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„Unglaublich“, flüsterte er beim Blick auf den Bildschirm. „Unglaublich! Dass es diese Scheißdinger immer noch gibt.“

„Was murmelst Du da?“ Neugierig geworden kam sein Kollege Helmer aus dem Nachbarraum rüber.

„Hier, schau Dir das mal an, Rainer. Das ist das schnellste Gewehrgeschoss der Welt. Da kannst Du davon ausgehen, dass das Opfer schon mausetot war, bevor der Schütze den Knall seines Schusses überhaupt gehört hat. Diese sogenannte ‚Flechette-Munition‘ fliegt 1.500 Meter in der Sekunde.“

„Wahnsinn“, meinte Helmer kopfschüttelnd. „Unter dem Mikroskop sieht das Geschoss ja fast aus wie ein Dartpfeil.“

„Genauso ist es. Und der Hammer dabei ist, dass dieses nadelfeine Miststück laut Fachliteratur noch auf 600 Meter Entfernung 35 Millimeter dicken Stahl durchschlägt. Da ist es in unserem Fall direkt verwunderlich, dass das Teil nicht gleich hinten wieder raus ist aus der Wand.“

„Hua, jetzt friert’s mich“, wandte sich der Kollege ab. „Wer hat denn diese Munition entwickelt?“

„Eine österreichische Firma.“

„Boa, menschenverachtend!“

Siebert schaute ihm stirnrunzelnd hinterher. „Menschenverachtend? Kennst Du eine Art von Munition, die das nicht ist?“ Doch Helmer winkte ab. „Du weißt schon, wie ich das meine. Äääh, by the way, wo liegt das Taschentuch mit dem Etikett?“

„Auf dem Tisch mit den Fundstücken. Musst halt genau hingucken. Das ist in einem großen Beutel. Einen kleinen hab’ ich heute Nacht mit meinen klammen Fingern nicht aufmachen können.“ Dabei streckte Siebert beide Hände in die Luft und täuschte Gymnastikübungen mit seinen zehn Fingern vor.

„Geht aber wieder“, lachte er.

Das Auffinden des Taschentuchs war einem Zufall zu verdanken. Den hätte es nie gegeben, wenn sich nicht der Vize-Chef der Spurensicherung daran gemacht hätte, unter dem aufgebauten Zeltdach am Schloßberg in Laasphe sukzessive den Schnee abzutauen. Schicht um Schicht.

Alles in der Hoffnung, die kleinste Kleinigkeit dort zu finden, wo der Schütze nach Sieberts Überzeugung gesessen, gekniet oder etwas erhöht gelegen haben musste. Doch bis auf eine einzelne Zigarettenkippe hatte er nichts gefunden. Und der maß er nur wenig Bedeutung bei.

Erstens musste die schon dort gelegen haben, bevor der erste Schneefall einsetzte. Denn sie kam erst zum Vorschein, als der Rinnstein unter dem abgetauten Schnee auftauchte. Und zweitens, dachte er, würde ein derart spezialbewaffneter Killer nicht so blöde sein und einen runtergerauchten Zigarettenstummel vor Ort liegen lassen.

Das Taschentuch mit dem Stoffetikett, auf dem eine vierstellige Nummer und ein Buchstabe prangten, entdeckte er erst beim Abbau seines Zeltes. Da hatte er nämlich die beiden Heizsonnen vor Wut und Enttäuschung einen Meter weiter in den Schnee geworfen, sie aber ganz schnell wieder aufgehoben. Denn die Teile knackten verdächtig. Und einen Totalschaden wollte er unter allen Umständen vermeiden.

Mulden waren dort in den Schnee geschmolzen, wo die Heizkörper gelegen hatten. Und in einer mittendrin erkannte er plötzlich einen kleinen schwarzen Schriftzug. Er wollte das erst gar nicht glauben und griff mit Fingerspitzen danach. Da ertastete er drumherum weißen Stoff, den er im Schnee nicht wahrgenommen hatte.

Vorsichtig barg er durch Zupfen ein weißes Taschentuch. Und am Rand des Tuchs klebte ein Etikett mit der Zahlen- und Ziffernfolge 5129F. Auffällig dabei die 9, die unten nahezu keinen Bogen besaß.

Leise pfiff der Spurensicherer durch die Zähne. „Trüffelschwein Siebert“, sagte er zu sich selbst, „Du trägst Deinen Kampfnamen nicht umsonst. Wo immer das Taschentuch herkommen mag. Das Teil lag keinen halben Tag an dieser Stelle.“

Auch wenn er rein gar nichts mit dem Allerweltstuch und seiner Aufschrift anfangen konnte, war er doch sicher, „dass das hier einer von den Galgenvögeln verloren hat.“ Und deswegen musste es eingetütet und mitgenommen werden.

