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„Gemmecke vom Westfalenkurier. Können Sie mir bitte kurz was zu dem Mord sagen?“

Der ‚Freak‘ schüttelte den Kopf. „Herr Gemmecke, das darf ich gar nicht. Lediglich mein Chef und der Staatsanwalt dürfen mit der Presse reden.“

„Ja, aber …“, der Mann trappelte von einem Bein aufs andere, „Leute, bitte, das geht doch nicht.“

„Was geht nicht?“

„Naja, der Kollege von der ‚Siegener‘ und ich haben von dem Mord erfahren, sind hergekommen und stehen uns seither die Beine in den Bauch. Egal, wen wir von Ihren Leuten fragen, wir erfahren nichts. Rein gar nichts. Wir müssen unseren Schlussredaktionen aber jetzt langsam was liefern, damit wir morgen früh überhaupt was im Blatt haben.“

„Tut mir leid“, antwortete Sven, „ich kann da nichts machen. Sie müssen sich leider gedulden. Ich habe jetzt hier ein wichtiges Gespräch mit einem Zeugen zu führen.“

„Wie?“, rief es lautstark von draußen, als die Scheibe wieder hochgefahren wurde, „Sie sind Zeuge? Können Sie uns denn sagen, was hier eigentlich passiert ist?“

Frederik Tiemann wollte gerade reagieren, als der Kommissar dazwischenfuhr. „Stopp! Jetzt bin erstmal ich dran.“

Das Gespräch brachte den Kriminalisten zunächst aber lediglich um einen wesentlichen Fakt weiter. Christof Feistauer müsse, so hatte Tiemann gemutmaßt, wohl vor etwa 20.15 Uhr getötet worden sein. Denn um diese Zeit sei er bei der Bergfahrt zum zweiten Mal an dessen Haus vorbeigekommen und habe seine Regungslosigkeit bemerkt.

„Aber bei der ersten Fahrt lebte er noch, da sind Sie sicher?“

„Natürlich. Er hat mir ja zugewunken. Auch bei der Fahrt nach unten. Das war so gegen halb sieben, beziehungsweise 18.30 Uhr.“

„Und Sie haben sonst nichts gesehen?“

„Nein. Nichts und niemanden.“

„Okay“, wollte sich Lukas schon bedanken, fragte dann aber trotzdem noch nach: „Ist Ihnen denn sonst noch irgendetwas aufgefallen? Ein Auto am Straßenrand oder so?“

Frederik Tiemann überlegte. „Doch“, sagte er plötzlich. „Als ich hier vor dem Haus ausgestiegen und zum Fenster gegangen bin, hörte ich, wie hinter mir aus dem Schloßberg ein Auto herauskam und runter in die Stadt fuhr. Muss ein ordentliches Schiff gewesen sein.“

„Was meinen Sie mit einem ‚ordentlichen Schiff‘?“

„Naja, mit einem großvolumigen Motor. Mindestens sechs Zylinder. Der hat nicht gebrummt, der hat geblubbert.“

„Geblubbert, aha“, lächelte der Kommissar. „Aber gesehen haben Sie ihn nicht?“

„Nee“, schüttelte der Schneepflugfahrer den Kopf. „Dafür hatte ich in dem Moment keinen Kopf.“

„Kann ich verstehen. Gut, dass Sie sich jetzt wenigstens noch daran erinnert haben. Aber stehen geblieben ist der Wagen nicht etwa?“

„Wie meinen Sie?“

„Naja, ob der Wagen stehen geblieben ist. Weil Sie ja, wie Sie mir erzählt haben, Ihren Unimog quer auf der Straße haben stehen lassen.“

„Ach so, ja.“ Tiemann spielte an seiner Nasenspitze und überlegte einen Moment. „Nee, ist er nicht. Außerdem hatte er ja hinten auch noch genug Platz, um aus der Einmündung nach unten rauszukommen.“

„Seltsam. Mich würde das trotzdem neugierig gemacht haben. Auch wenn ich genug Platz zum Fahren gehabt hätte.“

„Ja, glauben Sie denn, dass das der Mörder gewesen sein könnte, der da weggefahren ist. … Ich meine, der arme Mann da im Haus war doch wahrscheinlich schon längst tot um diese Zeit. Der Täter hätte doch reichlich Zeit gehabt, um zu verschwinden.“

„Weiß man’s?“, antwortete Sven nachdenklich. „Auf jeden Fall vielen Dank, Herr Tiemann. Warten Sie bitte noch einen Moment. Ich rede mal eben mit unseren Leuten, ob wir Sie und Ihr Fahrzeug noch brauchen.“

„Wäre mir sehr recht, wenn ich fahren könnte“, antwortete der Zeuge. „Ich muss hier dringend räumen. Sonst gibt’s morgen eine Katastrophe.“

Kaum waren die beiden ausgestiegen, stürzten sich die Journalisten auf den jungen Mann vom Räumdienst. Aber der zeigte sich ausgesprochen schmallippig und bestätigte im Grunde nur, was vor dem Hause Feistauer ohnehin schon die Runde gemacht hatte. Mehr wusste er ja auch nicht zu erzählen.

