Der Mann, der gerne Frauen küsste

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III Edinburgh

Edinburgh im Hochsommer wurde von stürmischen Winden und heftigen Regenschauern aus dem Norden gebeutelt, die immer mal wieder von strahlendem Sonnenschein und milden Lüftchen unterbrochen wurden. Im Handumdrehen trockneten die nassen Straßen, Schirme wurden zusammengeklappt, Regenmäntel abgeworfen, und in den Terrassengärten unter der düster dräuenden Burg wimmelte es plötzlich von halb nackten Sonnenanbetern, bis sich – unvermeidlich – die schieferblauen Wolken über Fife und über der Nordsee zusammenballten und die Stadt von Neuem mit kräftigen, ergiebigen Schauern überzogen.

Ich war seit Jahren nicht dort gewesen und hatte vergessen, dass sich die Stadt jedes Jahr im August einer Invasion von Festivalbesuchern auslieferte, Princes Street und Royal Mile von vielsprachigem Geschnatter erfüllt wurden, sich Bretterzäune und Plakatwände in Flickenteppiche aus Postern und Reklame verwandelten. Doch unter all dem bunten Plunder des Kulturtourismus mit seinen kosmopolitischen Events und der knisternden Atmosphäre des Feierns und Genießens schien die alte, mürrische, verrußte Seele dieser Stadt stoisch abzuwarten, bis alles vorüber war. Nur eine Woche, dann sind diese lärmenden, lachenden Menschenmassen verschwunden, schien die Botschaft zu besagen, die man an den grimmigen, teilnahmslosen Gesichtern der Einheimischen ablesen konnte, dann können wir mit dem ernsten Geschäft fortfahren, hier unser Leben zu fristen.

All das, die alte Stadt mit ihren harschen Gepflogenheiten, stand mir lebhaft vor Augen, als ich durch eine der öden dunkelgrauen Straßen der New Town lief und mir der Regen schon wieder ins Gesicht peitschte, während ich auf die Nummer 37 zuging und dort das Messingschild (übersät mit eisigen Tropfen) neben dem Klingelknopf erblickte, auf dem geschrieben stand: The Royal Scotch Institute of Hydrodynamic Engineering und darunter der lapidare Hinweis: Lieferanten bitte am Hintereingang klingeln.

Eine winzige grauhaarige Frau mit übernatürlich hellen Augen öffnete die Tür und führte mich zu einem Stuhl in der großen, fast dunklen Vorhalle, wo zahlreiche gefirnisste Porträts von Ingenieurgrößen des neunzehnten Jahrhunderts auf mich herabblickten. »Mr Auchinleck ist sofort bei Ihnen«, sagte sie und huschte zurück in ihr Büro, aus dem ich kurz darauf ein Geräusch hörte, das immer seltener wird: das geschäftige Klappern einer mechanischen Schreibmaschine.

Es war Petra Fairbrother gewesen, die mich – unbewusst – dazu veranlasst hatte, das schäbige Hotel in Bloomsbury zu verlassen und mich nach Norden aufzumachen. Sie spürte mich dort auf und erzählte mir mit aufgeregter Stimme am Telefon, sie habe einen »Anhaltspunkt«, obwohl sie selbst nicht wisse, ob er etwas hergeben werde.

Sie hatte meine Blätter mit den Beispielen »automatischen Schreibens«, wie sie es nannte, einem Freund gezeigt, der Mathematikprofessor in Cambridge war. Ihm kamen meine Zeichnungen – die X-Figuren mit den verlängerten Armen – vage bekannt vor, und er hatte versprochen, Recherchen anzustellen. Ich malte mir lebhaft aus, wie meine Blätter in den Professorenclubs der Colleges herumgereicht wurden, wie ehrwürdige Häupter sich über meine Hieroglyphen beugten und sich in gelehrten Spekulationen ergingen … Doch wie auch immer: Nach wenigen Tagen schon meldete er sich mit der Nachricht, das fragliche Zeichen sei von einem Kollegen der Technischen Fakultät erkannt worden. Es bestehe durchaus die Möglichkeit, berichtete mir Petra Fairbrother, dass das Zeichen, das ich zehntausend Meter über dem Atlantik zu Papier gebracht hatte, ein Konzept darstelle, das in der Hydrodynamik als »Andreas-Welle« bezeichnet werde.