Seiner Gesamtstimmung jedoch hatte der Fund keinen besonderen Schub gegeben. So, wie er gekommen war, verschwand er auch wieder in Richtung Siegerland. Stinkig.

Doch diese Befindlichkeit war schlagartig eitler Freude gewichen, als er spät in der Nacht nach Hause kam. Dort nämlich hatte ihn seine Frau weinend und um Verzeihung bittend empfangen. Nie wieder würde sie ihm seinen Beruf und die damit verbundenen ‚Fehlstunden‘ an ihrer Seite vorwerfen.

Dass die Versöhnung schließlich fast den Rest der möglichen Schlafstunden aufzehrte, bestärkte ihn in der Überzeugung, Nacht-Ruhe werde schlicht überbewertet.

Im Berleburger Kommissariat glühten die Telefonleitungen. Vor allem Pattrick Born gönnte sich keine Minute ohne irgendein Ferngespräch. Schon kurz vor acht Uhr hatte er das Einwohnermeldeamt in Bad Laasphe erreicht, war jedoch über eine schüttere Personenauskunft nicht hinausgekommen.

‚Christof Feistauer, geboren am 13.07.1956 in Fulda, ledig, kinderlos, seit 02.03.2014 wohnhaft Schloßstraße 59, Bad Laasphe, zuvor Hindenburgdamm 11, Bad Oeynhausen.‘ Keine Info darüber, seit wann und wieso der Mann im Rollstuhl saß und woher er eventuell Rentenleistungen bezogen hatte. Angaben zum erlernten und zum zuletzt ausgeübten Beruf des Mordopfers negativ.

„Absolut unterirdisch“, befand Born. Auf der weiteren Suche nach Erkenntnissen zur Person Feistauer wählte er sich die Finger wund. Doch Fortuna stand ihm bei seinen Recherchen nicht gerade zur Seite.

Der Getötete schien zu Lebzeiten weder einen Hausarzt in oder in der Nähe der Stadt gehabt zu haben, noch kannte ihn das Versorgungsamt als zuständige Stelle für Schwerbehinderte. Und selbst die Abfrage beim Bundesmelderegister in Berlin brachte den Ermittler keinen Millimeter weiter.

„Es ist einfach zum Mäusemelken!“, schnauzte Born nach dem letzten Telefonat und knallte den Hörer aufs Telefon. Jetzt blieb ihm als einzige Hoffnung, dass man noch verwertbare Unterlagen in der Brandruine finden würde.

Doch die Chancen darauf schmolzen von Minute zu Minute. Denn das alte Haus an der Laaspher Schloßstraße brannte wie Zunder. Jahrhundertealtes trockenes Holz im Dachstuhl, im Fachwerk und in den Zimmerdecken bot den gefräßigen Flammen Futter ohne Ende.

Dass der Brand mutwillig gelegt worden war, daran gab es für keinen der Kripoleute auch nur den leisesten Zweifel. Denn die Frage, warum dieses zwar alte, aber bis dahin völlig intakte Haus just in jener Nacht in Flammen aufging, in der Stunden zuvor der einzige Bewohner erschossen worden war, ließ eigentlich nur eine Antwort zu: Brandstiftung zum Zweck der Beweisvernichtung.

Natürlich musste diese These noch durch Brandsachverständige offiziell bestätigt werden. „Aber die werden zu derselben Überzeugung kommen“, meinte Rüdiger Mertz. „Falls überhaupt noch was zu finden ist.“

Denn Selbstentzündung war auszuschließen. Bei Auffinden der Leiche hatte weder eine Kerze gebrannt, noch hatten die SpuSi-Leute die Zündflamme am Gasherd brennen lassen. Darüber hinaus war das generalisierte Rauchverbot am Tatort strikt eingehalten worden.

Aber welche Beweise sollten eigentlich vernichtet werden, fragten sich die Beamten. Denn der Mörder hatte sich beim Schuss auf Feistauer weder im noch am Haus aufgehalten. Wenn er also Spuren hinterlassen hatte, dann anderswo. Und die würden durch den Brand sicher nicht zerstört.

„Vielleicht wurde das Opfer ja in der Vergangenheit schon einmal bedroht. Mit Briefen zum Beispiel, die jetzt schleunigst verschwinden mussten“, überlegte Sarah Renner laut.