Inzwischen war auch Staatsanwalt Puhlmann eingetroffen, der aus seiner montäglichen Sportgruppe hatte herausgeholt werden müssen. Aber nicht etwa aus einer Sporthalle. Sondern aus dem ‚Tonkrug‘, in dem sich die Juristen, Lehrer und verschiedene Geschäftsleute üblicherweise nach dem Auspowern zur ‚Wiederherstellung des Elektrolythaushaltes‘ trafen.

„Sie brauchen gar nicht so zu schnuppern“, bemerkte er beiläufig, als ihn Klaus Klaiser im Haus begrüßte. „Eigentlich habe ich gar keinen Dienst. Aber ich bin heute Nacht kurzfristig eingesprungen, weil die Frau des Kollegen Eitner mit schweren Wehen ins Krankenhaus musste. Da hatte ich schon einiges intus. Aber ich habe mich fahren lassen“, erklärte er mit etwas schwerer Zunge.

„Das beruhigt mich ungemein“, antwortete der Kripo-Chef leicht süffisant und legte seinem Gegenüber in kurzen Zügen die bisherigen Erkenntnisse zu dem Mord dar. Wobei er manches mehrfach wiederholen musste. „Ich gebe es zu, es ist noch nicht viel. Aber wir werden uns krummlegen. Das kann ich Ihnen versprechen.“

„Was wissen wir bisher über den Toten?“

„Außer seinen Personalien eigentlich noch gar nichts. Bedauerlicherweise. Wir müssen auf Daten aus dem Einwohnermeldeamt Bad Laasphe und aus dem Bundesmelderegister hoffen.“ Mit einem Blick auf seine Armbanduhr ergänzte er, „um diese Uhrzeit ist damit allerdings auch nicht mehr zu rechnen. Morgen früh wissen wir hoffentlich mehr.“

Nachdem Tiemann schließlich mit seinem Räumfahrzeug abgerückt war, hatten Beamte vor dem Haus und an der Böschung oberhalb der Privatstraße Flächen mit Trassenbändern freigesperrt und zwei Mann Position im ‚Schloßberg‘ bezogen. Sie sollten das Auftreffen eines roten Laserstrahls beobachten und den Punkt markieren.

Laut Steffen Siebert müsste das die Stelle sein, von wo aus der Schütze auf den bedauernswerten Feistauer angelegt hatte.

Dem Experiment vorausgegangen war eine heftige verbale Auseinandersetzung zwischen dem SpuSi-Mann und Doktor Klaus Faulhaber. Der Rechtsmediziner hatte nämlich darauf bestanden, den Rollstuhl samt Leiche vom Fenster abrücken, und den Toten mitten im Raum, und damit mit mehr Arm- und Beinfreiheit, untersuchen zu können.

„Nicht, bevor wir nicht die Schussrichtung festgelegt haben!“, hatte Siebert gefordert und war ziemlich laut geworden, als sich Faulhaber einfach darüber hinwegsetzen wollte. Erst als sich der Staatsanwalt lamentierend dazwischengeworfen hatte, glätteten sich die Wogen und der Spurensicherer konnte seinen Plan erläutern.

„Ich möchte durch das Einschussloch in der Rückenlehne und das in der Scheibe einen Laserstrahl nach draußen schicken, um die Position des Schützen zweifelsfrei ausmachen zu können. Dazu muss aber der Rolli dort stehen bleiben, wo er auch bei Einschlag des Geschosses stand.“

Das leuchtete den übrigen Anwesenden ein. Und so achtete sogar der Doktor persönlich peinlichst genau darauf, dass der Rollstuhl sich keinen Millimeter bewegte, während der Oberkörper des Toten nach vorne geklappt wurde. Zwischen Lehne und Fensterscheibe sollte freie Sicht geschaffen werden.

Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis Siebert den Laserpointer so präzise auf einem Stativ eingerichtet hatte, dass er den feinen rote Strahl tatsächlich störungsfrei durch beide Einschusslöcher nach draußen senden konnte.

