Buch lesen: «Am Fenster»

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Wolfgang Breuer

Am Fenster

Ein Wittgenstein-Krimi


Dieses Buch ist ein Roman. Handlung und Personen, wie Täter und Opfer, sind frei erfunden. Allerdings spielen darin auch real existierende Personen im sehr realen Wittgensteiner Land eine gewichtige Rolle. Diesen Menschen schulde ich für ihr freundschaftliches Einverständnis dazu meinen aufrichtigen Dank. Sie machen die Geschichte ein ganzes Stück weit authentischer. Bezüge zu und Anspielungen auf Ereignisse des aktuellen Zeitgeschehens sind ebenso gewollt wie notwendig.

Wolfgang Breuer

Am Fenster

Ein Wittgenstein-Krimi

Cover: unter Verwendung einer Zeichnung von

Herbert Kleinbruckner-Gautam (www.bildhauergautam.de)

Foto Coverrückseite: W. Breuer

Autorenfoto: Fotoatelier Christiane

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© Winter 2020

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E-Book: ISBN 978-3-96136-091-8

Print: ISBN 978-3-96136-090-1

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Inhalt

Montag, 4. Februar

Dienstag, 5. Februar

Mittwoch, 6. Februar

Donnerstag, 7. Februar

Freitag, 8. Februar

Samstag, 9. Februar

Montag, 11. Februar

Dienstag, 12. Februar

Mittwoch, 13. Februar

Donnerstag, 14. Februar

Freitag, 15. Februar

Montag, 4. Februar


Christof Feistauer saß am Fenster seines Wohnzimmers und schaute hinaus in den Abend. Dort, wo vor seinem Haus die noble Laaspher Privatstraße ‚Schloßberg‘ in die ‚Schloßstraße‘ mündet, war um diese Zeit zwar nie besonders viel los. Trotzdem. Dort zu sitzen und hinauszuschauen war für den 62-jährigen Mann so etwas wie ein Blick in das Schaufenster des Lebens.

Feistauer war auf einen Rollstuhl angewiesen und deshalb zuletzt nur noch ganz selten aus dem Haus gekommen. Bei dem augenblicklichen Wetter wäre ihm ein Ausflug an die frische Luft sogar völlig unmöglich gewesen. Es schneite nämlich seit Tagen so heftig, dass sogar die Räum- und Streudienste in Schwierigkeiten gerieten.

Und das hatte dazu geführt, dass sich selbst dort oben am Berg, am gefühlten Arsch der Welt, gelegentlich großes Kino vor seinen Augen abspielte. Autos, die ihren Fahrern nur widerwillig gehorchten, schlitternde, stürzende Fußgänger und tags zuvor eine richtig derbe Karambolage mit hohem Sachschaden.

Der Fahrer eines sündhaft teuren Mercedes hatte an der Einmündung aus dem ‚Schloßberg‘ die Vorfahrt eines nicht minder teuren BMW zwar beachtet, war ihm aber dennoch mit stehenden Rädern voll in die Seite gerauscht. Der Aufprall war ebenso gewaltig wie das anschließende Geschrei der streitenden Fahrzeuglenker.

Nur gut, dass die Autofahrer mit Mobiltelefonen ausgestattet waren. Der schwerbehinderte Frührentner hätte nämlich nur ungern seinen Logenplatz am Fenster aufgegeben, um Rettungsdienst und Polizei zu alarmieren.

Frederik Tiemann vom Bauhof der Stadt Bad Laasphe kannte die Gefahren an der Einmündung zur Genüge. Denn er fuhr den Schneepflug, der die Chaussee zwischen dem Zentrum Laasphes unten und dem Internat Schloss Wittgenstein hoch oben auf dem Berg zu räumen und möglichst schnee- und eisfrei zu halten hatte.

Tiemann liebte seinen nagelneuen Unimog, der die ziemlich steil ansteigende Strecke hinauf zum ehemaligen Sitz derer zu Sayn Wittgenstein Hohenstein sonst fast spielend nahm. Doch in diesen Tagen musste sich selbst sein „Jorch“, wie er das orangefarbene Kraftpaket getauft hatte, etwas mehr anstrengen, um der Schneemassen Herr zu werden.

Und jedes Mal, wenn er vor dem Hause Feistauer so richtig Gas gab, oder wenn er nur die Einmündung der für ihn sonst uninteressanten Privatstraße räumte, schaute er rüber zu dem Mann mit dem freundlichen Gesicht und winkte ihm zu. Christof am Fenster hob stets einen Arm und erwiderte den Gruß.