Ein paar Stunden Recherche in einer lokalen Bibliothek förderten die wesentlichen Fakten über die Andreas-Welle zutage. Sie bezeichnet ein Phänomen, das der schottische Ingenieur Findlay Smith Quarrie 1834 entdeckt hatte. Eines Nachmittags ritt er am Ufer des Union Canal bei Edinburgh entlang und bemerkte, als ein Lastkahn plötzlich gestoppt wurde, dass sich das Wasser nach kurzer heftiger Aufwallung beruhigte und dann eigenständig als gleichmäßige Welle fortpflanzte – so als bewegte sich der Lastkahn noch vorwärts und als fände die durch seine Fortbewegung verursachte Wasserverdrängung weiterhin statt. An jenem besonderen Tag hatte Quarrie seinem Pferd die Sporen gegeben und war der Welle über mehrere Meilen gefolgt. Sie war auf rätselhafte Weise real, obwohl sie wie von Geisterhand ausgelöst schien. Es war, bemerkte Quarrie in der Abhandlung, die er mit der Bitte, den anthropomorphen Charakter seiner Beobachtungen zu entschuldigen, beim Institute of Hydrodynamic Engineering einreichte, »als ob sich das Wasser an die Einwirkung des Lastkahns erinnerte«.

In seiner Abhandlung schlug er ein mathematisches Symbol zur Bezeichnung dieses Phänomens vor: zwei parallele Linien, die sich infolge eines Energiewechsels in der Mitte kreuzten. Er nannte es Andreas-Welle, weil die daraus resultierende Form an eine verlängerte Version des weißen X auf blauem Grund, nämlich die schottische Flagge, erinnerte, die gemeinhin als Andreaskreuz bekannt ist.

Ich saß genauso unvoreingenommen wie erwartungsfroh in der halbdunklen Vorhalle des Instituts und wartete auf Mr Auchinleck. Warum es mich nach Edinburgh gezogen hatte und was ich hier herauszufinden hoffte, war mir nicht ganz klar, aber zumindest war ich aktiv geworden und hatte etwas in Angriff genommen. Vielleicht führte dieser Besuch zu irgendeiner besonderen Erkenntnis, und mein sechster Sinn sagte mir, dass sie in der längst verblichenen Person von Findlay Smith Quarrie zu suchen war.

Ein Geräusch quietschenden Gummis nahte auf dem gebohnerten Parkett des Instituts, bevor Mr Auchinleck in Erscheinung trat: ein Mann Anfang dreißig mit einer Fülle wellig-krausen braunen Haars. Er trug einen grauen Anzug und ein Hemd im Schottenkaro ohne Krawatte. Das Quietschen kam von seinen groben Sandalen, deren Sohlen offenbar aus Autoreifen geschnitten waren. Ich konnte mir nicht verkneifen, nach unten zu schauen, und sah mit einiger Bestürzung, dass seine übermäßig langen Zehennägel wie gekrümmte gelbe Krallen unter den Querriemen der Sandalen hervorschauten.

Auchinleck war ein umgänglicher Zeitgenosse – »nennen Sie mich Gilles«, bot er mir sofort an – und erfreut zu erfahren, dass ich mich für Findlay Smith Quarrie und die Andreas-Welle interessierte.