Der Rest war spielend leicht. Die Polizisten draußen mussten nur noch den Punkt markieren, der ihnen feuerrot im Schnee erschienen war. Und das taten sie sinnigerweise mit einem Besenstiel, den sie in den Schnee steckten. Selbst wenn es noch einen halben Meter mehr geschneit hätte, würde der noch oben rausgucken.

Doch dazu kam es gar nicht. Denn unmittelbar im Anschluss an die ‚Siebert’sche Lasershow‘, wie Doc Faulhaber die Vermessung der Schussbahn nannte, wurde über dem Areal ein Zelt Marke Gartenpavillon mit Seitenplanen aufgebaut.

„Und da latscht mir jetzt keiner mehr rein!“, bestimmte der KTU-Mann.

„Was haben Sie vor?“, fragte Klaiser vorsichtshalber mal nach.

„Was wohl? Spuren suchen natürlich.“

„In dem tiefen Schnee? Die sind doch längst alle zugeschneit.“

„Eben“, entgegnete der andere knapp und ließ den Kripo-Chef einfach stehen, um verschiedene Utensilien aus seinem Transporter zu holen. Darunter eine Gasflasche und einen Heizstrahler. Ohne jedes weitere Wort verschwand er damit in dem Wigwam und zog die Seitenplane hinter sich zu.

Klaus, mittlerweile mit Kapuze auf dem Kopf, hatte sich in sicherer Distanz zu den Geschehnissen neben einem der KTU-Männer postiert und gefragt: „Der wird doch wohl jetzt nicht den Schnee abtauen. Oder?!“

„Doooch, das macht er“, entgegnete der Kollege lächelnd.

„Das wäre nicht das erste Mal, dass er solche Aktionen startet. Ein ‚Geht nicht‘ gibt es bei ihm nicht. Steffen hört immer erst auf, wenn alle Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Und in 98,9 Prozent aller Fälle hat er dann auch was gefunden. Deswegen nennen wir ihn ja auch ‚Trüffelschwein‘.“

„Aber heute hat das Trüffelschwein offenbar schlechte Kartoffeln als Futter bekommen“, entgegnete Klaiser. „Oder warum ist er so mies drauf?“

Der andere pustete die Backen auf. „Um Gottes Willen. Lassen Sie ihn das bitte nicht hören. Ich glaube, Steffen hat daheim richtig Stress. Er kam nämlich schon geladen aus dem Haus, als ich ihn dort heute Abend abgeholt habe. Gift und Galle hat er gespuckt, als er einstieg. Ich hab’ dann lieber den Mund gehalten.“

„Oha. Dann wollen wir ihm auch hier lieber keine weitere Munition liefern“, brummte der Kripo-Chef nachdenklich, drehte ab und lief prompt Peter Puhlmann in die Arme. Der Staatsanwalt, der mit offenem Mantel und weit offenem Hemdkragen ganz vorsichtig voranschritt, war ein paar Meter weiter von den Journalisten gelöchert worden.

 

„Ich weiß, Herr Klaiser, Sie werden mich für verrückt halten“, sagte Puhlmann und schaukelte verdächtig. „Aber es wäre toll, wenn Sie mir bis morgen Nachmittag Habhaftes zu dem Fall liefern könnten.“

Klaiser schaute ihn mit großen Augen an und bekam einen trockenen Mund. „Bis morgen Nachmittag?“, fragte er ungläubig, „Du lieber Himmel, warum denn das?“

„Wir müssen der Presse Futter geben. Damit mir die Damen und Herren von der Journaille nicht tagtäglich auf den Zehen stehen und mich bei der Arbeit behindern.“

„Finde ich gut, Herr Puhlmann, dass Sie sich Bewegungsfreiheit verschaffen wollen. Aber Sie wissen schon, dass das verdammt viel verlangt ist. Wie sollen wir das denn in so kurzer Zeit schaffen? Bisher wissen wir ja noch nicht einmal, wer der Tote überhaupt ist.“

Doch der ‚Herr des Verfahrens‘, auf dessen Haupt sich mittlerweile eine dünne Schneedecke gebildet hatte, klopfte ihm nur auf die Schulter und meinte wenig nüchtern: „Sie machen das schon. Ich zähle auf Sie und Ihre Leute.“ Dann schlitterte und stolperte er zur Beifahrertür seines Wagens, der mit laufendem Motor abfahrbereit auf ihn wartete.

Dienstag, 5. Februar


„So Leute, es geht lo-hooos!“ Der Ruf des Chefs hallte durch den Flur des Kriminalkommissariats Bad Berleburg. „Morgenrundeee!“

Klaus Klaiser mühte sich trotz fast erschlagender Müdigkeit um einen fröhlichen Ton an die Adresse derer, die in der vergangenen Nacht wenigstens hatten ausschlafen können. Ihm und dem ‚Freak‘ war das nicht vergönnt gewesen. Trotzdem kam der als Erster den Gang entlang geschlurft – mit einer Tasse dampfenden Kaffees in der Hand.