Tiemann hatte an diesem Montag Spätdienst und gegen 18 Uhr seine erste Tour am Streusalzdepot gestartet. Noch immer sandte der Himmel Unmengen an Schnee zur Erde. Was die Winterdienstler maßlos ärgerte. Denn schon eine Stunde nach jedem Räumeinsatz war von der zuvor geleisteten Arbeit fast nichts mehr zu sehen.

Es würde wieder eine heftige Nacht werden. Dessen war sich Frederik bewusst. Vor allem die Steigungs- und Gefällestrecken, von denen es in und um Bad Laasphe nicht eben wenige gibt, bedurften bei solchem Schneefall einer besonderen Behandlung. Spätestens, wenn am frühen Morgen der Berufsverkehr einsetzen würde, mussten all diese Straßen in optimalem Zustand sein. Und gerade hinauf zum Schloss war üblicherweise mit einem höllischen Ansturm von motorisierten Lehrern und ‚Externen‘ der Internatsschule zu rechnen.

Natürlich winkte der Mann im Rollstuhl auch diesmal, als Tiemann seinem ‚Jorch‘ so richtig die Sporen gab und mit röhrendem Motor an dessen Haus vorbeidonnerte. Das Licht der Straßenlaterne an der Einmündung verlieh Feistauers Gesicht einen leicht goldenen Schimmer.

„Was für ein armer Hund“, brummelte der Schneepflugkutscher vor sich hin. „Den ganzen Tag über hängt er am Fenster, um wenigstens etwas Abwechslung in dieser Tristesse zu haben. Das ist doch kein Leben, sowas.“

In der Stadt wusste man wenig über den Mann, der vor knapp sechs Jahren das alte, ziemlich baufällige Haus dort oben am Berg gekauft und nach aufwendigen Renovierungsarbeiten bezogen hatte. Bar bezahlt habe er die ‚Bruchbude‘, hatte deren Verkäufer in Frederiks Stammkneipe getönt und daraufhin Serien von Lokalrunden geschmissen.

Damals war der neue Besitzer noch ein durchaus ansehnlicher und sportlicher Typ, den man häufig bei Waldläufen beobachten konnte. Aber er war immer allein. Sein einziger Freund schien sein perlschwarzer 7er BMW mit fremder Zulassung zu sein, den er wenigstens einmal die Woche mit Schlauch und Schwamm vor dem Haus putzte.

Dann aber waren er und sein Auto urplötzlich verschwunden. Und kaum jemand vermisste den Sonderling, der bis dahin Kontakte zu den Menschen im Ort weitgehend vermieden hatte und nahezu jeder Begegnung aus dem Weg gegangen war.

Nur Hannelore Knop, der Verkäuferin in seiner Lieblingsbäckerei in der Königstraße, war sein Fehlen aufgefallen. Denn Christof Feistauer hatte dort mindestens zweimal, manchmal sogar dreimal pro Woche frische Brötchen eingekauft und samstags auch noch ein Bauernbrot mitgenommen.

Über ein freundliches „Bitte“ und „Danke“ waren die beiden jedoch nie hinausgekommen. Ein Zustand, den er vermutlich nie bedauerte. Wohl aber Frau Knop, eine verwitwete Endvierzigerin. Der Mann hätte nämlich durchaus in ihr Beuteschema gepasst.

Entsprechend entsetzlich war für sie das Wiedersehen mit ihm rund acht Monate nach dessen urplötzlichem Verschwinden. Als nämlich direkt vor der Bäckerei ein Rolli-Taxi anhielt und dessen Fahrer bei ihr zwei Kaiserbrötchen, zwei Roggenbrötchen und ein Bauernbrot einkaufte. Exakt das, was der Verschwundene immer bestellt hatte.

Als der Fahrer den Laden verließ, hatte die Verkäuferin einen neugierigen Blick durchs Schaufenster in den Fahrgastraum des Transporters gewagt. Und dort entdeckte sie zu ihrem großen Entsetzen den von ihr so verehrten Mann in einem Rollstuhl. Mit aufgedunsenem Gesicht und stierem Blick.

Schnell hatte diese Nachricht die Runde in der kleinen Lahnstadt gemacht. Und seither wussten die Menschen wenigstens etwas über den ‚komischen Kauz vom Schloßberg‘. Er musste mindestens querschnittgelähmt sein. Und er hatte augenscheinlich keinerlei Betreuung.

Lediglich für seine Besorgungen in der Stadt ließ er sich von Zeit zu Zeit mit einem Spezial-Taxi herunter und wieder hinauf kutschieren. Denn die steile Strecke zu seinem Haus am Berg hätte er niemals mit seinem Rollstuhl geschafft.

