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Umso akribischer stöberten sie jetzt in den verkohlten Resten des alten Hauses, um auch nur das kleinste Fitzelchen Papier oder ein erkennbares Stück irgendeines Relikts aus dem irdischen Dasein seines Besitzers zu finden.

Eine Kärrnerarbeit, die nicht zuletzt dadurch erschwert wurde, dass nach wie vor kleine Rauchsäulen aus den Trümmern aufstiegen und die Augen der KTUler zu Tränen reizten. Deren Münder zierten zwar Atemschutzmasken. Brillen jedoch hatten sich als untauglich erwiesen. Weil die aufsteigende feuchte Wärme von unten bei der Luftkälte mit dazu beitrug, dass die Brillengläser schnell beschlugen.

Hüstelnd arbeiteten sie sich so im Obergeschoss voran. Drei vorne nebeneinander in Armlängenabstand zueinander, zwei versetzt dahinter. Mit Argusaugen darauf achtend, dass sie nicht in den stark in Mitleidenschaft gezogenen Holzboden einbrachen.

Lediglich Siebert hatte sich am vorderen Giebel postiert, nach oben in das verkohlte Gebälk gestiert und mit einer langen Stange immer wieder versucht, einen der Sparren zum Absturz zu bringen. Doch das jahrhundertealte Eichenholz erwies sich als extrem hartnäckig. Es rieselte lediglich Holzkohle aus einer Art schwarzer Außenhaut. Darunter war durchaus noch tragfähige Substanz vorhanden.

Während er in einer Pause mal heftig in seine zur Höhle geformten Hände pustete, entdecke Siebert die zwei Kommissare unten vor der Ruine und hatte eine Idee. „Können Sie mal raufkommen, Herr Lukas? Ihr Kollege am besten auch. Und bringen Sie bitte die Bockleiter mit, die da hinten an unserem Transporter lehnt.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich um und versuchte offenbar durch eine Kopfdrehung eine imaginäre Linie zwischen dem Dachbodenfenster und dem zweiten Sparren hinzubekommen.

Dann blieb sein Blick wieder an dem Balken kleben. „Da steckt doch was drin“, brummte der Kriminaltechniker mit einem zugekniffenen Auge vor sich hin. „Aber was ist das? Das hat doch mit dem Dach nichts zu tun, Donnerwetter nochmal.“

Doch schwarz lässt auf schwarz bekanntlich wenig Kontrast zu. Vor allem, wenn dahinter gleißendes Sonnenlicht von einem stahlblauen Himmel herunter ein schier unerträgliches Gegenlicht liefert.

Vorsichtig kletterte Rüdiger Mertz über eine Leiter vom Erdgeschoss aus ins erste Obergeschoss hinauf. Sie war dort an die Wand angelehnt, wo es noch vor wenigen Stunden ein Treppenhaus gegeben hatte. Sven Lukas reichte von unten die Bockleiter an und kletterte hinterher.

„Vorsicht, passen Sie auf, dass Sie nicht durchbrechen!“, warnte Siebert von weiter oben. „Am besten, Sie geben mir das Teil gleich hier rauf“, winkte er durch ein Loch in der Decke. Doch da war es schon zu spät. Unter Mertz’ rechtem Fuß krachte eine durchgekokelte Diele in die Tiefe. Und mit ihr Rüdigers Bein, das komplett im Boden verschwand. Mit dem Erfolg, dass sich der Durchgebrochene in einer Art Halbspagat, zu großen Teilen im Obergeschoss, mit einem frei baumelnden Bein aber im Hausflur darunter befand.

Sven, der das Drama von der Leiter aus miterlebte, brach schlagartig in ein brüllendes Gelächter aus und musste sich krampfhaft festhalten, um nicht runterzufallen. Zu komisch das Bild, das den Kollegen oben wie unten zeigte.

„Lach nicht so dämlich und hilf mir lieber hier raus!“, jaulte Mertz auf, der sich selbst nicht helfen konnte. Denn sein rechter Arm steckte in der zusammengeklappten Bockleiter, die mit ihm zu Boden gegangen war.

„Oh Gott“, kommentierte Steffen Siebert, „Sie wären doch besser beide unten geblieben. Das ist ja lebensgefährlich mit Ihnen.“

Als Rüdiger schließlich befreit und seine erlittenen Läsionen ausreichend bedauert worden waren, hatten sie es schließlich doch noch geschafft, zu dritt auf dem Dachboden zusammenzukommen. Nachdem der KTU-Mann kopfschüttelnd zur Kenntnis genommen hatte, dass Feistauer unter falschem Namen gelebt und vermutlich eine Agentenkarriere hinter sich hatte, machte er sich daran, auf die Bockleiter zu klettern. Die Kripo-Leute sicherten seinen Aufstieg.