„Guten Morgen, mein Lieber. Naaa, fit für den Tag?“, feixte Klaiser und haute seinem Kollegen dermaßen heftig auf die Schulter, dass der nur mit Mühe die pechschwarze Plörre in seinem Pott behalten konnte. ‚Greatest Cop ever‘ stand darauf. Was so viel bedeutet wie ‚Tollster Bulle aller Zeiten‘.

„Mann!“, rief der Getroffene lachend, während er noch balancierte, „bist Du immer noch neidisch wegen des Spruchs auf meiner Tasse?“

„Nö. Das berührt mich überhaupt nicht. Du weißt doch: jeder, der besser ist als ich, ist geklont“, grinste der Chef.

Ein fast unangemessen lockerer Aufgalopp für einen knüppelharten Tag, der vor ihnen lag. Auch die Kolleginnen und Kollegen, die nach und nach eintrudelten, begriffen wenige Augenblicke später, dass es am Tag eins nach dem Verbrechen weder Zeit für ein reguläres Mittagessen, noch für einen pünktlichen Feierabend geben würde.

„Guten Morgen, Leute“, begann Klaus Klaiser, „wir ermitteln ab sofort in folgendem Tötungsdelikt: Gestern Abend wurde in der Zeit zwischen 18.30 Uhr und 20.18 Uhr der 62-jährige Christof Feistauer in Bad Laasphe erschossen. Es handelt sich dabei eindeutig um Mord. Der querschnittgelähmte Rentner erlag einer Schussverletzung durch ein Hochgeschwindigkeitsgeschoss des Kalibers 5,56 x 45 mm.“

Die Kollegen rissen die Augen auf. „Ein Hochgeschwindigkeitsgeschoss? Das ist ja irre“, schüttelte Waffennarr Jürgen Winter den Kopf und friemelte sein Smartphone aus der Tasche. „Wo gibt’s denn sowas noch?“

„Ganz offensichtlich in Laasphe“, setzte Klaiser seinen Bericht fort. „Da ist sich die Kriminaltechnik sicher. Der oder die Schützin hat dem Mann nach deren Feststellung aus einer Entfernung von nur etwa 24 Meter durch das Wohnzimmerfenster direkt in die Stirn geschossen. Das Projektil durchschlug seinen Schädel, die Rückenlehne seines Rollstuhls und steckte knapp sieben Meter weiter in der hinteren Wand.

Aufgefunden wurde der Tote durch den Fahrer eines Räum- und Streufahrzeugs um ziemlich genau 20.18 Uhr. Ihm war auf seiner Tour über die Schloßstraße beim zweimaligen Passieren des Hauses Nr. 59 aufgefallen, dass der stets am Fenster sitzende Feistauer entgegen aller Gewohnheit nicht mehr winkte, sondern, dass sein Arm starr in die Höhe ragte.

Leider gibt es keine weiteren Zeugen, die in irgendeiner Form zur Aufklärung der Tat beitragen könnten. Der einzig halbwegs relevante Hinweis stammt ebenfalls von Frederik Tiemann, dem Mann, der den Schneepflug fuhr. Er will gehört haben, dass beim Auffinden des Erschossenen hinter ihm ein Fahrzeug mit großvolumigem Motor Richtung Stadt gefahren ist. Er konnte es aber nicht sehen.

Das wär’s fürs Erste“, endete der Chef. „Ihr könnt Euch vorstellen, dass wir jetzt richtig tief graben müssen. Denn von dem Toten sind augenblicklich nicht einmal die wesentlichen Daten und Fakten über sein Leben vor dem Tod bekannt. Wir kennen gerade mal seinen Geburtsort. Er stammte aus Fulda.“ Die sieben Kriminalbeamten hatten aufmerksam zugehört und sich eifrig Notizen gemacht. Frau Fischer, die von allen geschätzte Kriminalassistentin, verteilte zudem die Kopien des KTU-Berichtes mit entsprechenden Fotos und die des vorläufigen ballistischen Gutachtens.

„Mehr Wehrlosigkeit ist ja kaum mehr vorstellbar“, brachte es Claudia Siegemund beim Betrachten der Bilder auf den Punkt.