Es war 20.18 Uhr, als Frederik Tiemann zum zweiten Mal an diesem Abend die Schloßstraßen-Tour fuhr und an Feistauers Haus vorbeikam. Hinter sich eine kleine Schlange von Autos, deren Fahrer offenbar nur auf ihn gewartet hatten, um überhaupt zum Schloss hinaufzukommen.

Noch immer saß der Rentner am Fenster und winkte ihm zu. Die kleine Stehlampe auf der Fensterbank neben ihm ließ einen Schatten seines Gesichts in den gerafften Vorhang fallen.

Mag sein, dass Frederik bei den speziellen Lichtverhältnissen glaubte gesehen zu haben, dass das Winken des Mannes etwas statisch wirkte. Aber er dachte sich nicht viel dabei. ‚Er wird sicher müde sein.‘ Mit Vollgas brummte sein Unimog bergan.

Als er allerdings knapp zehn Minuten später wieder vom Schloss heruntergekommen war und die Einmündung der Privatstraße geräumt hatte, erleuchteten seine starken Scheinwerfer die gesamte Fassade des alten Hauses. Und noch immer saß der Rolli-Fahrer mit erhobener Hand auf seinem Platz.

Kein Lächeln, keine Bewegung. Nichts. Dem Schneepflugfahrer schwante Übles. Er schaltete das Fernlicht zu. Spätestens jetzt hätte der Mann am Fenster seine Hand schützend vor die Augen nehmen müssen. Doch Feistauer rührte sich nicht. Er stierte nur geradeaus.

„Shit!“, entfuhr es Tiemann, „da stimmt was nicht.“ Vorsichtig fuhr er quer über die Schloßstraße ganz nah an das Haus heran und schaute in das Fenster, das nun direkt vor ihm lag. Dann gefror Frederik das Blut in den Adern. Denn das Bild, das sich ihm bot, war entsetzlich. Zwischen den starren Augen des Rentners klaffte ein kleines rundes Loch, aus dem ein dünner roter Blutfaden über die Nase rann.

Als der Fahrer, vom Grauen gepackt, beim Zurücksetzen auch noch den Motor seines Fahrzeugs abwürgte, war es plötzlich unheimlich still. Kein Geräusch aus der Stadt drang hinauf auf den Berg. Die dicke Schneedecke wirkte wie ein gigantischer Schallschlucker.

Schaudernd kletterte der junge Fahrer von seinem Bock herunter. Obwohl es ihm widerstrebte, musste er nachsehen, ob dem Mann am Fenster vielleicht doch noch geholfen werden konnte. Mit weichen Knien und Gänsehaut näherte er sich der grausigen Szenerie und traute sich gar nicht so recht, hinzusehen.

‚Ausgerechnet mir muss das passieren‘, haderte er. ‚Ausgerechnet mir! Und dann keine Menschenseele unterwegs. Verdammt nochmal!‘

Doch plötzlich hörte er hinter sich einen Pkw aus der Privatstraße herauskommen. Frederik wollte ihm entgegenlaufen und ihn anhalten. Aber ehe er sich um den Schneepflug herum bewegen und bemerkbar machen konnte, war der Wagen bereits bergab davongefahren. Gesehen hatte er ihn nicht.

Dann schließlich ging er entschlossen zu dem Mann am Fenster. Und nur ein kurzer Blick genügte, um zu bestätigen, was er ohnehin vermutet hatte. Der Mann war tot. Mausetot! Frederik hatte zwar noch nie eine Leiche gesehen. Aber hier gab es keinen Zweifel.

„Verdammt, verdammt, was mach’ ich denn jetzt?!“, rief er weinerlich in den Nachthimmel und fuhr sich übernervös mit einer Hand durchs Haar. Sterne tanzten vor seinen Augen. „Los, Junge“, feuerte er sich plötzlich selbst an, „ruf die Polizei an! Rettungswagen kannst du dir sparen.“

Trotzdem überwand er sich vor dem Anruf noch dazu, alles noch einmal genauer zu betrachten, um am Telefon möglichst präzise Angaben machen zu können.

Feistauer, die gerafften Stores, die Lampe auf der Fensterbank. Alles sah eigentlich so friedlich aus. Wären da nicht das Loch in der Stirn des Mannes und der Blutfaden über Nase, Mund und Hemd gewesen.

Frederik war sicher, dass der Arme seinem Leben selbst ein Ende gesetzt hatte. Doch es war keine Waffe zu sehen. Und warum war der Arm noch immer wie zum Gruß erhoben?