„Was ist das, verdammt nochmal?“ Mehrfach grabschte der Spurensucher mit einer Kombizange nach einem längeren metallenen Bolzen, der da schräg im Gebälk steckte. „Du gehörst garantiert hier nicht hin. Na warte!“ Unter Einsatz all seiner Kraft ruckelte und rupfte er so lange, bis sich das Metallteil im Holz hin- und herbewegen ließ und schließlich mit einem Ruck seinen Widerstand aufgab.

Siebert konnte gerade noch verhindern, das Gleichgewicht auf der Leiter zu verlieren. Dafür ließ er aber die Zange und damit auch den Metallbolzen los, der zu Boden fiel und dort im verkohlten Holz stecken blieb.

Sven, an dessen Schulter das Fundstück knapp vorbeigerauscht war, stieß einen spitzen Pfiff aus. „Mein lieber Mann“, staunte er, „das hätte ordentlich tief ins Fleisch gehen können.“

„Allerdings“, atmete der Spurensucher erleichtert auf, „das war verdammt knapp. Entschuldigung.“

Alle drei gingen sie in die Knie und betrachteten das etwa 15 Zentimeter lange Metallstück mit geschmiedeter gepfeilter Spitze, das da mehrere Zentimeter tief in den Boden gefahren war. Hinten hatte es eine Tülle, in der ein abgebranntes rundes Holzende steckte. Sah aus wie hereingeschraubt.

Eindeutig eine Pfeilspitze, das war allen sofort klar. „Und zwar eine, die man nicht selbst bastelt“, konstatierte Siebert, als er das Stück aus der Bodendiele herausgezogen hatte und mit einer Fingerspitze angetupft hatte. „Spitz und scharf wie eine Rasierklinge.“ Verschämt versuchte er den kleinen blutigen Schnitt in der Fingerspitze zu verbergen.

„Klasse! Gibt’s hier Indianer?“, versuchte sich der ‚Freak‘ in Sarkasmus, als er das Stahlstück in die Hand genommen und von allen Seiten beäugt hatte. „Das ist doch ein richtig professionell gemachtes Teil. Sieht aus wie serienmäßig hergestellt. Wer braucht denn sowas?“

„Jedenfalls kein Indianer“, antwortete Siebert, der plötzlich irgendwie abwesend wirkte. „Machen Sie mal eben ein bisschen Platz hier“, schob er die Kommissare weg und kroch mit einer Art Kehrschaufel und einem kleinen Quast auf allen Vieren in Richtung des Balkens, in dem die Pfeilspitze gesteckt hatte. Nach einem Blick nach oben begann er, senkrecht darunter den Boden Stück für Stück von Dachschiefer, Holzkohle und anderem Schutt zu befreien.

Nach knapp zehn Minuten streckte er sein Kreuz durch und rief mit triumphierendem Blick in Richtung der Polizisten: „Hab’ ich’s doch gewusst! Hier ist der Beweis für die Brandstiftung.“ Stolz hob er eine kurze geschlossene Gliederkette hoch, die durch ein Loch in einem verkohlten Stück Holzpfeil gezogen war. Und daran hing ein Stück von einer fast verbrannten Baumwolllunte.

„Hier, riechen Sie mal dran. Das Teil stinkt jetzt noch nach Benzin. Das muss einer brennend durch das Giebelfenster hier hereingeschossen und den Balken getroffen haben.“

„Hä?“ Sven und Rüdiger schauten zuerst sich und dann den Kollegen vom Siegener Institut an. „Wie das denn?“

„Wie?“, echote der. „Mit einer enorm starken Armbrust. Einer Sportarmbrust, vermute ich. Schauen Sie mal. Das Holz hier an der Kette hat den gleichen Durchmesser wie das in der Pfeilspitze. Das vordere und das hintere Ende gehörten also einmal zum selben Pfeil. Das Stück dazwischen ist mit ziemlicher Sicherheit verbrannt.“

„Unglaublich, diese Theorie. Ich glaube, dem gibt es nichts mehr hinzuzufügen.“ Rüdiger Mertz wäre vor Ehrfurcht beinahe auf die Knie gegangen. Und auch Sven Lukas schlackerte innerlich mit den Ohren. Einen deutlicheren Beweis dafür, warum man ihn ‚Trüffelschwein‘ nannte, hätte Siebert nicht abliefern können.