»Ein faszinierender Mensch«, sagte Auchinleck. »Seiner Zeit voraus, gewissermaßen. Ich glaube nicht, um ehrlich zu sein, dass er wirklich wusste, was er mit seiner Welle entdeckt hatte.« Er grinste. »Heute sagen wir, alles ist wellenförmig, nicht wahr? Atome sind sowohl Welle als auch Teilchen«, referierte er in gelehrigem Singsang. »Angeblich ist sogar das Denken ein Wellenphänomen.«

»Wirklich?«

»Nun, so wird es behauptet. Wellen, Wellen überall. Möchten Sie wissen, wie er aussah?«

»Wer?«

»Quarrie.«

Gilles Auchinleck führte mich die Treppe zum alten Hörsaal des Instituts hinauf: im Halbkreis aufsteigende Bankreihen vor einem hölzernen Podium, hinter dem ein gewaltiges Gruppengemälde hing.

»1834«, sagte er. »Die Gründungsmitglieder. Dort steht Quarrie neben seiner berühmten Pumpe.«

Ich trat vor, folgte seinem Zeigefinger und starrte auf das gut ausgeführte Porträt eines rundlichen Mannes mit rosigem Gesicht, dessen Seidenweste über dem Bauch spannte, eher Landadel als das Idealbild eines viktorianischen Ingenieurs.

»Quarrie machte ein Vermögen mit dieser Pumpe«, sagte Auchinleck. »Um die Jahrhundertmitte war sie in jeder Kohlengrube der Welt vertreten.«

Er redete weiter, aber ich hörte nicht zu, weil mein Blick von einer düsteren Gestalt im Hintergrund gefesselt wurde – ein Mann im dunklen Anzug mit einer merkwürdigen weißen Seidenschleife um den Hals. Er hielt eine brennende Zigarre in der Hand, seine Augen schienen direkt aus der Leinwand herauszustarren. Seine Züge waren eingefallen und hager – man fragte sich, ob durch Krankheit oder Laster –, aber das Auffälligste an ihm war der breite Schnurrbart, der sich dunkel über sein bleiches Gesicht spannte, mit Enden, die über die Mundwinkel ragten und sich in sorgfältig gestutztem Schwung nach oben bogen.

»Wer ist der Mann?«, fragte ich, mit dem Finger auf ihn zeigend. »Der im Hintergrund.«

»Gute Frage«, sagte Auchinleck. »Wenn wir in die Bibliothek hinuntergehen, kann ich es Ihnen genau sagen.«

»Edinburgh, 17. August. Es heißt, dass die Macht eines Blicks unter gewissen Umständen körperlich spürbar ist (vielleicht ist auch der Blick eine Art Welle?) und, falls er intensiv genug ist, den Empfänger zum Hinsehen zwingen kann. Doch das Mädchen hinter der Bar, das ich jetzt seit fünf Minuten anstarre, raucht unbeeindruckt weiter, schaut überallhin, nur nicht zu mir. Sie ist natürlich dunkelhaarig, jung, mit schwachen Aknenarben seitlich ihres breiten Munds. Als sie mir meinen vierten großen Scotch mit Wasser einschenkte, sah ich, dass ihre Fingernägel bis auf die Wurzeln abgekaut waren. Sie ist groß, hat eine jungenhafte Figur, und ihr Haar ist zu Stacheln gegelt. Ich sitze hier schreibend in der Ecke, aber das Verlangen nach ihr spüre ich wie einen Schmerz in den Eingeweiden. Ich werde hier weitertrinken bis Lokalschluss und sie dann bitten, mit mir ins Hotel zu kommen. Es gibt jetzt einen Unterschied: Ich erlebe den Wahnsinnsanfall, die Besessenheit – was immer es ist – inzwischen weniger unmittelbar, und ich merke deutlich, wann es losgeht. Hat das zu bedeuten, dass diese Sache langsam ihre Macht über mich verliert? Oder nur, dass ich lerne, damit zu leben wie ein Pflegefall mit seiner chronischen Inkontinenz? Aber es ist, als würde ein Teil meines Gehirns unter meiner Kontrolle bleiben … Und doch werde ich jetzt nicht aufstehen und dieses Lokal verlassen.«