Letzteres erklärte sich von selbst, als er näher hinschaute. Ein Finger der rechten Hand hatte sich in einer Masche der groben Stores verfangen. Während der linke Arm auf der Lehne des Rollstuhls ruhte. Aber wie konnte das sein? Mit einer Hand musste er doch abgedrückt haben.

Noch immer floss Blut aus der Stirnwunde. Und die gab Tiemann ein weiteres Rätsel auf. ‚Wenn sich jemand erschießt‘, dachte er, ‚warum tut er das mit einem Schuss direkt zwischen die Augen? Seitlich in die Schläfe wäre doch einfacher und genauso sicher gewesen. Auf jeden Fall muss er sich mit einer kleinkalibrigen Waffe umgebracht haben.‘

Dass die Fensterscheibe ein winzig kleines Loch hatte, entdeckte er in seiner Aufregung nicht.

Es war exakt 21.03 Uhr, als bei den Klaisers in Berghausen das Telefon klingelte. Klaus und Ute schraken hoch. Sie waren kuschelnd auf der Couch vor dem Fernseher eingeschlafen. Gähnend schüttelte der Hauptkommissar den Kopf und räusperte sich. „Ich geh’ schon, Schatz“, drückte er seine Frau sanft wieder zurück auf das bequeme Möbel und stand auf.

Doch die hielt es nicht lange dort. Denn aus dem Kinderzimmer erscholl ein herzzerreißendes Weinen. Luisa, die Süße, war offenbar vom Klingeln des Telefons wach geworden und bedurfte jetzt dringend mütterlicher Betreuung.

„Klaus, entschuldige, dass ich störe“, meldete sich der Diensthabende von der Berleburger Polizeiwache, „wir haben einen Mord am Schloßberg in Laasphe. Ein Rollstuhlfahrer wurde erschossen. Durch sein Wohnzimmerfenster, berichten die Kollegen. Ganz fiese Nummer.“

„Ein Rollstuhlfahrer? Oh nein! Wie hässlich ist das denn? Wo genau ist das?“

Dirk Finkbeiner gab ihm die notwendigen Informationen und auch gleich darüber Bescheid, dass der Kripo-Chef von Sven Lukas abgeholt würde. Der habe sich bereits von Diedenshausen aus auf den Weg gemacht.

„Bei dem Wetter?“ Klaiser war entsetzt. Denn er hatte beim Blick aus dem Fenster festgestellt, dass seit seiner Räumaktion vor der 20 Uhr-Tagesschau schon wieder gut und gerne 15 Zentimeter Schnee gefallen waren. „Der wäre doch besser gleich von dort aus nach Laasphe gefahren. Wie sehen denn die Straßen unterwegs aus?“

„Kein Prahl zu machen.“ Dirks Zustandsbeschreibung war an Nüchternheit nicht zu überbieten. „Die Räumdienste sind voll im Einsatz. Leimstruth, Stünzel und die Sassenhäuser Höhe werden alle 30 Minuten geräumt und gestreut. Die Höhengebiete um Wunderthausen, Diedenshausen und Girkhausen auch. Unten sieht’s mit Räumen eher mau aus. Mehr können die Jungs halt nicht leisten.“

„Na, hoffentlich haben sie auch auf der Lützel gestreut. Damit KTU und Rechtsmedizin durchkommen“, bemerkte Klaus eher am Rande. „Sind die schon bestellt?“

„Natürlich, haben die Laaspher Kollegen schon von sich aus gemacht.“

„Prima. Wer von denen ist vor Ort?“

„Äääh, warte mal … Clemens Rohrer und Jutta Henning.“

„Okay. Wann, meinst Du, könnte der ‚Freak‘ hier sein?“

„Ich weiß nicht, wie der fährt“, lachte Finkbeiner.

„Ich aber“, lachte der Kripo-Chef etwas gallig. „Wie ein Schwein!“

„Na, dann ist er ja bald bei Dir.“

„Gut, mein Lieber. Ich danke Dir und mach’ mich mal in die Puschen. Und Du informierst bitte noch den Staatsanwalt.“

Nachdem er sich verabschiedet und das Gespräch weggedrückt hatte, sprintete Klaiser hinauf ins Schlafzimmer, um sich für eine kalte und schneereiche Nacht einzukleiden. Keine Ahnung, was ihn dort erwarten würde.