„Möglich“, meinte Mertz. „Aber daran glaube ich nicht. Für diesen Fall hätte sich Christof Feistauer sicher an die Polizei gewandt …“

„… und mit Sicherheit nicht als beleuchtete Zielscheibe ans Fenster gesetzt“, ergänzte Sven. „Es muss andere Gründe für eine Brandstiftung geben.“

Noch immer standen sie in sicherer Entfernung zum Geschehen und hatten nur Bewunderung für die Feuerwehrleute, die trotz der Kälte in triefend nassen Klamotten gegen die Totalzerstörung des alten Gebäudes ankämpften.

Dort, wo Hof und Straße nicht vor Hitze dampften, sorgten zwei Männer von den Stadtwerken immer wieder mit reichlich Streusalz dafür, dass die Nässe nicht gefror und so gefährliche Eisplatten entstanden. Zudem war die Straße für den Verkehr komplett gesperrt. Lediglich Einsatzfahrzeuge durften durch. Vor allem jene, die unablässig für Warmwassernachschub aus der Brauerei sorgten.

Vorsichtig wagte sich Sven herüber zum Stadtbrandinspektor, der offenbar gerade per Funk Anweisungen an den Mann auf der Drehleiter gegeben hatte. „Darf ich Sie bitte kurz stören?“, fragte er, nachdem er seinen Ausweis gezückt und sich lautstark vorgestellt hatte. Die Geräuschkulisse war nach wie vor beträchtlich.

„Moment, bitte“, antwortete Höbener und drehte sich wieder dem Geschehen zu. „Rainer!“, rief er einem Mann zu seiner Rechten zu und zeigte in Richtung Hausfront, „zweites C-Rohr von weiter vorne!“ Wenig später schien er zufrieden zu sein, streckte seinen behandschuhten Daumen nach oben und nickte. „Okay, was kann ich für Sie tun?“

Nur eine Sekunde später rief er „Achtung!“ und umfasste in einer Drehung Svens Oberkörper, um den Kommissar zur Seite zu reißen. Das gelang zwar. Trotzdem bekam der Kripomann einen strammen Strahl lauwarmen Wassers ab, der aus einem geplatzten Schlauch wie eine Fontäne nach oben schoss.

„Wasser haaalt!“, brüllte Höbener und bedeutete dem Maschinisten an der Pumpe, den geborstenen Schlauch lahmzulegen.

„Tut mir leid“, wandte er sich schließlich wieder an Sven, der gerade dabei war, seine am Ärmel total durchnässte Winterjacke auszuziehen und den Ärmel auszuwringen. „Kommen Sie, wir gehen rüber zum Kommandowagen, der ist beheizt.“

„Nee, nee, nicht nötig. Alles gut“, bemühte sich der ‚Freak‘ um Lockerheit, „ich habe nur zwei, drei Fragen. Wie haben Sie das Haus vorgefunden, als Sie hier eintrafen?“

 

„Als wir hier ankamen, standen Teile des Dachstuhls bereits in Flammen. An verschiedenen Stellen war das Dach schon durchgebrannt.“

„War zu dieser Zeit die Haustür offen oder eines der Fenster zerbrochen?“

„Unten war alles verriegelt und verrammelt. Die Tür sogar mit einem massiven Brett vernagelt, das rechts und links an dem schweren Türrahmen festgemacht war. Wir haben das aufgebrochen und wollten nachsehen, ob noch Menschen oder Tiere drin sind.

Das wäre zwar wegen der vernagelten Tür nicht nötig gewesen. Aber wir wollten ganz sicher gehen. Und wir wussten zu diesem Zeitpunkt ja noch nicht, dass der Eigentümergestern Abend tot aufgefunden worden war.“

Obwohl sein Rollkragenpullover unter der nassen Jacke trocken gebliebenen war, fror Sven erbärmlich. Aber angesichts der patschnassen Einsatzkräfte wollte er sich keine Blöße geben und fragte mannhaft weiter. „Wie sah es in dem Haus aus?“

„Das Erdgeschoss war anfangs von der Tür her noch begehbar. Aber am oberen Ende der Treppe brannte es zu diesem Zeitpunkt bereits.“

„Wie das denn?“

„In solch alten Häusern geht das oft ganz schnell. Weil meist zwei Drittel der Bausubstanz aus uraltem trockenem Holz bestehen.“

„Was meinen Sie? Ist der Brand auf dem Dachboden oder im Obergeschoss ausgebrochen?“

Der Stadtbrandinspektor zuckte mit den Schultern. „Da bin ich überfragt. Das war so nicht erkennbar. Da müssen die Sachverständigen ran. Die können das eventuell herausfinden. Uns fiel nur auf, dass die Stromzufuhr abgeklemmt war. Irgendjemand muss die Panzersicherung gezogen haben.“

„Das waren unsere Leute von der Spurensicherung“, meinte Sven Lukas. „Haben sie heute Nacht noch gemacht. Und weil die Haustür am Abend aufgebrochen werden musste, um an den Toten heranzukommen, wurde sie später zur Sicherung des Tatorts vernagelt.“

„Ach so, klar“, meinte Höbener, halb abwesend, weil er mit umherschweifenden Blicken ständig den Einsatz seiner Leute im Blick hatte.