 

Wallace Kilmaron. Wallace Kilmaron. So hieß der Mann mit Zigarre und Schnurrbart, den ich auf dem Gemälde gesehen hatte. Auchinleck konnte ihn anhand einer Liste identifizieren, auf der die vielen Porträtierten (etwa dreiunddreißig insgesamt) erfasst waren, und er gab mir ein paar Informationen. Kilmaron war ein Fachmann für Wasserwirtschaft gewesen und hatte viel in Holland gearbeitet, wo er als Koryphäe galt, wenn es um den Bau von Dämmen, Kanälen und komplizierten Entwässerungssystemen bei der Landgewinnung ging. Gelebt hatte er von 1796 bis 1840. Auchinleck wusste nicht, woran er gestorben war, aber selbst nach den Maßstäben des 19. Jahrhunderts war er nicht alt geworden. Fast noch interessanter schien, dass er 1835 aus dem Institut ausgeschieden war – daher die wenigen Kenntnisse über ihn. »Die meisten Mitglieder haben uns ihre Archive überlassen«, erklärte Auchinleck, »was zum Teil auch Gründungszweck des Instituts war. Hier muss irgendetwas schiefgelaufen sein – zu Kilmaron haben wir außer diesen paar Basisdaten keine Unterlagen, fürchte ich.« Als wäre er in irgendeiner Weise verantwortlich für diesen Umstand, war Auchinleck so entgegenkommend, einen Freund in der Schottischen Nationalbibliothek anzurufen und für den nächsten Tag einen Termin im Lesesaal zu arrangieren, wo alles, was die Bibliothek über Kilmaron zur Verfügung habe, bereitgestellt werde.

Ich kam zu früh und ging in ein Café, um die Öffnungszeit abzuwarten. In mir spürte ich eine starke Anspannung, geboren aus der verrückten Gewissheit, dass die Antwort auf alle meine Fragen in jenem grauen Sandsteingebäude für mich bereitlag. Außerdem war ich verkatert – meine nächtliche Trinkorgie hatte nichts gebracht außer einem bohrenden Kopfschmerz, und auch die Beschämung über meine vergebliche Liebesattacke auf das Mädchen hinter der Bar war nicht dazu angetan, meine Stimmung zu bessern. Das Mädchen hatte nur mit Mühe die Energie aufgebracht, mich zurückzuweisen, so als ob ihm solche Dinge jeden Abend passierten – dass ein betrunkener Gast mittleren Alters es mit anzüglichem Grinsen zu einem Schlummertrunk in sein Hotel einlud. Doch während ich im Café saß und versuchte, ihren verächtlichen Blick zu vergessen und mich auf das Kreuzworträtsel im Scotsman zu konzentrieren, aber gedankenverloren auf die Straße starrte, wo sich der morgendliche Nieselregen in der Gosse sammelte, spürte ich meine rechte Seite kalt werden, als hätte sie Zug bekommen, und plötzlich bewegte sich meine rechte Hand mit dem Stift quer über die Karos des Kreuzworträtsels und zeichnete eine ganze Serie von Andreas-Wellen. Erst als ich an die zwölf dieser X-Figuren verfertigt hatte, brachte ich meinen Arm wieder unter Kontrolle.

Diesmal betrachtete ich das Ergebnis ohne Panik oder Furcht; ich sah darin eher eine Art Botschaft, die mir der – ja, wer? –, sagen wir, der Schatten von Wallace Kilmaron zukommen ließ, als würde er mir aus vielen Jahrzehnten Entfernung seine Glückwünsche zuflüstern. Und auf der anderen Straßenseite sah ich nun den Pförtner, der das schwere Holztor der Bibliothek für das Publikum öffnete.