Lange Unterhose, langes Unterhemd, darüber Thermohose, T-Shirt und ein dicker Pullover. Zusammen mit der dicken Winterjacke, gefütterten Stiefeln, Schal, Handschuhen und Mütze müsste das reichen, fand er und schlich auf Zehenspitzen wieder nach unten. Seine Damen schienen wieder eingeschlafen zu sein.

Leise schloss er die Haustür hinter sich. Doch als er vors Haus trat, empfing ihn ein schallendes Gelächter. „Mein Gott, Chef, Du siehst ja aus wie ein Michelin-Männchen. Mit wieviel Grad Frost rechnest Du denn, wenn ich fragen darf?“

Sven war wohl just in dem Moment vorgefahren, als Klaiser seiner Frau einen Zettel geschrieben hatte, um ihr mitzuteilen, wo er hin musste und dass er stattdessen lieber in ihren Armen läge. Die Ehe mit Ute und das knapp dreijährige Töchterlein der beiden, machten ihn nach wie vor zum glücklichsten Mann unter der Sonne.

„Wer von uns beiden hat denn hier laufend Schnupfen, he?“, antwortete er auf den Spott seines jungen Kollegen, den alle nur den ‚Freak‘ nannten. Der Kollege mit seinem fast abartigen Hang zu allen technischen Neuerungen trug nämlich mal wieder seine so typischen ‚Schmuddelklamotten‘. Schimanski-Parka, Jeans und ausgelatschte Camel-Boots.

Immerhin hatte er wenigstens Lederhandschuhe an und eine Russenmütze auf dem Kopf, deren Felllappen rechts und links über seine Ohren hingen.

„Steig lieber wieder ein, bevor Dich noch jemand sieht. Du kannst einem ja Angst einjagen in Deinem Outfit“, grinste Klaus und klopfte den Schnee von seinen Füßen, als er sich in Svens Mondeo gesetzt hatte. Kurz darauf wurde ihm bereits zu warm, in dem gut geheizten Dienstwagen.

Lukas hatte den kraftvollen Dieselmotor nur blubbern lassen, um rückwärts aus der Hauseinfahrt hinaus zu kommen. Als er die Lenkung einschlug, knirschte der eiskalte Pulverschnee unter den Rädern. Aber dann nutzte er die Gunst des Drehmoments und ließ sein Gefährt nach vorne schnellen. Die Berghäuser Straßen waren ausnahmsweise frisch geräumt.

Schon an der Klinker’schen Kreuzung in Raumland hatte Klaus das Kunststück fertiggebracht, sich der Winterjacke zu entledigen, ohne sich abzuschnallen. Svens Fahrweise und die Bordheizung hatten ihm bereits so zugesetzt, dass er hätte kübeln können.

Bei leicht geöffnetem Seitenfenster dachte er mit Grauen an eine Dienstfahrt im letzten Winter. Damals hatte er seinen Audi am Rhein-Weser-Turm in eine Schneewehe gejagt. Wollte sich der Kollege jetzt revanchieren? Immerhin hatte der sich an jenem Tag mit keinem Wort beschwert. Im Gegenteil. Blödsinn hatte er gemacht.

Doch danach war jetzt keinem der beiden Kriminalisten mehr zumute. Schlimm genug, was da auf sie wartete. „Wer, um alles in der Welt, erschießt denn einen Rollstuhlfahrer?“, hatte Lukas ihn gefragt, nachdem sie losgefahren waren.

„Ich kann es Dir nicht sagen“, war die lapidare Antwort des Chefs. „Wir werden es hoffentlich herausfinden.“

„Machen wir“, war Sven sicher, „ich versprech’ es dem armen Schwein, das da jetzt tot im Rollstuhl sitzt.“

„Hou, hou, hou, mach’ mal halblang. Jetzt warte erstmal ab, was wir dort vorfinden.“ Klaus Klaiser war absolut kein Freund von Früh- und vor allem von Ferndiagnosen. „Weiß der Geier, wie die Dinge liegen.“ Dann krallte er sich am Griff in der Beifahrertür fest. Sein Magen begann zu rebellieren.

Am Tatort hatte sich eine veritable Menge Mensch eingefunden. Autofahrer vor allem. Und zwar sowohl volljährige Pennäler, die bergauf ins Internat zurückkehren wollten. Als auch solche, die zu später Stunde unten in der Stadt noch ‚etwas zu besorgen‘ hatten. Doch manche Liebe blieb in dieser Nacht unbefriedigt.

Die beiden Oberkommissare Jutta Henning und Clemens Rohrer hatten bereits uniformierte Verstärkung aus Berleburg bekommen, weil an Ort und Stelle alles dort hatte stehen und liegen bleiben müssen, wo es sich beim Auffinden der Leiche befunden hatte. Auch der Unimog mit Schneepflug, der quer auf der Straße stand und den Verkehr beträchtlich behinderte.