„Ist Ihnen denn sonst noch irgendetwas aufgefallen?“

„Was meinen Sie? Ob Menschen in der Nähe waren?“

Lukas nickte.

„Nein, niemand. Außer Ihren Kollegen von der Laaspher Wache und dem Lehrer, der uns alarmiert hat.“

„Okay, das war’s eigentlich. Danke Ihnen“, verabschiedete sich der ‚Freak‘ mit Handschlag. „Auch für die Rettung hier.“ Dabei zeigte er schräg grinsend auf seinen nassen Jackenärmel, an dem er gerade geschnuppert hatte. Das Teil roch entsetzlich nach Kneipe.

Sein Glück war, dass es im Kofferraum des Dienstwagens zwei gefütterte Jacken in Orange mit fluoreszierenden Streifen gab, von denen ihm eine sogar recht passabel erschien. So sah er zwar aus wie ein Straßenwärter, war aber wieder etwas winterfester.

Rund eine Stunde später war es der Feuerwehr schließlich gelungen, den Brand so weit unter Kontrolle zu bringen, dass nur noch einzelne Glutnester gelöscht werden mussten. Doch von dem Haus stand nur noch ein verkohltes Fachwerkgerippe. Wegen der enormen Hitze im Inneren waren sogar die meisten der uralten Lehmwände zwischen den Holzfächern herausgebrochen.

Auch das Erdgeschoss war komplett ausgebrannt. Und damit die Hoffnung zerstört, noch irgendetwas Brauchbares zu finden, das mehr über Feistauers Identität hätte aussagen können als seine nackten Personenstandsdaten. Alles nur noch dampfende Trümmer.

Wie eine Glocke lag die Melange aus Brand- und Löschwassergestank über dem Schloßberg. Und über weiten Teilen der Stadt, in der sich die Nachricht von den Grausamkeiten im Haus Schloßstraße 59 wie ein Lauffeuer verbreitet hatte.

Klar war für die Frau und den Mann auf der Straße: das Feuer war absichtlich gelegt worden. Und zwar von demjenigen, der auch den armen Mann im Rollstuhl erschossen hatte.

Doch es war nicht nur Trauer, die sich breit machte, sondern auch Furcht. Furcht davor, eventuell selbst diesem heimtückischen Killer und Feuerteufel zum Opfer zu fallen. Könnte ja immerhin sein. Denn niemand kannte schließlich dessen Beweggründe. Und niemand wusste, wer er war und woher er kam. Oder vielleicht auch sie?

Ein Grund mehr für die Kriminalbeamten, aufs Gas zu treten bei den Ermittlungen. Doch wo setzt man an, wenn man selbst bei der Recherche nach der persönlichen Umgebung eines Opfers im Nebel stochert?

Als Sarah, Rüdiger und Sven wieder ins Kommissariat zurückkehrten, herrschte dort mindestens ebenso dicke Luft wie über Bad Laasphe. Der Staatsanwalt hatte dem Vernehmen nach eine lautstarke Auseinandersetzung mit Klaus Klaiser geführt, in der er den Kripo-Chef der Nachlässigkeit bezichtigt hatte.

„Und wie der rumgetobt hat“, berichtete Petra Fischer den Rückkehrern. „Wenn Sie dafür gesorgt hätten, dass das Haus bewacht wird, stünden wir jetzt nicht vor den verkokelten Trümmern eines Tatortes, an dem nichts mehr zu finden sein wird!“

Aber der Chef habe sich nichts bieten lassen. „So habe ich ihn noch nicht erlebt. Er hat Puhlmann so laut angebrüllt, dass ich hier jedes Wort verstanden habe. Ob er sich angesichts seines gestrigen Zustandes überhaupt daran erinnern könne, welches Wetter vor Ort geherrscht habe. ‚Bei solchen Witterungsverhältnissen stellt man keine Polizisten in die Landschaft, um ein leeres verriegeltes Haus zu bewachen. Es sei denn, die hätten sich so arg besoffen, dass ihnen die Kälte nichts anhaben könnte‘, hat er gebrüllt. Ein Vorbild dafür gäbe es ja.“

„Ein Vorbild? Au-au-au“, machte Sven und tat so, als habe er sich ein paar Finger in der Tür eingeklemmt. „Da hat er sich was getraut.“

„Wieso?“, kam es unisono aus gleich drei Mündern.