„Bleibt jetzt nur die Frage, wer der Brandstifter war und warum er das Haus angezündet hat. Da drin muss es doch irgendetwas geben oder gegeben haben, was außer dem Täter niemandem sonst hätte in die Hände fallen dürfen.“

„Wahrscheinlich eher gegeben haben“, bestätigte Siebert den ‚Freak‘. „Oder habt Ihr bisher etwas gefunden, was von Bedeutung sein könnte?“, fragte er nach unten in Richtung seiner fünf Kollegen. Die waren nach ihrer Suche im Brandschutt inzwischen ganz vorne in der Etage angekommen.

„Bisher nichts“, kam die leicht genervte Antwort der Kollegin an der Spitze. „Nur könnten wir mal ‘ne Pause brauchen und auch was zu trinken. Der Qualm hier macht uns kirre.“

„Klar, machen wir eine Pause. Und zwar sofort“, rief der KTU-Guru zurück. „Schaut mal hinten in unseren Transporter. Dort hat der Stadtbrandinspektor diverse Getränke für uns reingestellt. Hat der Chef von der Bosch-Brauerei gestiftet.“

Wenige Minuten später schütteten die Leute trotz der vorherrschenden Kälte bereits Wasser, Cola und Fruchtsäfte in sich hinein. Der Dreck musste dringend aus Hals und Atemwegen gespült werden.

Und zu essen gab es auch. Die drei Mann von der Brandwache der Feuerwehr rückten aus dem Mannschaftswagen noch ein paar Lunchpakete heraus, die nach dem Einsatz übrig geblieben waren.

Während Siebert, Mertz und der ‚Freak‘ nacheinander die Leitern bis ins Erdgeschoss hinunterkletterten, fragte Rüdiger, was die KTU nachts noch an persönlichen Papieren habe sicherstellen können.

„Oh, das war nicht besonders viel“, berichtete Siebert. „Eine Brieftasche mit Reisepass, seine Geldbörse mit Personalausweis, Führerschein und etwas mehr als 320 Euro an Bargeld. Kopien von den verkokelten Ausweisresten haben wir Ihnen ins Kommissariat gemailt. Aber ich kann Ihnen auch gleich noch Papierkopien geben. Hilft Ihnen aber nichts. Sie werden sowieso nichts darauf erkennen.“

„Danke. War auch ein Handy dabei?“

„Ja, auch ein Handy. Aber das war ausgeschaltet. Die Kollegen von der Kriminaltechnik versuchen, es in Gang zu bringen. Scheint aber irgendeine Verschlüsselung draufzuliegen, die nicht so einfach zu knacken ist.“

 

„Das war’s?“

„Ja. Zumindest im unteren Teil der Wohnung. Komisch ist allerdings, dass wir unter seinen Sachen nicht eine Giro- oder Kreditkarte gefunden haben. Es sei denn, sie sind bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Das kommt aber eher selten vor. Denn dann müssten sie irgendwo frei rumgelegen haben. Und dann hätten wir sie gesehen.“

„Das ist tatsächlich seltsam.“

„Ja und das Obergeschoss hatten wir, wie schon gesagt, noch nicht in Angriff genommen. Weil wir das heute machen wollten. Wir haben oben nicht sehr viel Bedeutendes vermutet. Feistauers Leben hat sich ja ohnehin nur auf einer Ebene, also im Erdgeschoss, abgespielt. Er wäre ja keine Treppe raufgekommen.“

„Ist nicht gerade viel, was da von einem Leben übrig bleibt“, sinnierte Lukas.

„Kann man so sagen. Aber heute könnte ich mich trotzdem ohrfeigen.“

„Hm“, machte der ‚Freak‘, während er die Flanke einer abgebrannten Flurkommode zur Seite trat, „das hilft jetzt auch nichts mehr. Konnte aber keiner ahnen, dass die Bude hier abgefackelt würde. Ich könnte meine Socken darauf verwetten, dass der Mörder einer war, der dringend ein Geheimnis in Flammen aufgehen sehen wollte und deshalb auch noch zum Brandstifter wurde.“

„Was macht Dich da so sicher?“, wollte Mertz wissen.

„Ich kann es mir einfach nicht anders vorstellen. Guck mal, da wohnt ein Mann scheinbar vollkommen unbehelligt vom großen Rest der Menschheit, isoliert und nicht so besonders mobil in einem einsamen Haus. Eines Tages taucht da jemand auf, der ihm einfach das Lebenslicht auspustet. Dafür muss es doch einen Grund geben. Aber welchen?