„Wer, um alles in der Welt, erschießt denn einen behinderten Menschen? Der Täter muss doch krank und voller Hass sein.“

„Ich glaube, das sehen wir alle so“, stimmte ihr Klaus zu. „Aber eins macht mich dabei besonders stutzig.“

„Mich auch“, mischte sich Pattrick Born ein. „Wenn mich nicht alles täuscht, ist das Hochgeschwindigkeitsgeschoss doch laut Genfer Konvention seit den 90er Jahren verboten.“

„Eben. Und da stellt sich natürlich die Frage, wer sich aus welchem Grund über solche Gesetzmäßigkeiten hinwegsetzt. Und vor allem, wer verfügt über diese Munition und die dazugehörige Waffe?“ Klaiser schaute in die Runde.

„Otto Normalverbraucher wohl eher nicht“, meinte Winter, der noch immer sein Smartphone in der Hand hielt. „Ich hab’ gerade mal im Internet nachgesehen. Die österreichische Firma Steyr hat die Munition und die dazugehörige Waffe ‚Steyr ACR‘ für die US Army entwickelt. Da wird ein Privatmann wohl kaum drangekommen sein.“

„Das rauszubekommen, ist ‘ne prima Aufgabe für Dich, Jürgen. Versuch’s bitte ganz schnell. Wir müssen dringend wissen, wer, außer den Amis, über diese Waffen verfügte, ob welche verschwunden sind und so weiter. Du weißt schon.“

„Okay. Sonst noch was? Oder kann ich schon mal loslegen?“

„Zunächst nicht“, antwortete der Chef und Winter stand auf. „Doch“, wurde er zurückgepfiffen, „und das gilt für uns alle: der Staatsanwalt will bis heute Nachmittag erste greifbare Fakten auf dem Tisch haben.“

„Och näää, ist das denn möglich?“ Claudia Siegemund verdrehte die Augen. „Hat der Herr eventuell heute Nacht schon eine Pressekonferenz für den Nachmittag anberaumt?“

„So ähnlich. Er hat auf jeden Fall gemeint, nur mit Futter könne man die Presse besänftigen und uns den Rücken für störungsfreies Arbeiten freihalten. Wir werden auf jeden Fall …“ Klaus’ Mobiltelefon machte sich bemerkbar.

„Augenblick bitte, geht gleich weiter“, unterbrach er und meldete sich am Handy. Wenige Sekunden später schaute er, als sei neben ihm eine Granate hochgegangen.

„Wie bitte? … Das kann doch wohl nicht wahr sein! Seit wann? … Wissen Sie nicht. Ach du lieber … Was? … Nein. Das lässt sich ja eh nicht mehr ändern. Die sollen tun, was möglich ist. Wir kommen so schnell wie möglich. Bis dann. Danke Ihnen.“ Kopfschüttelnd drückte der Chef das Gespräch weg.

„Was ist los?“ Sven Lukas schaute den Hauptkommissar mit einer Mischung aus Irritation und Interesse an. Und sechs Augenpaare folgten seinem Blick.

„Was los ist? Das glaubt Ihr nicht. Das Haus Feistauer in Laasphe steht in hellen Flammen.“

„Gibt’s doch nicht!“, rief Sven und sprang auf. „Seit wann?“

„Weiß man nicht genau. Wohl seit irgendwann heute Morgen. Ein Lehrer hat auf dem Weg rauf zum Internat das Feuer entdeckt und sofort die Feuerwehr alarmiert. Da schlugen die Flammen aber schon aus den Fenstern.“

Fassungslosigkeit machte sich breit im Konferenzraum. „Ist denn da noch was zu retten?“

Der Chef schüttelte den Kopf. „Die versuchen alles vor Ort. Aber als die Einsatzkräfte dort ankamen, stand bereits das Dach in Flammen. Und die Feuerwehr hat Mordsprobleme. Weil ihr das Löschwasser in den Schläuchen gefriert.“

„Mist“, flüsterte der ‚Freak‘, „und wir haben bis auf seinen Pass rein gar nichts Persönliches von diesem Mann geborgen.“

„War ja auch nichts da“, konterte Klaiser. „Oder weißt Du von einer Ecke im Haus, die wir nicht durchsucht haben?“

„Nee. Aber das ist sowas von unbefriedigend.“

„Kommt, jetzt machen wir hier kein großes Lamento. Du, Sven und Du, Rüdiger, Ihr fahrt da jetzt sofort hin. Und Sarah, Du fährst bitte mit“, ergänzte Klaus nach kurzem Überlegen. „Du kennst Dich in Laasphe doch besser aus als wir alle zusammen. Das könnte sehr hilfreich sein.“

Im Aufstehen verteilte Klaiser die wichtigsten Aufgaben.