Wallace Kilmaron war im Alter von vierundvierzig Jahren als enttäuschter und verbitterter Mann gestorben – an einer »Entzündung der Lunge und des Bauches«, mit anderen Worten an Ursachen, die der damaligen Medizin unbekannt waren. Bis dahin hatte er etwa ein Dutzend wissenschaftliche Beiträge veröffentlicht, meist in den gelehrten Journalen seines Fachgebiets. Ein schmales Büchlein mit dem Titel Über ein Phänomen der turbulenten Strömung, privat gedruckt bei einem Buchhändler in Leith, war jedoch in der Bibliothek vorhanden. Erschienen war es 1835, und die Lektüre dieses Buches sowie der drei Nachrufe und einer Korrespondenz im Jahrbuch für Bauwesen reichten aus, um das Bild von Wallace Kilmaron zu vervollständigen.

Im Jahr 1833 war Wallace Kilmaron in ein großes Vorhaben zur Trockenlegung des Landes zwischen der Waal und dem holländischen Niederrhein eingebunden, das eine Fläche von etlichen Dutzend Quadratkilometern mit einem komplizierten Netz von Entwässerungskanälen überzog. Eines Tages war in einem der Kanäle eine Schute gesunken (ein schmaler, flacher Lastkahn für den Abtransport von Schutt und Schlamm), und während der Bemühungen, die Schute flottzumachen (unter Einsatz von Pferden und Seilwinden), hatte das Anheben und Absacken der Schute an den Rändern des Kanals eine Reihe von turbulenten Wellen erzeugt. Kilmaron, der am Kanalrand stehend die Bergung überwachte, hatte bemerkt, dass diese Wellen »dahineilten wie die Wogen eines Peitschenriemens« und sich »ohne Änderung der Gestalt und ohne Verminderung der Geschwindigkeit« im Kanal fortpflanzten. Kilmaron beschloss, diesen Wellen in ihrem Verlauf zu folgen. Er notierte, er sei Hunderte von Metern mit einer dieser »Wogen«, wie er sie nannte, am Kanal entlanggegangen, und verglich sie mit einer Gezeitenwelle, »einer gerundeten, klar umrissenen Erhebung des Wassers«. Er bemerkte zudem, dass sich die Woge, wenn der Kanal die Richtung änderte, scheinbar in kleinere Wellen zerlegte und dann, wenn sich der Kanal geradeaus fortsetzte, auf magische Weise wieder zur ursprünglichen Form zurückfand, »als sei in der Turbulenz des Wassers eine Erinnerung an die ursprüngliche Eigenart der Woge enthalten«.

Die Entdeckung dieses Phänomens faszinierte Kilmaron so sehr, dass er eine große Holzplattform baute, die auf der Wasseroberfläche schwamm und durch eine geschickte Verteilung von Gewichten dazu gebracht wurde, um eine feste Achse zu wippen und auf Wunsch gleichförmige Wogen zu erzeugen – oder »kohärente Wellen«, wie er sie jetzt nannte. Wochenlanges Experimentieren ermöglichte ihm, zu einem gewissen Verständnis des Phänomens zu gelangen, das er in der wissenschaftlichen Abhandlung, die er schrieb, nicht als Turbulenz, sondern vielmehr als eine Form der Resonanz darstellte, eher als Ausdruck einer Ordnung statt als chaotischen Ablauf, und die in ihrer Ausformung von den genauen Tiefen- und Breitenverhältnissen des Kanals und dem Maß des Anfangsimpulses abhing. Er schlug ein mathematisches Symbol zur Bezeichnung dieser Bedingungen vor, das die Form zweier einander überlagernder Peitschenriemen hatte und das, noch weiter vereinfacht, eine merkwürdig verflachte und abgerundete X-Gestalt annahm. Zudem schlug er vor, das Phänomen fortan als »Kilmaron-Welle« zu bezeichnen, und er reiste von Holland nach Edinburgh zurück, um seine Abhandlung »Über ein Phänomen turbulenten Wassers« im neu gegründeten Institute of Hydrodynamic Engineering vorzutragen. Bei der Ankunft musste er jedoch feststellen, dass Findlay Smith Quarrie wenige Wochen schneller gewesen war: In der kleinen Welt der hydrodynamischen Technik wurde Quarries erstaunliche Andreas-Welle mit all ihren Implikationen bereits eifrig diskutiert.