Entweder trug sich dieser Jemand, ich nenne ihn ‚Täter Typ I‘, mit fürchterlichen Rachegelüsten, die ihn zum Mörder machten. Dann wäre das vielleicht so eine ganz abgefahrene Verräterstory unter Spionen. Eine, die unter Umständen die ausgefallene Mordwaffe erklären würde. Vielleicht so ‘ne Art ‚Agentenflinte‘ oder so.

Nur, als der Mann tot war und der Verrat gesühnt, gab es für den Killer keinen Grund mehr, auch noch ‘ne Lunte an das Haus zu legen. Schon gar nicht so spät in der Nacht. Wenn er die Leiche hätte verbrennen lassen wollen, hätte er doch unmittelbar nach dem Mord zündeln müssen.

Als er schließlich wieder hier auftauchte, muss er doch gesehen haben, dass die Hütte von außen verriegelt und verrammelt war. Und er hätte sich an zwei Fingern abzählen können, dass der Tote längst abgeholt war. Leichenverbrennung scheidet also aus.

Also muss es ‚Täter Typ II‘gewesen sein, dem es, mit Verlaub, scheißegal war, dass die Leiche nicht mehr im Haus war. Er wollte, dass Beweise für irgendetwas verbrennen. Und dieses Ziel hat er womöglich erreicht.“

Dr. Julius Kölblin vom Rechtsmedizinischen Institut streifte die Gummihandschuhe ab und zog die Atemschutzmaske vom Mund. „Machst Du ihn bitte zu?“, bat er seinen Stellvertreter Dr. Faulhaber und setzte sich wenige Meter neben dem Sektionstisch auf einen Bürostuhl. Der Rechtsmediziner hatte abartige Schmerzen im Rücken und im linken Bein.

Schon seit Wochen quälte er sich mit einem Bandscheibenvorfall zwischen dem vierten und dem fünften Lendenwirbel herum, der mittlerweile dafür sorgte, dass er sich kaum mehr auf dem linken Bein fortbewegen konnte. Ständig hatte er das Gefühl, die Sehne in der Kniekehle sei zu kurz.

Stehen, sitzen, knien, liegen. Alles war für ihn der reine Horror. Doch am schlimmsten war für Kölblin bisher die Vorstellung, sich dafür unters Messer legen zu müssen. Obwohl ihm ein Kollege aus der Neurologie und einer aus der Orthopädie unabhängig voneinander erklärt hatten, eine OP sei unumgänglich. Seit heute wusste er, dass er ihrem Rat nun doch folgen würde.

Die Obduktion an diesem Morgen wollte er allerdings unbedingt noch durchziehen. Denn ein querschnittgelähmtes Mordopfer hatte auch er noch nicht auf dem Tisch gehabt. Und so hatte er das wohlwollende Angebot des Kollegen Faulhaber, ihn doch entlasten zu können, dankend abgelehnt.

‚Wohlwollend. Dass ich nicht lache. Der doch nicht‘, war er sich sicher. ‚Der will mir nur den Zucker von der Schnitte lecken.‘ Im Übrigen war er davon überzeugt, dass eine solche Leichenöffnung die ganze Kompetenz des Institutsleiters erfordere. Faulhaber musste assistieren.

Letztlich war die Suche nach der Todesursache aber eher ein Akt, für den es keines anatomischen oder biochemischen Superwissens bedurft hätte. Das Geschoss, das den Mann getötet hatte, war leicht rechtslateral durch das Stirnbein in den Hirnfrontlappen eingedrungen, hatte das Zwischenhirn zerfetzt und war durch das Großhirn am Hinterhaupt wieder ausgetreten.

Um möglichst bald aus der Montur steigen und den Orthopäden seines Vertrauens schnell für eine schmerzstillende Spritze aufsuchen zu können, setzte sich der Professor telefonisch mit dem Berleburger Kommissariat in Verbindung. Er wollte die Untersuchungsergebnisse vorab loswerden. Den ausführlichen Bericht sollte der Kollege Faulhaber schreiben.

„Unser Opfer hatte nicht die Spur einer Chance, den Schuss auch nur eine Sekunde zu überleben“, ließ er Klaus Klaiser wissen. Irritiert zeigte er sich allerdings im Zusammenhang mit der Querschnittslähmung Feistauers. „Ich sage Ihnen, der Mann muss Höllenqualen erlitten haben bei dem Unfall, der ihm diesen Querschnitt beigebracht hat.“

„Wie muss ich das verstehen?“, fragte Klaiser.