„Frau Fischer, Sie sind bitte so lieb und informieren Staatsanwalt Puhlmann und halten mit mir zusammen hier die Stellung. Pattrick“, meinte er, an Born gerichtet, „sieh bitte zu, dass wir Klarheit über Feistauers Personalien und Lebensgeschichte bekommen. Es muss einen ganz speziellen Grund geben, warum ein Mensch, der zu allem Überfluss auch noch im Rollstuhl sitzt, auf diese Weise ermordet wird.

Jürgen, Du kümmerst Dich bitte gemeinsam mit der Kollegin Siegemund um die Herkunft von Waffe und Munition. Das wird sicher ziemlich aufwendig.“ Claudia nickte tapfer. „Dagegen wird die Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen womöglich ein Kinderspiel.“

„Ihr schafft das schon“, lächelte der Chef die gröbsten Zweifel weg. „Ich werde mich derweil mit Kriminaltechnik und Rechtsmedizin in Verbindung setzen und dann an den Bericht begeben. Um dem Staatsanwalt wenigstens etwas an Futter zu liefern. So. Und jetzt auf! Macht’s gut. Wir sehen uns hoffentlich alle spätestens zur Nachmittagsrunde.“

„Willst Du fahren?“ Der ‚Freak‘ schaute beim Rausgehen auf den Parkplatz rüber zu Sarah Renner, die sich eigentlich schon auf die Rolle als Mitfahrerin eingestellt hatte.

„Gerne, wenn Ihr meine Fahrweise ertragen könnt“, lachte die junge Kommissarin, die erst vor ein paar Monaten von der Schutzpolizei zur Kripo gewechselt war.

„Deine mit Sicherheit eher, als die von Sven“, kommentierte Rüdiger Mertz die Anfrage und zog die Seitenteile seiner Winterjacke vor der Brust zusammen. Es war knackig kalt und der Schnee knirschte unter den Sohlen.

Die Wahl der Fahrerin erwies sich als goldrichtig. Sarah fuhr zügig, aber nicht riskant und beherrschte den Ford mit scheinbarer Leichtigkeit auf der festgefahrenen Schneedecke. Lediglich auf der Sassenhäuser Höhe gab es ein leichtes Schlingern. Der Wind hatte die dort so typischen Schneewehen nach dem letzten Mal Räumen schon wieder beträchtlich anwachsen lassen.

Der Schneefall hatte über Nacht aufgehört. Und in der aufgehenden Sonne präsentierte sich den drei Beamten eine traumhaft schöne Winterlandschaft. Doch dafür hatten sie kein so rechtes Auge. Zu sehr waren sie fokussiert auf die bevorstehenden Aufgaben.

Sie hatte schon den Blinker gesetzt, um in die Schloßstraße einzubiegen, als Sarah Renner durch Martinshorn und aufblitzendes Blaulicht zu einer Schnellbremsung veranlasst wurde. Von links kam ein schweres Löschfahrzeug der Feuerwehr.

„Brennt es hier noch irgendwo?“, fragte Rüdiger auf dem Rücksitz. „Oder wo kommt der jetzt her?“

„Keine Ahnung“, zuckte Sarah mit den Achseln und fuhr direkt hinter dem schweren Lkw her, der mit röhrendem Motor die steile Schloßstraße hinaufgesteuert wurde.

Plötzlich schnupperte der ‚Freak‘. „Sagt mal, riecht Ihr das auch?“

„Was denn?“

„Bier! Hier liegt Bierduft in der Luft. Eindeutig! Als wenn einer ‘ne Wahnsinnsfahne hätte.“

„Wundert mich nicht“, meinte Rüdiger, „zwei-, dreihundert Meter Luftlinie von hier steht die Bosch-Brauerei.“

Die Renner schüttelte den Kopf. „Kann ich mir nicht vorstellen. Ich habe jahrelang da vorne in der Wache Dienst getan“, zeigte sie mit einer Kopfbewegung die Richtung zum Revier an, „und habe dabei die Brauerei nicht ein einziges Mal gerochen.“

„Ja, aber schnuppert doch mal!“, forderte Sven Lukas mit großer Beharrlichkeit weiter, „das ist Bier. Hundertprozentig. Hast Du etwa da hinten heimlich ‘ne Flasche aufgemacht und die Hälfte vergossen?“

 

„Wenn ich eine Flasche Bier aufmache, vergieße ich nichts“, lachte Mertz. „Das ist mir viel zu wertvoll. Aber vielleicht hat unsere verehrte Fahrerin gestern Abend ein wenig tief ins Glas geschaut.“

„Unterstehe Dich, sowas auch nur zu denken!“, setzte sich die Angesprochene theatralisch zur Wehr. „Dann werde ich Dich nämlich … ou! Jetzt rieche ich auch was.“

Der ‚Freak‘ setzte sich gerade hin. „Aha. Und was?“

„Hier brennt’s irgendwo.“

Das nachfolgende Gelächter hielt an, bis die drei Beamten ihr Ziel erreicht hatten und Sarah den Wagen nur mit Mühe auf jetzt eisglatter Fahrbahn nach rechts in die Privatstraße lenken konnte. Zwei Kollegen von der Schutzpolizei hatten sie durchgewunken und freundlich gegrüßt, als sie Sarah am Steuer erkannten.