„Naja, der Herr Staatsanwalt war gestern Abend nicht mehr ganz nüchtern. Um nicht zu sagen, er hatte richtig einen im Tee.“

„Wie geil ist das denn?“, wieherte Rüdiger Mertz vor Begeisterung auf. „Unser Herr Hundertzwanzigprozent war im Bereitschaftsdienst angesoffen?“

Nebenan flog die Tür des Chefbüros auf. „Mensch! Seid Ihr verrückt?“, zischte der herausstürmende Klaiser. „Macht doch nicht so einen Höllenzinnober hier draußen. Muss doch nicht die halbe Stadt mitkriegen.“

„Wie?“, kriegte sich Mertz nicht mehr ein, „dass Puhlmann besoffen war?“

„Halt jetzt die Klappe. Ich hab’ schon genug Ärger“, wurde Klaus richtig pampig. „Kommt rein. Sie auch, Frau Fischer.“

Folgsam trottete die Vierergruppe hinter ihrem Vorgesetzten her. „Der Letzte macht die Tür zu!“, befahl der Chef.

„Was ist denn passiert?“, fragte Rüdiger Mertz. „Wenn Puhlmann wirklich besoffen war, dann hat der nun wirklich keinen Grund, hier den Larry raushängen zu lassen.“

„Sei mir nicht böse“, antwortete Klaus, „aber ich weiß nicht, ob Du Dir der Schwere der Sache bewusst bist. Du weißt doch, wie Puhlmann ist. Der bläst sich doch immer auf wie ein Truthahn und rennt gleich von Pontius zu Pilatus, um sich zu beschweren. Wenn ich dem an die Karre will, dann muss ich Hieb- und Stichfestes in der Hand haben.“

„Ja, ist denn Besoffensein im Dienst nichts Hieb- und Stichfestes? Das ist doch ein klares Dienstvergehen.“

„Besoffensein, Besoffensein“, wiederholte Klaiser. „Beleg mal, dass Puhlmann besoffen war. Er hat schleppend gesprochen und auch manchmal ordentlich geschwankt.“

„Und er hatte ‘ne Fahne wie ‘ne Schnapsdestille“, stellte Sven zudem fest.

Klaus tigerte vor seinem Schreibtisch auf und ab. „Stimmt! Stimmt alles. Aber wir haben es nicht moniert. Es steht nicht in unserem Bericht von heute Nacht. Und den hat er mittlerweile in der Hand. Daran ist nichts mehr zu ändern.“

„Ja und? Meinst Du, der walzt das jetzt an entsprechender Stelle aus?“, wollte Lukas wissen.

„Hat er schon. Kriminaloberrat Grübener hat vorhin schon angerufen und wollte mich sprechen. Er wurde aber unterbrochen. Und jetzt kann ich unter Umständen warten, bis ich hier vergammele.“

Der ‚Freak‘ hatte nicht nur Mitleid mit seinem Chef. Er war auch stinksauer auf diesen neunmalschlauen ‚Tintenpisser‘, wie er Puhlmann kürzlich noch genannt hatte. „Ich bin Dein Zeuge. Ich habe ja mitbekommen, wie es um ihn bestellt war.“

„Ich glaube nicht, dass mir das viel helfen wird. Einen Staatsanwalt so anzuscheißen, das kostet in der Regel die Karriere. Und ich bin sicher, der sägt …“ Das Telefon klingelte.

Mit Blick auf das Display stellte Klaiser fest: „Das ist Grübener. Geht mal alle raus, bitte.“ Sie folgten seiner Aufforderung und zeigten dem Chef gedrückte Daumen. Auch Sarah, die erst wenige Tage bei der Kripo war. „Solch einen Chef darf man nicht verlieren“, sagte sie auf dem Weg zu ihrem Schreibtisch. Es hörte sich an wie eine Liebeserklärung.

Born hatte von all dem nichts mitbekommen. Auch an ihm nagte die Wut. Weil es einfach nicht vorwärts ging bei seinen Ermittlungen. „Tut uns leid“, „da können wir Ihnen auch nicht helfen“ und „wen suchen Sie bitte?“ Der Kommissar hatte die Nase gestrichen voll.