„Tja, das ist jetzt ein wenig schwer zu beschreiben. Weil wir nur vermuten können, dass es so war. Aber alle von uns gefundenen Zeichen sprechen dafür.“

„Dann lassen Sie hören.“

„Der Kollege Faulhaber und ich gehen nach der Leichenöffnung und eingehendem Studium der Bilder aus dem Kernspintomographen und von Röntgenschichtaufnahmen davon aus, dass Christof Feistauer vor nicht allzu langer Zeit in der Rumpfmitte regelrecht zerquetscht worden ist.“

„Wie bitte?!“ Klaus war aufgesprungen. „Zerquetscht? Wie denn das?“

„Wie, wissen wir nicht. Wir können nur vermuten, dass er mit großem Druck von einem massiven Gegenstand in Hüfthöhe gegen eine Wand oder Mauer gewuchtet oder in eine Art Maschine eingeklemmt worden ist. Wobei sein Becken total zertrümmert wurde, seine unteren Lendenwirbel mehrfach brachen und seine Oberschenkelhälse fast pulverisiert wurden.“

Dem Kripo-Chef wurde schlecht. Schweigend hörte er dem weiteren Bericht des Rechtsmediziners zu und schluckte immer heftiger.

„Es müssen absolute Spezialisten unter den Orthopäden und Chirurgen gewesen sein, die Feistauer so wieder hinbekommen haben. Sie haben sein Becken rekonstruiert, seine Oberschenkelknochen in Feinstarbeit wieder zusammengeflickt, ihm neue Gelenke verpasst und alles für die Lendenwirbelsäule getan, was überhaupt machbar war.

Er hat eine Blasenplastik bekommen, wahrscheinlich einen Teil seines Darms, aber mit Sicherheit einen Teil seiner Leber eingebüßt und ist, den OP-Narben nach zu urteilen, mindestens sieben-, wenn nicht gar zehnmal operiert worden. So konnte er wenigstens weiterleben. Nur das mit dem Laufen hat dann wohl doch nicht mehr funktioniert.“

Klaiser hatte allmählich zu seiner Fassung zurückgefunden und räusperte sich. „Ungeheuerlich“, stieß er hervor, „einfach ungeheuerlich. Meinen Sie, dieser Unfall sei mit Absicht herbeigeführt worden?“

„Pah, was soll ich dazu sagen? So etwas könnte ich mir schon vorstellen. Unter rivalisierenden Mafiagangs, zum Beispiel. Als Warnung sozusagen.“

‚Na, dann war’s Absicht‘, dachte Klaiser für sich. Warum sollten Geheimdienste zimperlicher miteinander umgehen als Camorra oder Ndrangheta?

Statt sich auf weitere Diskussionen zu diesem Thema einzulassen, stellte er dem Professor eine Frage. „Was meinen Sie? Welche Klinik in unserem Sprengel könnte einen derart verletzten Menschen wieder so herstellen?“

„In unserem Sprengel gar keine. Das kann nur eine große omnipotente Klinik oder eine in allen Disziplinen topfitte Uniklinik. Aber sowas haben wir hier ja nicht.“

„Machen Sie mal ‘n Vorschlag. Oder vielleicht gleich mehrere.“

„Hm“, machte Kölblin. „Die Unikliniken in Marburg, Gießen und Köln, oder vielleicht das Knappschaftskrankenhaus in Bochum. Das wären die nächsten von hier aus erreichbaren. Aber wer sagt uns denn, dass Feistauer hier in der Gegend so zermatscht worden ist? Das müssten Sie als Polizei doch wissen. Oder?“

Zum Glück konnte der Pathologe nicht sehen, wie ihm sein Gegenüber am Telefon einen Vogel zeigte. Solche Recherchen waren nämlich eine Aufgabe für jemanden, der Vater, Mutter und seine Großeltern gleichzeitig um die Ecke gebracht hatte. Weil nämlich Mediziner und Kliniken bei solchen Anfragen mauerten wie die Weltmeister. Datenschutz und Schweigepflicht. Das zu durchbrechen war eine Sisyphusarbeit.

„Wir versuchen es rauszukriegen, Verehrtester“, säuselte der Kommissar in die Sprechmuschel. Doch der sarkastische Unterton blieb dem schmerzgeplagten Professor verborgen. Er wollte lieber jetzt als gleich aus dem Gespräch entlassen werden und setzte zum Finale an.