»18. August. Der Vernunftwidrigkeit dessen, worüber ich schreiben will, bin ich mir vollkommen bewusst. Ich weiß, welche Gefahr sie für mich darstellt, wie sie mein Bild in der Öffentlichkeit verändern wird, aber ich bin mir sicher, und das mit der ganzen Gewissheit meines Herzens und meines Verstandes, dass alles, was mir seit jenem Tag im Mai geschah, als meine Hand Symbole zu malen begann, dass all das mit Wallace Kilmaron und seinem Tod im Jahr 1840 zu tun hat.«

Als ich las und rekonstruierte, was Wallace Kilmaron nach der Entdeckung seiner Kilmaron-Welle widerfahren war, wusste ich, dass diese Ereignisse, die hundertfünfzig Jahre zurücklagen, systematisch mein Leben zerstörten – aufgrund welcher Umstände auch immer. Die letzte Gewissheit stellte sich ein, als ich am Ende eines der Nachrufe las, dass Wallace Kilmaron, sechs Monate bevor er starb, sein Zimmermädchen, eine Sarah McBride, geheiratet und ihr sein Vermögen vererbt hatte. Kilmarons Familie hatte diese Verbindung nie anerkannt und später vor Gericht bezeugt, Kilmaron habe die Heirat und die Testamentsänderung in einem »Zustand der Trunkenheit und Demenz« verfügt.

IV Biarritz

Didier Visconti lächelte; seine große, sonnengebräunte Hand strich mir kurz über die Schulter.

»Nicht der Rede wert, Alex«, sagte er. »Du hast für alles bezahlt. Alle werden darüber reden. Ich werde berühmt. Ich sollte dir dankbar sein.«

Mir war zum Heulen zumute – vor Dankbarkeit. Am liebsten hätte ich diesen stattlich-jovialen Franzosen umarmt, ihm erzählt, er habe mir das Leben gerettet. Stattdessen sagte ich: »Ich kann es dir nicht erklären – oder doch, aber es wäre sinnlos, du würdest mich für verrückt halten. Sagen wir, ich musste es einfach tun.«

Didier schaute auf die gusseiserne Tafel hinab, die am Rand des vierzehnten Abschlags in den Rasen eingelassen war. Ich hatte sie in sechs Sprachen beschriften lassen – Französisch, Englisch, Deutsch, Niederländisch, Italienisch, Spanisch –, und der Text lautete: »Die Wasser-Schikane bei diesem Loch ist einzigartig im Golf. Sie beruht auf einem Phänomen des turbulenten Wassers, das 1834 von dem schottischen Ingenieur Wallace Kilmaron entdeckt wurde und als Kilmaron-Welle bezeichnet wird.«

Wir folgten einer mäandernden Vierergruppe schwedischer Damen mittleren Alters den Fairway hinab zum vierzehnten Green. »Les Cerisiers« war ein neuer Golfplatz, angelegt von seinem Eigentümer Didier Visconti, einem reichen Bauunternehmer, und landschaftlich gestaltet von Harrigan-Rief Associates. Meinen Plänen zufolge war ein Bach in einen schmalen Kanal mit flacher Böschung umgeleitet worden, der mehrere Hundert Meter am Rand des vierzehnten Fairways verlief und ihn kurz vor dem vierzehnten Grün kreuzte – um als tückische Wasserschikane zu fungieren (alle Bälle, die hineinfielen, waren unwiederbringlich verloren) – und dann unterirdisch fortgeführt wurde, um den künstlichen Teich vor dem Clubhaus (Architekt: John-Joseph Harrigan) zu speisen.