‚Einen Versuch mache ich noch‘, nahm er sich vor und wählte die Nummer des Bürgerbüros in Fulda. ‚Wenn das nicht klappt, dann reicht’s wirklich.‘

Eine nette junge Frau meldete sich auf der anderen Seite der Verbindung. Und die zeigte sich ausgesprochen kooperativ. Vor allem, als sie erfahren hatte, dass sie eventuell mit dazu beitragen könnte, bei einer Mordermittlung wesentlich voranzukommen.

„Wie sagten Sie? Christof Feistauer? Der Vorname mit ‚f‘ oder ‚ph‘? Und könnten Sie den Nachnamen bitte buchstabieren und das Geburtsdatum wiederholen?“

Wieder überkam Pattrick ein mulmiges Gefühl. ‚Das wird doch sicher wieder nichts‘, dachte er, während er wartete, bis sich die Nette wieder zurückmeldete. Aber immerhin hörte er, wie sich seine Gesprächspartnerin mit einer Frau unterhielt und den Namen weitergab.

Es dauerte eine Weile. Dann fragte sie fast aufgeregt, „hören Sie noch? Ich hab’ hier was, das könnte Sie sehr interessieren.“

„Na, dann legen Sie mal los.“

„Also, Christof Feistauer ist tatsächlich am 13. Juli 1956 in der Elisabethen-Klinik hier in Fulda geboren. Vater: Johannes Feistauer, Maschinenbauingenieur, Mutter: Ursula Feistauer, geborene Meisner, Oberschullehrerin. Damalige Wohnadresse? Grotkauer Straße 2, Hünfeld.“

„Naja, so aufregend ist das ja nun auch wieder nicht. Aber immerhin die Bestätigung, dass seine Personalien in diesem Punkt stimmen“, wirkte Born eher lustlos.

„Sie hätten mich halt ausreden lassen sollen. Der Hammer kommt nämlich erst noch.“

„Oh, da bin ich aber mal gespannt.“

„Christof Feistauer und seine Eltern sind, warten Sie mal …, sie sind am 19. Juli 1956 bei der Rückfahrt vom Krankenhaus zu ihrer Wohnung kurz vor Hünfeld bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen.“

„Nä!“, entfuhr es Pattrick, „das glaub’ ich jetzt nicht. Sind Sie sicher?“

„Absolut sicher! Meine Kollegin hat zufällig meine Suche nach dem Namen Feistauer mitbekommen und mir einen Artikel aus der Chronik unserer Stadt gezeigt. Den können Sie gerne online einsehen. Feistauer war demnach nicht irgendwer in Fulda. Er leitete von hier aus ein Firmenimperium. Entsprechend groß war damals das Entsetzen über seinen und den Tod seiner Familie.“

„Und da wusste Ihre Kollegin sofort, wo sie suchen muss?“

„Naja, sie hatte ja immerhin den Namen und das Jahr. Und weil sie sich hier hauptamtlich mit Heimat- und Geschichtsforschung befasst, klingelte es bei ihr, als sie ‚Feistauer‘ hörte und von der Geburt des Kindes die Rede war. Da war es für sie ein Leichtes, in der elektronischen Chronik nachzusehen.

Dem Kommissar hatte es die Sprache verschlagen. Er saß nur kopfschüttelnd da und konnte es gar nicht glauben. „Das heißt aber mit anderen Worten, dass ‚unser Christof Feistauer‘ eigentlich ganz anders geheißen und den Namen und das Geburtsdatum geklaut haben muss“, sagte er nach einer ganzen Weile.

„So wird es wohl sein“, meinte die nette Frau.

„Was sollte denn dieser Schwachsinn?“, fragte er schließlich.

„Kann ich Ihnen nicht sagen. Sie sind der Polizist. Irgendwie unglaubwürdig klingt das schon, gell? Aber ich kann Ihnen gerne einen Auszug aus dem Geburtenregister kopieren und ihn zusammen mit einer Kopie des Zeitungsartikels zumailen.“

„Oh, da wäre ich Ihnen ausgesprochen dankbar“, sagte Born freundlich. „Und noch dankbarer bin ich Ihnen dafür, dass Sie mich ausgehalten haben, obwohl ich wohl ziemlich ungehalten war“, lachte er etwas verlegen.

 

„Hab’ ich doch gerne gemacht. Wenn ich Ihnen damit helfen konnte.“ Schnell ließ sie sich noch die Mailadresse geben. Dann legte sie auf.

Knapp fünf Minuten später hielt Pattrick das schier Unglaubliche in der Hand. Den Auszug aus dem Geburtenregister und den Artikel, die er aus dem Drucker im Sekretariat gefischt hatte und gerade dem Chef präsentieren wollte. Doch noch bevor er an dessen Tür anklopfen konnte, kam der, seinen Kopf kratzend und mit krauser Stirn herausgestürmt.