„Ansonsten können wir Ihnen außer den wirklich unbedeutenden Ergebnissen der toxikologischen Untersuchung nichts mehr anbieten. Der schriftliche Bericht folgt auf dem üblichen Weg. Ich wünsche Ihnen einen guten Tag.“

„Wünsche ich Ihnen auch, Herr Professor. Ich muss wirklich sagen, ich bin sehr beeindruckt von Ihrer schnellen und guten Arbeit. Zumal die Ergebnisse dazu angetan sind, uns bei der Tätersuche enorm zu unterstützen. Vielen Dank und vor allem Gute Besserung.“

„Ich glaube, der Klaiser wollte mich verarschen“, antwortete Kölblin verärgert auf Faulhabers Frage, wie man in Berleburg den Obduktionsbericht aufgenommen habe.

Dabei hatte Klaus Klaiser an sein fast überbordendes Dankeschön eine kleine Hoffnung geknüpft. Nämlich die, dass sich dieser entsetzliche Unfall, dem Feistauer lebend entkommen war, in einem der Nachbarkreise abgespielt hatte.

Dann hätte man das nämlich über telefonische Rundfragen herausbekommen können. Denn die Kontakte zu den Kolleginnen und Kollegen drum herum waren gut. Man kannte sich und unterstützte einander. Auch über die hessische Landesgrenze hinweg. Mit Klinikabfragen hatte man dagegen eher schlechte Erfahrungen gemacht.

Auch Sarah Renner war nach der morgendlichen Runde im Kommissariat nochmal nach Laasphe gefahren. „Ein wenig umhorchen und Ausschau nach Zeugen halten“, hatte sie gesagt. Und sie war dabei erfolgreich. Ihre Kenntnis der Laaspher Besonderheiten und die persönliche Bekanntschaft mit einigen stadtbekannten ‚Horchposten‘ kamen ihr dabei sehr zugute.

Es bedurfte zum Beispiel nur eines kurzen Besuchs in einem Friseursalon, da wusste sie bereits von Hannelore Kops Verehrung für den einst so feschen Christof Feistauer. Und über die Bäckereiverkäuferin erfuhr sie, woher das Rolli-Taxi kam, das vom späteren Mordopfer des Öfteren beansprucht worden war. Immerhin hatte Frau Kop genau hingeschaut bei ihrer ersten Begegnung mit dem Sondertransport und sich dabei gemerkt, dass das Fahrzeug die Werbeaufschrift eines Taxiunternehmens aus Laasphe getragen habe.

Natürlich hatte die Witwe hinter der Kuchentheke längst vom schrecklichen Ende ihres einstigen Lieblingskunden erfahren und am Morgen auch schon einige Tränen vergossen. Doch jetzt, wo sie sogar von der Polizei als Wissende unmittelbar mit dem Mord konfrontiert wurde, gingen ihr emotional dann doch die Pferde durch.

„Dieser arme Mann“, schniefte sie in ihr Taschentuch, „was hat der denn anderen Menschen angetan, dass er so sterben musste?“

‚Ja, was hat er getan?‘, dachte Sarah, die natürlich nicht mehr sagen durfte. „Ich weiß es nicht“, sagte sie und verabschiedete sich.

Zeugen für den Mordabend oder den Ausbruch des Brandes fand sie indes nicht. Auch nicht im Internat Schloss Wittgenstein, in dem man eigens für sie als ‚Ehemalige‘ die volljährigen Pennäler zusammenrief, um sie nach Ausflügen in und aus der Stadt hinauf zu befragen.

Niemand war zu den fraglichen Zeiten dort unterwegs gewesen. Aber alle waren entsetzt zu erfahren, welche Widerwärtigkeit sich unweit von ihnen abgespielt hatte. Zumal die meisten von ihnen den ‚freundlichen Mann am Fenster‘ auch kannten. Vom Sehen zwar nur. Aber er habe immer gelächelt, wenn man zu ihm herübergeschaut habe.

Auf dem Rückweg hinunter in die Stadt hielt Sarah selbstverständlich bei der Brandruine an und schaute nach den Kollegen Mertz und Lukas. Die sahen gerade zu, wie der total ausgeglühte Rollstuhl Feistauers auf eiernden Felgen aus dem Haus gerollt wurde, wo Siebert bereits wartete und das Ding kurzerhand auf die Seite legte.

 

„Was macht’n Ihr da?“, wollte die Kommissarin wissen, als sie auf einer Eisplatte zu den Kollegen geschlittert kam und aufgehalten werden musste, um nicht durchzurauschen.