Mit vereinten Kräften versuchten jetzt fünf Beamte, die Gaffer zurückzuhalten und wenigstens einige von ihnen vom Ort des Geschehens wegzubekommen. Was nicht ganz einfach war. Wegen der schier unstillbaren Neugier der Leute einerseits und der schon länger nicht mehr geräumten und gestreuten Straße andererseits.

An Clemens Rohrer war es hängen geblieben, den Auffindeort zu sichern und gegen fremde Blicke zu schützen. Aber wie? Irgendwann war Frederik Tiemann auf die Idee gekommen, die eingerosteten Angeln wieder so gängig zu machen, dass die alten Windladen vor dem Fenster, und damit vor dem Toten, zugeklappt werden konnten.

Sven und Klaus hatten bereits weiter unten am Schloßberg ihre liebe Not mit den Straßenverhältnissen. Denn das Wetter hatte kein Erbarmen mit ihnen und der Fahrbahn.

Gerade dort, wo ein zügiges Vorankommen von enormer Wichtigkeit gewesen wäre, hatten die Straßenbauer blöderweise Kurven eingebaut. Und die mit höherer Geschwindigkeit zu nehmen, vermied selbst Lukas, der ‚Freak‘. „Kacke!“, schimpfte er und musste ein ums andere Mal runter vom Gas.

Das Beschleunigen war dann nicht mehr die reine Freude. Weil schon zu viele Fahrer vor ihnen dieses Manöver mitgemacht und die Fahrbahn zu einer Eispiste gemacht hatten.

Und so zeigte die Uhr schließlich 22.07 Uhr, als sie, weil sie ja Blaulicht auf dem Wagen hatten, durch die Absperrung am Schloßberg gelassen wurden. Immerhin aber noch eine halbe Stunde vor Steffen Siebert von der Spurensicherung und Doktor Klaus Faulhaber vom Rechtsmedizinischen Institut. Die hatten allerdings auch den längeren Anfahrtsweg.

„Was für eine Schweinescheiße“, motzte Siebert, als er, die Handschuhe überstreifend, das Haus betrat und die Kriminalisten drinnen antraf. „Solche Einsätze müssten in solchen Nächten verboten werden.“

„Wir haben es uns nicht ausgesucht, Verehrter“, begrüßte ihn Sven Lukas. „Kommen Sie bitte.“

Die dargebotene Hand übersah der Ankömmling geflissentlich und meinte mit hochgezogenen Augenbrauen: „Ihr könnt draußen bleiben. Sonst latscht Ihr mir da drin alles kaputt, was es eventuell an Spuren gibt.“

„Hier gibt es wohl kaum Spuren vom Täter“, bremste ihn Sven Lukas ziemlich barsch. „Die finden Sie alle da draußen. Wir machen den Job schließlich auch schon ein bisschen länger.“

„Jaa, jaa, das sehe ich. Macht Euch lieber ‘n Paar Überzieher an die Füße. Handschuhe alleine reichen nicht!“ Dann marschierte er voraus. „Mann, Mann, Mann, Ihr seid vielleicht ‘n paar Profis“, giftete er weiter.

„Hey!“, rief Sven, „es ist gut! Vielleicht lassen Sie erst mal ‘n bisschen Dampf ab, bevor Sie mit Ihrer Arbeit anfangen.“

Siebert plusterte sich auf. „Also hören Sie mal. So können Sie mit mir nicht reden. Ich hätte unterwegs fast gekotzt wegen dieser Scheiße hier.“

„Ich auch!“, fauchte ihn Klaiser an, der in der Zimmerecke stand. „Und ich motze hier nicht so rum. Mann! Was ist denn mit Ihnen los? Haben Sie gesoffen, oder was?“

Der SpuSi-Mann fuhr erschrocken herum und riss den Mund auf. Doch bevor er etwas sagen konnte, tippte ihm der Kripo-Chef mit dem Zeigefinger auf die Brust. „Nehmen Sie sich mal ‘n bisschen zusammen. Pietät! Da vorne sitzt schließlich ein Toter. Und jetzt kommen Sie und schauen Sie sich das an.“

Das hatte gesessen. Steffen Siebert kannte Klaiser bisher nämlich als moderaten, besonnenen Mann und begriff nun offenbar, dass er mit seinem verbalen Giftangriff schwer danebengelegen hatte. Also riss er sich am Riemen und trottete hinter dem Kripo-Chef her ins Wohnzimmer, das noch immer nur von der Lampe am Fenster erleuchtet war.