Wie recht der ‚Freak‘ mit der ‚Bierfahne‘ hatte, stellte sich heraus, als die drei beobachteten, wie zwei Feuerwehrmänner aus der Kabine des vorausgefahrenen Löschfahrzeugs sprangen. Einen von ihnen erkannte Sarah sofort. „Das ist Dirk Höbener. Der ist hier nicht nur der Feuerwehrchef. Der ist auch der Braumeister von Bosch. Und jetzt ist mir auch klar, warum es hier so nach Bier müffelt!“, rief die Kommissarin.

„Die haben warmes Spülwasser aus der Flaschenreinigung der Brauerei geholt. Das friert in den Schläuchen garantiert nicht ein.“

„Na, hoffentlich schäumt es nicht zu arg beim Löschen“, grinste Sven, der die Kombinationsgabe der Kollegin bewunderte. Gemeinsam mit den beiden anderen baute er sich in respektvollem Abstand zu dem lichterloh brennenden Haus auf der Straße auf.

Die Hitzestrahlung war beträchtlich. Dort, wo die Flammen offen aus den Fenstern und dem aufgebrochenen Fachwerk herausschlugen, war der Schnee längst verschwunden. Doch nur wenige Meter weiter oben konnte man blitzblankes Eis auf der Fahrbahn der Schloßstraße erkennen. Wohl auch deshalb hielt sich die Zahl der Gaffer im einstelligen Bereich.

„Das sind wahrscheinlich Nachbarn aus der Privatstraße“, rief der ‚Freak‘ dem Kollegen Mertz zu, der interessiert zu einer kleinen Personengruppe an der Straßeneinmündung herübergeschaut hatte. „Vielleicht haben die ja irgendwas mitgekriegt. Ich geh’ mal fragen.“

„Häää?“, rief Rüdiger Mertz über den Lärm der Wasserpumpen und Motoren zurück und zeigte mit beiden behandschuhten Zeigefingern auf seine Ohren. „Ich habe keinen Ton verstanden!“, brüllte er schließlich.

Lukas schrie ihm sein Vorhaben direkt ins rechte Ohr und trippelte dann in betont kleinen Schritten zu den Passanten hinüber. Das linke Knie schmerzte noch vom Sturz in der vergangenen Nacht. Derweil rutschten Rüdiger und Sarah die wenigen Meter zu den uniformierten Kollegen bergab.

Der ‚Freak‘ hätte sich den Weg fast sparen können. „Nichts gehört und nichts gesehen“ hatten die Herrschaften geantwortet, die allesamt in dicke Winterklamotten gewandet waren. „Bis die Feuerwehr hier auftauchte.“

Die drei Paare bewohnten Häuser weiter hinten in der Straße und waren nach eigenem Bekunden durch die Martinshörner der Einsatzfahrzeuge aus dem Schlaf gerissen worden. Zwar war ihnen der Aufmarsch der Polizei vom Vorabend nicht verborgen geblieben. Wegen des starken Schneefalls hatte sich aber niemand weiter darum gekümmert. Weil man davon ausging, dass sich an der Einmündung mal wieder ein Verkehrsunfall ereignet hatte.

Sven ließ sie zunächst auch in dem Glauben und wollte schon abdrehen. Doch da fiel ihm noch eine wichtige Sache ein.

„Sagen Sie bitte, fährt irgendjemand von Ihnen ein Fahrzeug mit einem Sechs- oder Achtzylindermotor?“

„Ich“, meldete sich der Mann, der ihm am nächsten stand, „einen Sechszylinder. Warum?“

„Sind Sie gestern Abend, so gegen 20.15 Uhr mit dem Wagen noch einmal runter in die Stadt gefahren oder von dort zurückgekommen?“

„Wäre schön, wenn ich das gekonnt hätte“, lachte der Mann verkniffen. „Mein Auto steht leider schon seit Freitag vergangener Woche in der Werkstatt. Antriebswelle kaputt. Morgen soll es fertig sein, sagte mir die Werkstatt gestern.“