„Sorry“, entschuldigte sich Rüdiger, der Sarah mit ausgestreckten Armen empfangen und am Busen gebremst hatte. „Nix passiert“, lächelte sie die Peinlichkeit weg, „wäre ich drauf geflogen, hätte das deutlich unangenehmere Folgen gehabt. – Also, was treibt Ihr hier mit dem abgefackelten Rollstuhl?“

„Will ich Ihnen gerne sagen“, übernahm der Forensiker die Antwort und damit die Chance, sich der Kommissarin vorzustellen, deren unprätentiöse Art ihn auf Anhieb beeindruckte.

‚Mein Gott, hätten andere Beamtinnen einen Kollegen rund gemacht, wenn ihm das passiert wäre.‘

„Ich bin übrigens Steffen Siebert. Freut mich“, winkte er kniend. „Ich suche das Typenschild hier unten am Gestänge. Das ist sowas wie ein Fahrzeugschein. Da steht alles drin über Hersteller, Bauart, Baujahr und so weiter und so fort. Übrigens auch eine Seriennummer. Und die ist für Ihre Kollegen besonders wichtig.“

„Präzise auf den Punkt gebracht“, lächelte sie zurück. „Danke. Ich bin übrigens Sarah Renner. Freut mich auch.“

„Und weißt Du, was wir mit der Seriennummer anfangen können?“, fragte Sven Lukas, schon fast ein wenig eifersüchtig, weil sich der KTU-Mann so ranwanzte. „Wir können damit rauskriegen, wer den Rollstuhl wo bestellt hat und für wen er ausgeliefert wurde. Vor allem der Besteller ist für uns wichtig. Weil wir so eventuell Rückschlüsse darauf ziehen können, in welcher Klinik unser Mann wegen seines Querschnitts behandelt worden ist.“

Siebert atmete kleine Dampfwölkchen aus, während er das schwere Rollstuhlgerippe drehte und wendete. Noch immer lag die Außentemperatur deutlich unter null Grad. Und hätten sie nicht ständig die schaurige Kulisse im Blick gehabt, wären die Beamten wohl begeistert gewesen von einem traumhaft schönen Wintertag.

Im Telegrammstil informierten sich die Drei gegenseitig über die Ergebnisse ihrer bisherigen Ermittlungen und verabredeten sich auf eine Fortführung der zweigeteilten Arbeitsweise. Wobei Sven und Rüdiger reinweg begeistert waren von dem, was Sarah zu präsentieren hatte und ihr schon allein wegen ihrer lokalen Kenntnisse gerne die Recherchen in Bad Laasphe überließen.

„Das hat schon seine Vorteile, wenn man jahrelang bei der Schutzpolizei in einem und demselben Revier tätig und viel auf der Straße unterwegs ist“, war das Credo der ausgesprochen sympathischen Kollegin. „Außerdem kenne ich viele der Menschen hier schon seit meiner Schulzeit. Von der achten Klasse bis zum Abi war ich oben im Schloss.“

„Mein lieber Scholli“, lachte der ‚Freak‘ etwas unpassend, „da haben Deine Eltern aber ordentlich in Deine Schulbildung investiert.“

„Naja, besonders schwer ist es ihnen nicht gefallen“, meinte sie und friemelte dabei mit Daumen und Zeigefinger. „Papa Exportchef und ständig unterwegs, Mama gut engagierte Schauspielerin und nicht so arg an mir interessiert. Die haben sich mehr auf sich konzentriert, weißt Du?! Und das haben sie sich halt was kosten lassen.“

„Oje, das tut mir leid.“

„Muss es nicht“, heiterte die Kommissarin Sven wieder auf, der es schon bedauerte, die Kollegin dazu gebracht zu haben, ihre Seele auf den Tisch zu legen. „Ich kann prima damit leben. Das erste Jahr hier in Laasphe hat wehgetan. Das stimmt. Aber ich habe so viele liebe Leute hier kennengelernt. Da wäre ich sogar in den Ferien lieber hiergeblieben, als mir ständig diese Zwangsprogramme anzutun, die meine Mutter für mich konstruiert hatte. Aber komm, lass uns das Thema wechseln.“

„Gerne.“ Dankbar nahm der ‚Freak‘ diesen Vorschlag an und ging neben dem KTU-Mann in die Hocke, der immer noch auf der Suche nach dem Typenschild des Rollstuhls war. Kein dankbarer Job angesichts der Brandspuren an dem sperrigen Teil. An den meisten Stellen war der nackte Stahl zu sehen, der aussah wie an einem abgebrannten Pkw. Der Stahl zeigt seltsamerweise nach kurzer Zeit so etwas wie Rostspuren.