„Dort sitzt der Mann“, deutete Klaus auf die Rückseite eines Rollstuhls, über dessen extra hohe Rückenlehne nur ein kleines Stück Haarschopf hinausragte. Die rechte Hand hatte sich in einem grob gewebten Store verkrallt. Am Boden jagten auf einem Sockel drei weiße Windhunde aus Porzellan einer imaginären Beute nach. Als Klaus sie anheben und zur Seite räumen wollte, rief Siebert: „Stopp! Nicht anfassen!“

„Wie?“ Klaiser verstand nicht richtig. „Wegen der Spuren? Ich habe Handschuhe an.“

„Deshalb nicht. Aber mit der Skulptur müssen Sie unbedingt vorsichtig umgehen. ‚Jagende Windhunde‘. Die sind richtig, richtig teuer. In dieser Ausführung Minimum zehn- bis zwölftausend Euro.“

„Was denn?“, fragte Lukas verdutzt, „zehntausend Fleppen für die drei Bellos hier?“

„Minimum, wie gesagt.“

„Oh, da lass’ ich lieber mal ganz die Finger davon“, zog Klaus die Hände zurück. „Ganz mein Reden“, witterte Porzellankenner Steffen Siebert offenbar wieder Oberluft und erntete dabei total irritierte Polizistenblicke.

„Also was haben wir hier?“ Langsam schob er sich seitlich am Rollstuhl vorbei in Richtung Fenster und konnte Feistauer so frontal ins Gesicht schauen.

„Uiii“, sagte er plötzlich und ließ einen leisen Pfiff hören.

„Scheint mir ein Highspeed-Geschoss gewesen zu sein. Kaliber, ich glaube 5,56 x 45 Millimeter und irrsinnig schnell.“ Prüfend schaute er vom Einschuss in der Stirn herüber zur Fensterscheibe und entdeckte das winzige Loch in Kopfhöhe. „Sag ich doch“, bestätigte er sich.

„Wie bitte?! Ein Hochgeschwindigkeitsgeschoss?“ Der ‚Freak‘ mochte das gar nicht glauben. „Die Dinger sind doch laut Genfer Konvention seit Ewigkeiten verboten. Hab’ ich sogar noch in der Schule gelernt. Wo kommt denn eine solche Scheiße heute noch her?“

Siebert schob die Unterlippe vor. „Wenn ich das wüsste. Ist mir bisher auch noch nicht untergekommen. Aber das hier ist eindeutig. Da geht kein Weg daran vorbei. Schauen Sie sich mal dieses picobello saubere Loch in der Scheibe an.“

Mit einer Taschenlampe leuchtete der Spurensicherer auf den Einschuss im Fenster. „Das Glas hat nicht mal Zeit zum Ausfransen gehabt. Wie gestanzt ist das.“

Sven war irritiert. „Aber das Loch hat doch niemals fünf oder noch mehr Millimeter. Und das im Kopf des Toten auch nicht.“

„Stimmt. Das Geschoss selbst hat nur etwa die Hälfte des Durchmessers seines Patronenhalses. Ist etwas kompliziert, das Ganze.“ Je mehr Siebert mit Wissen glänzen konnte, desto umgänglicher schien er zu werden.

„Und hier“, vorsichtig stützte er den Kopf des Toten unterm Kinn und bat Klaiser, „helfen Sie mir bitte mal eben, den Mann etwas nach vorne von der Lehne wegzuziehen. „Genau hier“, zeigte er eine gedachte Linie vom Hinterkopf zur Rückenlehne, „ebensolche Löcher. Durch den Kopf und durch die Rückenlehne. Das Geschoss steckt wahrscheinlich da hinten in der Wand.“

„Um Gottes Willen.“ Den Kripo-Chef fror es. „Das ist ja unglaublich. So ein kleines Geschoss. Mit einer so ungeheuren Wucht. Wahnsinn!“

Draußen wurde es unruhig. Ein Wortgefecht war durch Fenster und Windlade zu hören. „Du kannst jetzt nicht weg hier.“

„Muss ich aber, verdammt nochmal. Guck doch mal das Wetter.“

„Du sollst hierbleiben, hab’ ich gesagt.“

„Vergiss es. Da wird nichts draus!“ Dann hörte man, wie der Unimog ansprang und Gas gegeben wurde.

