ihn ermordet?“

„Das wissen wir noch nicht.“

„Hm, schlimm!“ Dann war es wieder still.

„Sagen Sie“, holte Sarah ihre Gesprächspartnerin in die Gegenwart zurück, „irgendetwas bedrückt oder irritiert Sie doch, seit ich den Namen des Toten genannt habe.“

Die Lienhardt hob den Kopf und schaute die Polizistin an. So etwas wie Abscheu lag in ihrem Blick. „Frau Kommissarin“, begann sie langsam, „Sie sind doch gekommen, weil Sie von mir etwas über diesen Mann wissen wollten. Also, stellen Sie bitte Ihre Fragen.“

Sarah war irritiert. Die Therapeutin mauerte plötzlich. Was war da los? Irgendetwas musste es da doch gegeben haben, was dieser netten Frau massiv zugesetzt hatte. Könnte das für sie von Interesse sein? ‚Lieber erstmal die eigentlich geplanten Fragen abspulen‘, dachte sie und begann: „Frau Lienhardt, wie schwer waren die Behinderungen von Herrn Feistauer?“

„Sie meinen, wie schwer seine Verletzungen waren. Das müssten Sie eigentlich aus den Krankenakten erlesen können. Er wurde zwischen November 2017 und Mai 2018 mehrfach in der Uniklinik Bonn operiert.“

„Das ist uns bekannt. Was wir aber nicht wissen ist, was von den ursprünglichen Behinderungen übriggeblieben ist. Denn wir besitzen derzeit weder Dokumente über eine spätere stationäre, noch über die ambulante Reha daheim. Und für die waren Sie ja wohl zuständig.“

„Stimmt. Ich war zuständig.“

Das extra betonte ‚war’ überhörte die Beamtin zunächst einmal geflissentlich und wiederholte ihre Frage. „Wie schwer waren seine Behinderungen?“

„Herr Feistauer war vom 3. Lendenwirbel an abwärts querschnittgelähmt. Dazu kamen zwei ganz massive Bandscheibenvorfälle im Halswirbelbereich, die zu teils anfallartigen Schmerzzuständen im Brustkorb und zu Bewegungseinschränkungen in den Armen führten.“ Der Bericht kam wie abgespult und ohne jede Bewegung in der Stimme.

„Heißt das, er war nicht dazu in der Lage, sein Leben weitgehend selbst zu führen?“

„Nein, das heißt es nicht. Gut, er konnte weder alleine duschen, noch selbstständig in die Badewanne klettern. Aber er konnte schon die grobe Körperpflege alleine besorgen und selbst auch ins Bett und wieder hinauskommen. Wenn auch unter Schmerzen. Wie das allerdings mit dem An- und Auskleiden war, weiß ich nicht.“

„Hatte er eine Betreuung?“

„Ja. Eine junge Polin. Mehr oder weniger inoffiziell. Ob er sie aber bis zu seinem Tod hatte, weiß ich nicht.“

„Wieso? Konnte er etwa nicht zahlen? Oder wurde nicht für ihn gezahlt?“

„Oh doch. Mich hat er immer und sofort bezahlt. Bar auf die Hand. Ich brauchte nie etwas über eine Krankenkasse mit ihm abzurechnen. Er war offenbar privat versichert.“

„Wieso meinen Sie dann, dass er seine Betreuerin eventuell verloren haben könnte?“

Wieder bekam die Physiotherapeutin diesen angewiderten Gesichtsausdruck. „Das wollen Sie gar nicht wissen.“

„Doch, das möchte ich gerne wissen. Oder gehört das zur viel zitierten Schweigepflicht, Frau Lienhardt?“

Langsam schüttelte sie den Kopf und sagte mit gesenktem Blick: „Weil Feistauer ein Schwein war.“

„Wie bitte? Das verstehe ich jetzt nicht.“

„Frau Renner, bitte, ich möchte nicht darüber reden.“

Sarah kam in Konflikt mit ihrem weiblichen Einfühlungsvermögen einerseits und ihrem Ermittlerauftrag andererseits. Die professionelle Neugier siegte letztlich. Immerhin konnte es ja sein, dass die Erlebnisse dieser Frau Auslöser für einen Mord gewesen waren.

„Sie werden darüber reden müssen, Frau Lienhardt. Das kann ich Ihnen nicht ersparen. Und, wenn ich Sie richtig verstehe, ist es wohl besser, Sie tun es lieber mit mir als mit einem Staatsanwalt. Also, bitte, was ist passiert?“

Die Therapeutin schaute kurz auf die Uhr und sagte dann:

„Geht nicht. In ein paar Minuten ist der nächste Patient da.“

„Okay“, reagierte Sarah Renner blitzschnell, „dann kommen Sie bitte morgen um neun Uhr ins Kommissariat in Bad Berleburg. Ich weiß allerdings nicht, ob ich dann allein bin. Widrigenfalls werden Sie auch mit einem meiner Kollegen reden müssen.“

Entsetzen sprach aus den Gesichtszügen der Therapeutin.

„Das geht nicht. Ich habe morgen den Laden voll. Von acht Uhr bis 17 Uhr. Fast ohne Pause“, versuchte sie eine Rettung aus der Vorladung.

„Da werden Sie wohl einige absagen oder sich eine Vertretung besorgen müssen.“

Das war hart. Die Kommissarin wunderte sich über sich selbst. Aber sie wollte wissen, ob es da etwas gab, was zu einem Kurzschluss und damit zu einem Verbrechen hätte führen können.

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