„Äh, Klaus, ich habe …“

„Moment!“, unterbrach der ihn. „Wo sind die anderen?“

„Keine Ahnung. Ich hab’ hier …“

„Ja, gleich. Entschuldige bitte. Das hier ist unglaublich wichtig. Ruf’ die Kollegen bitte mal in den Konferenzraum.“

Zwei Minuten später klebten sie alle an Klaus‘ Lippen. Der hatte den gewohnten Platz am runden Tisch eingenommen und die anderen zum Sitzen aufgefordert. „Leute, Ihr werdet es nicht glauben“, begann er und holte Luft.

„Karriereende?“, fragte der ‚Freak‘ ungläubig.

„Keine Rede von Karriereende. Ich wollte …“

„Ja, wie?“, fuhr ihm Sven schon wieder in die Parade, „was hat der Kriminaloberrat denn gesagt?“

„Mensch, lass mich doch endlich mal ausreden!“, forderte Klaiser. „Nichts hat der Oberrat zu der Geschichte mit Puhlmann gesagt. Offenbar wusste er gar nichts davon. Er hat was ganz anderes erzählt. Haltet Euch mal alle fest. Unser Mordopfer war offenbar mal in der Obhut unserer obersten Staatsschützer.“

„Waaas?!“ Der Aufschrei kam gleichzeitig aus allen Mündern. Völlig irritiert schauten die Kollegen einander an und waren baff.

„Was da genau war, konnte mir unser Boss auch nicht sagen. Er machte lediglich darauf aufmerksam, dass es eine ‚Akte Feistauer‘ beim LKA gebe, die einen Sperrvermerk vom BUNDESNACHRICHTENDIENST trage. Einzelheiten ließen sich daraus nicht mehr erlesen, sagte Doktor Grübener.“

Während die meisten mehr oder weniger versuchten, das Gehörte für sich richtig einzuordnen, ging Pattrick plötzlich ein Licht auf. „Meeensch, jetzt wundert mich gar nichts mehr. Irgendeinen Grund musste das ja haben.“

„Was meinst Du? Kannst Du uns mal schlau machen?“, bat der Chef.

„Ha, dass unser Mordopfer mit falscher Identität gelebt hat.“

„Wie bitte? Mit falscher Identität?“

„Genau. Und zwar mit der eines Mannes, der schon seit 62 Jahren nicht mehr unter den Lebenden weilt.“ Dem Chef blieb die Spucke weg. „Wie kommst Du denn darauf?“

„Hat für mich vorhin das Einwohnermeldeamt in Fulda rausgekriegt. Hier ist der Beweis“, wedelte Born mit seinen Papieren. „Christof Feistauer ist nicht nur am 13.7.1956 in Fulda geboren, sondern auch bereits eine Woche später in Hünfeld bei Fulda gestorben.“

„Das darf doch nicht wahr sein.“

„Doch. Das ist wahr. Die ganze Familie ist bei einem Verkehrsunfall umgekommen.“

„Zeig mal her, bitte!“ Klaus machte große Augen, als er den Zeitungsausschnitt überflogen hatte. „Ich glaub’, ich spinne. Was hat denn Feistauer, oder wie immer er wirklich hieß, damit bezweckt?“

„Weiß der Geier. Vielleicht wollte er von seiner eigenen Identität ablenken?“ Sarahs Antwort war gleichzeitig als Frage formuliert.

„Natürlich. Aber warum?“ Klaiser schaute seine Kolleginnen und Kollegen der Reihe nach an. „Wer tauscht denn um Gottes Willen seinen eigenen Namen freiwillig gegen den eines Toten?“

„Jemand, der etwas verheimlichen will“, meinte Winter. „Oder jemand, der sich nur auf diesem Wege Zugang zu etwas verschaffen kann, was er mit seinem Namen nicht erreichen würde.“

Claudia Siegemund schüttelte den Kopf. „Dazu müsste er ja auch ein anderes Aussehen bekommen. Die Gefahr wäre doch viel zu groß, mal irgendwo einem Bekannten oder einem Freund in die Arme zu laufen.“

„Das sehe ich auch so“, gab ihr der Chef recht. „Also hat das Ganze nur dann einen Sinn, wenn man mit eigenem Gesicht und fremdem Namen dorthin geht, wo einen niemand kennt. Am besten ins Ausland.“