„Aha. Und wie kommen Sie im Moment in die Stadt und wieder zurück?“

„Mit dem Wagen meiner Frau“, lachte der Mann. „Aber nur auf dem Beifahrersitz.“ Dabei knuffte er die Dame nebenan in die Seite. „Sie gibt ihr Auto nämlich nicht aus der Hand.“

„Stimmt! Ich chauffiere meinen Mann lieber selbst“, meinte seine Gattin. „Weil ich sonst Angst haben müsste, dass er mein kleines ‚Muckelchen‘ genauso behandelt wie seinen Range Rover. Der ist nämlich geländegängig. Mein Polo aber nicht.“

„Klingt schlüssig“, lachte Lukas. Trotzdem fragte er: „Hätten Sie etwas dagegen, wenn wir das mit Ihrem Sechszylinder überprüfen?“

„Natürlich nicht. Machen Sie ruhig.“

„Prima. Und würden Sie mir bitte noch Ihre Personalien, das Fahrzeugkennzeichen und den Namen Ihrer Werkstatt geben?“

„Selbstverständlich. Aber jetzt würde ich doch ganz gerne erfahren, warum Sie das alles so genau wissen wollen.“

Sven suchte einen Moment nach der richtigen Antwort und massierte durch seine Mütze hindurch die Kopfhaut. „Weil gestern Abend dort vorne etwas ganz Schlimmes passiert ist“, begann er. „Dort in dem Haus, das jetzt lichterloh brennt, ist ein Mensch umgebracht worden.“

„Wie bitte?“, schrie der Mann vor ihm auf. „Der Mann mit dem Rollstuhl?“

Lukas nickte.

„Ja, aber die von der Feuerwehr haben doch gesagt, der Mann sei rechtzeitig rausgekommen aus dem Haus. Wir haben doch extra gefragt.“

Was sollte er dazu sagen? Vermutlich waren die Wehrleute nicht ausreichend darüber informiert, warum Feistauer nicht mehr im Haus war.

„Es stimmt schon, dass er nicht mehr drin war. Allerdings schon seit gestern Nacht. Er wurde gestern Abend tot in seiner Wohnung aufgefunden.“

„Wie ist er umgekommen? Können Sie uns das sagen?“

„Er wurde erschossen.“

Die Nachbarn starrten den Kommissar entsetzt an. „Das kann doch wohl nicht wahr sein. Dieser arme Mann. Der war doch immer so freundlich. Meistens saß er an seinem Fenster, wenn wir dort vorbeikamen. Und dann hat er uns zugewunken.“

‚Den Nachbarn also auch‘, registrierte Sven. „Hatten Sie denn auch mal Gelegenheit, mit ihm zu reden?“

„Ja, mein Mann und ich“, meldete sich eine der anderen Frauen. „Damals war er allerdings noch nicht auf den Rollstuhl angewiesen. Er stand gerade vor dem Haus und lud eine wirkliche Kostbarkeit aus seinem Wagen aus. Drei Windhunde aus Porzellan.“

„Aha. Kennen Sie sich mit so etwas aus?“

„Nicht wirklich. Aber meine Eltern hatten exakt diese Plastik in reinweiß. Und die haben sie gehütet wie einen Augapfel. Nach ihrem Tod haben wir sie von einem Auktionshaus versteigern lassen und über fünftausend Euro dafür bekommen.“

„Und darüber sind Sie mit dem Mann ins Gespräch gekommen?“

„Ja. Weil ich insgeheim gehofft hatte, das könnten die Hunde meiner Eltern sein. Die sind in dieser Ausführung nämlich sehr rar. Doch er sagte, er könne das weder bestätigen, noch dementieren. Was er bezahlt hatte, wollte er uns aber nicht sagen.“

Sven Lukas hatte interessiert zugehört und fragte sich insgeheim, ob die Hunde des Herrn Feistauer das Feuer wohl unbeschadet überstehen würden. Siebert, das alte Ekel, wird einen Schreikrampf kriegen, wenn er von dem Brand erfährt.

Doch den Mann mit der schier unglaublichen Spürnase konnte die Vorstellung von einem Brand in dem Laaspher Mord-Haus zumindest in dieser Hinsicht nicht schocken. Denn die Windhunde standen, mit einer Asservatennummer versehen, mitten auf einem breiten Tisch in einem Nachbarraum seines Labors.

Er hatte in der vergangenen Nacht zwar kaum geschlafen. Doch seine Laune hatte sich deutlich verbessert.

Fröhlich pfeifend hatte er gerade das Geschoss auf den Objektträger seines Elektronenmikroskops geklemmt, das den Schädel des Mordopfers scheinbar mit Leichtigkeit durchschlagen und tief in der Wand gesteckt hatte.