Sven reagierte sofort. Wie von der Tarantel gestochen raste er aus dem Wohnzimmer, durch den Flur hinaus aus dem Haus, rutschte aus, knallte hin und stand wieder auf. „Ey!“, brüllte er. „Motor aus! Sofort! Und dann runter vom Bock! Aber zackig!“

Doch Tiemann schien ihn nicht gehört zu haben. Und was ihm der Uniformierte vorhin zugerufen hatte, das juckte ihn offenbar nicht. Gerade ließ er den Räumschild hochfahren, um zurücksetzen zu können. Da schoss der ‚Freak‘ schlitternd auf das Räumfahrzeug zu und konnte sich gerade noch mit ausgestrecktem Arm am Türgriff festhalten. Mit der anderen Faust haute er gegen die Fahrertür.

Erschreckt blickte der Fahrer aus seinem Seitenfenster. Erst da schien er begriffen zu haben, dass es vielleicht doch besser wäre, wenigstens noch einmal verbalen Kontakt mit den Beamten aufzunehmen. Also ließ er das Fenster herunter und rief: „Hey Leute, tut mir leid. Ich muss. Auf den Straßen ist die Hölle los.“

„Sie bleiben hier!“, brüllte Lukas. „Machen Sie bitte den Motor aus und steigen Sie von dem Unimog runter. Sofort!“

Der Mann zuckte mit den Achseln, folgte den Anweisungen und stieg aus. „Wissen Sie, wie viel Ärger ich kriege, weil ich schon seit Stunden nicht mehr räume und streue?“, fragte er Sven. „Weiß der Himmel, wie viele Autos sich da mittlerweile quer gestellt haben und die Bergstrecken nicht fahren können.“

„Sie bekommen keinen Ärger. Das verspreche ich Ihnen. Unsere Kollegen in Berleburg haben längst mit Ihrem Chef gesprochen. Sie werden durch einen Kollegen vertreten. Wir brauchen Sie hier als Zeugen.“

„Aber ich hab’ Euren Leuten doch schon alles erzählt. Ich hab’ doch sowieso nicht viel mitbekommen. Als ich da drüben ankam“, zeigte er auf die Straße am Schloßberg, „da war er tot.“

„Welchen Kollegen haben Sie alles erzählt?“, wollte der ‚Freak‘ wissen.

„Na, den beiden Uniformierten dort vorne.“ Er meinte Jutta Henning und Clemens Rohrer, die noch immer mit Pennälern und mittlerweile wohl auch Pressevertretern herumdiskutierten. Zumindest trugen zwei der Passanten vor der Absperrung ziemlich professionell wirkende Kameras bei sich.

„Ich verstehe, was Sie meinen. Nur waren das ja die beiden Beamten, die auch als erste hier vor Ort waren und zunächst einmal generell erfahren wollten, was hier eigentlich passiert ist“, erklärte Sven Lukas. „Das mussten sie ja auch machen. Aber das ist nicht das, was wir noch alles abfragen müssen.“ Tiemann schien verstanden zu haben und fügte sich in sein Schicksal. Längst hatte er wieder die Kapuze seiner gefütterten Arbeitsjacke mit dem Wappen der Stadt aufgezogen. Denn es schneite nach wie vor, als gäbe es kein Morgen mehr. ‚Wie die Leute am Schloßberg morgen aus ihrer Straße rauskommen wollen, ist mir schleierhaft‘, dachte Tiemann. Dort war nicht ein einziges Mal geräumt worden. Nur eine tiefe, aber schon wieder zum Teil verschneite Autospur war in fast 40 Zentimeter tiefem Schnee zu sehen. ‚Privatstraße, nicht mein Problem.‘

„Machen Sie bitte mal Platz da vorne!“, rief es von hinten aus dem Halbdunkel der Straße. Es war ein Kollege der Spurensicherung, der Fotos vom Ort des Geschehens machen wollte.

„Klar“, rief Sven, „sorry! Wir sind sofort weg.“ Damit zog er den Unimog-Fahrer mit sich und schob ihn in seinen Dienstwagen hinein, dessen Standheizung den Mondeo innen auf fast unverschämte Sommertemperatur gebracht hatte. Schnell hatten die beiden ihre Jacken aufgeknöpft.

Doch kaum saßen die beiden Männer halbwegs bequem, klopfte es am Fahrerfenster. Ein Mann mit Spiralblock und Kuli in der Hand und Kamera vor der Brust zeigte an, Lukas möge doch die Scheibe mal runterlassen. Was der auch tat.

€5,99

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Altersbeschränkung:
0+
Umfang:
402 S. 5 Illustrationen
ISBN:
9783961360918
Rechteinhaber:
Bookwire
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