„Na prima. Da steht uns ja was bevor“, unkte Sven. „Mal so’n stinknormaler Mord mit Opfer hier und Täter da und wir machen einfach mal ‚schnapp, da ha‘m wir den Kerl‘, sowas gibt’s bei uns ja nicht. Dafür aber ‘n Mordopfer, das es offiziell gar nicht gibt. Und prompt haben wir ‘ne richtige Agentengeschichte an der Backe.“

„Spinnst Du jetzt, oder was?“, echauffierte sich Pattrick. „Wie kommst Du denn auf diesen Blödsinn?“

„So’n Blödsinn ist das gar nicht. Überleg doch mal: Falscher Name, Ausland, BND, ermordet.“

Born war der Aufzählung aufmerksam gefolgt. „Okay. Und jetzt?“

„Mixe das Ganze mit folgenden Fakten einfach mal richtig durch. Also: Da kommt ein Mann aus einem anderen Land und lebt hier mit falschem Namen. Der BND kümmert sich um ihn. Womöglich sehr intensiv. Und kaum haben unsere Geheimen die behütende Hand weggezogen, wird der Mann ermordet. Da liegt doch der Verdacht nahe, dass Feistauer, oder wie immer er hieß, Agent oder Spion war.“

„Verstehe ich jetzt nicht. Der Getötete war doch kein Ausländer.“

„Wenn er aus der DDR kam, streng genommen schon. Die waren für uns Ausland und wir für die. Also gehen wir mal davon aus, dass er aus der DDR kam. Das wäre nicht verwunderlich. Denn deren Hauptverwaltung Aufklärung, die HVA, hat Hunderte von Spionen bei uns in die BRD eingeschleust.

Und von denen brauchten viele einen neuen Namen mit passender und vor allem überprüfbarer Legende, um nicht als ‚falsche Deutsche‘ aufzufallen, falls sie mal kontrolliert würden oder sonst wie mit Behörden zu tun hätten.“

Klaiser klatschte seine flache Hand an die Stirn. „Du hast recht, verdammt nochmal. Wieso bin ich denn da nicht selbst drauf gekommen?“, ärgerte er sich. „Manchmal ist man wirklich wie vernagelt.“

Auch den anderen war nach und nach ein Licht aufgegangen.

„Wow, ein Agenten-Thriller in der Lahnstadt. Ich sehe schon die Schlagzeilen in der KILLT-Zeitung“, feixte Born, „‚Guillaume-Nachfolger am Schloßberg erschossen – Bekam MfS-Nachwuchs letzten Schliff im Internat?‘“

„Jetzt spinn hier bitte nicht so rum. Die Lage ist viel zu ernst, um Witze zu machen.“ Mit selten so tief gesehenen Furchen auf seiner Stirn malte der Chef unentwegt abstrakte Bilder auf seinen Notizblock und meinte schließlich: „Lasst uns mal hirnen. Wo müssen wir ansetzen? Wer besorgt was?“

Das folgende Brainstorming dauerte nochmal etwa eine Viertelstunde, bevor sich die Runde auflöste.

Born war angefixt von der Idee, die echte Identität eines Mannes auszugraben, der womöglich für einen Geheimdienst gearbeitet hatte. Die anderen hatten zig verschiedene Ideen und sich dahingehend abgesprochen, dass sie sich nicht gegenseitig ins Gehege geraten wollen.

Für Lukas und Mertz war es an diesem Tag die zweite Fahrt nach Laasphe. Und wieder ging es rauf zur Brandruine. In der Hoffnung, dass sie, gemeinsam mit den Leuten von der Kriminaltechnik, noch irgendetwas Verwertbares finden würden, was ihnen bei der Lösung ihrer Fragen behilflich sein könnte.

Die Feuerwehr hatte den Schauplatz längst verlassen. Lediglich drei Mann von der Brandwache achteten darauf, dass das ‚Feuer schwarz‘ blieb, wie gelöschte Brände im Jargon der Wehrmänner bezeichnet werden.

Die Hoffnungen auf bedeutende Funde gerieten bei den Kripo-Beamten jedoch ins Wanken, als sie mehrere, in Ganzkörperkondome gewandeter, Kriminaltechniker ausschließlich in Brandschutt herumstochern sahen. Sechs Leute hatte die KTU dafür aufgeboten, um eventuell noch erkennbare Spuren aus dem Leben Feistauers aufzuspüren. Aber da war nicht viel übrig geblieben.

Schon am Morgen hatte Steffen Siebert dem Berleburger Kripo-Chef am Telefon anvertraut, dass er sich hätte „in den Arsch beißen können“, weil er und seine Leute nicht die Nacht hindurch Akten und persönliche Papiere gesichtet und gesichert hätten. „Aber wer rechnet schon damit, dass das Haus Stunden später in Flammen aufgeht.“