An anderen Stellen war die Lackierung aufgepilzt oder von den herabtropfenden Kunststoffresten aus der Sitzpolsterung überzogen und verrußt. Immer wieder setzte Siebert ein kleines Schabeisen ein, um winzige Partikelchen abzulösen und den Untergrund freizulegen. Aber trotz der enervierenden Arbeit zeigte der Mann eine schier unglaubliche Geduld bei seinem Vorarbeiten in Millimeterabständen.

„Meinen Sie, Sie finden noch was, Sie Armer?“, nahm Sven Lukas Anteil an der Arbeit des Mannes, den er noch am Abend zuvor aus lauter Wut hätte an die Wand nageln können.

„Noch habe ich die Hoffnung nicht aufgegeben. Oder meinen Sie etwa, ich kratze hier den Lack ab, um den Rollstuhl für einen neuen Anstrich vorzubereiten?“

„Okay, okay“, riss der Kommissar beide Hände hoch, „war ‘ne saublöde Frage. Ich geb’s zu.“ Insgeheim dachte er, ‚der Typ kommt nicht aus seiner Haut raus. Aber witzig ist er. Wenn er will.‘

Jürgen Winter war der Verzweiflung nahe. Denn seine stille Hoffnung, dass er irgendjemanden finden würde, der mal offiziell irgendwo Flechette-Munition eingekauft hatte, ging so langsam den Bach runter. Je mehr er telefonierte, desto größer wurde seine Enttäuschung. Er hatte den Eindruck, größtes Entsetzen unter den Waffen- und Munitionsgroßhändlern auszulösen.

„Wie bitte, Highspeed-Munition? Sind Sie verrückt? Bringen Sie mich bloß nicht mit einem solchen Mist in Verbindung. Gibt es die überhaupt noch? Ich denke, die wäre längst verboten und geächtet.“

„Was? Flechettes? Um Gottes Willen, nie und nimmer!“

„Diesen Ami-Dreck würde ich nicht mal mit spitzen Fingern anpacken. Lassen Sie mich bloß in Ruhe damit!“

Quer durch NRW dasselbe Bild. Winter hatte den Eindruck, jedem Einzelnen seiner Gesprächspartner persönlich an die Ehre gegangen zu sein.

„Ich bin doch nicht wahnsinnig! Die zu verkaufen wird mit dem Tod nicht unter drei Jahren bestraft“, hatte der letzte Flintendealer in einem Anfall von humorverpacktem Sarkasmus bitter ins Telefon gelacht. „Nee, nee, nee. Das war doch sowieso ein totaler Irrsinn, dieses Zeug überhaupt zu entwickeln. Wir haben die auch nie im Programm gehabt.“

„Ja“, konterte der Kommissar, bevor der andere auflegen konnte, „das ändert aber nichts daran, dass es die Munition noch immer gibt und sie auch eingesetzt wird.“

„Von wem?“

„Wissen wir nicht.“

„Gibt’s doch nicht.“

„Doch, das können Sie mir ruhig glauben. Was meinen Sie, warum ich Sie anrufe?“

Auf der anderen Seite der Leitung wurde es still.

„Sind Sie noch dran?“, fragte Jürgen vorsichtshalber nach.

„Klar, ich bin noch dran. Aber ich schau gerade mal was nach. Moment bitte.“ Wieder kehrte Stille ein. Jürgen konnte leises Blättern hören und dann das Klappern einer Computertastatur. Dann tiefes Einatmen. „Hören Sie noch?“, meldete sich der Händler zurück, „Sie scheinen recht zu haben.“

„Inwiefern?“

„Ich hab’ hier was gefunden, was Ihnen vielleicht weiterhelfen kann.“

„Oh, das wäre natürlich toll. Lassen Sie mal kommen.“

„Ich habe einen Artikel aus der Waffen-Rundschau gefunden, in dem über einen Typen aus Wolfsburg berichtet wird, der noch vorletztes Jahr mit dem Dreckszeug auf einem Schießstand rumgeballert hat.“

„Ein Zivilist oder ein Soldat?“

„Ein Zivilist. Will sich die Munition für teures Geld bei einer nicht benannten Quelle besorgt haben. Dem sind alle möglichen Polizeidienststellen und Staatsanwälte aufs Dach gestiegen und haben sein umfangreiches Waffen- und Munitionslager ausgeräuchert. Der Kerl hat vor Gericht ordentlich eine abgekriegt.“