In den Monaten des Baus und der Landschaftsgestaltung waren Didier Visconti und ich dicke Freunde geworden, und ich entwickelte eine große Vorliebe für diesen Teil der Atlantikküste. Als ich Didier am Telefon die Änderung der Wasserschikane am vierzehnten Loch vorschlug, hatte er sofort eingewilligt, und ich war mit Fotokopien der einschlägigen Seiten in Kilmarons Buch gen Süden geflogen.

Zwei örtliche Handwerker, ein Zimmermann und ein Schmied, hatten eine verkleinerte Kopie der von Kilmaron konstruierten wellenerzeugenden Plattform angefertigt (die von einem Benzinmotor bewegt wurde), und ich ließ sie an der Stelle einbauen, wo der Bach in meinen künstlichen Kanal umgewandelt wurde. Das Ganze funktionierte recht gut und erzeugte Serien von wandernden Wellenbergen, die sich über die ganze Länge der Wasserschikane fortsetzten.

Didier und ich standen in der Abendsonne und sahen den Kilmaron-Wellen nach, die sich durch den Kanal bewegten, während die schwedischen Golferinnen ihre Bälle mit hackenden und stümperhaften Schlägen auf das Green beförderten.

»Glaubst du, dass sie von den Wellenbewegungen aus dem Konzept gebracht werden?«, fragte Didier. »Dass die Ablenkung zu groß ist?«

»Genau deshalb nennt man es Wasserschikane«, sagte ich. »Ich prophezeie: In zehn Jahren siehst du diese Kilmaron-Schikanen überall. Die Amerikaner werden sie lieben. Sie sind neu – und ein Stück lebendige Geschichte.«

»Wir machen einen Deal«, sagte Didier und hatte schnell einen Vorschlag parat. »Du bekommst Prozente, okay?«

»Die Rechte gehören dir«, sagte ich. »Mach ein paar Millionen mehr damit.«

Didier lachte und schüttelte mir die Hand. Dann umarmte er mich mit großer Geste. »Warum machst du mir so ein Geschenk? Du könntest damit reich werden!«

Ich dachte darüber nach und verfolgte die Kilmaron-Wellen, die stetig und wie von selbst an meinen Füßen vorbeitrieben.

»Sagen wir einfach«, ich überlegte kurz, »es dient meinem Seelenfrieden.«

Die Wissenschaft ist voll von solchen bizarren Zufällen, dass zwei oder mehr Leute dieselbe Entdeckung machen und zeitgleich zu einem übereinstimmenden Beweis, Axiom oder Theorem gelangen. Dass zwei schottische Ingenieure im Jahr 1834, ohne voneinander zu wissen, im Abstand von wenigen Wochen das Phänomen des turbulenten Wassers entdeckten und beide den Ruhm für sich beanspruchten, ist für die Wissenschaftsgeschichte kaum von Bedeutung. Durch Glück oder geographische Gegebenheiten kam Quarrie seinem Kollegen Kilmaron zuvor und konnte der Entdeckung einen Namen seiner Wahl geben: Andreas-Welle, nicht »Quarrie-Welle«, wohlgemerkt, und ich bin sicher, dass darin die Ursache von Kilmarons tiefer Verbitterung lag. Quarrie war ein reicher Mann – seine Bergwerkspumpe sollte ihn zum Millionär machen –, und als »Quarrie-Pumpe« war sie schon weltweit verbreitet. Wallace Kilmaron, der als unbekannter Techniker in den feuchten Niederungen von Südostholland arbeitete, hatte geglaubt, sich mit seiner Entdeckung einen Namen machen zu können. Aber seine Hoffnungen wurden jäh zerstört. Für manche Menschen, für manche zerbrechlichen Seelen, sind solche Enttäuschungen nicht zu verkraften.

 

»2. September. Cap Ferret. Ich sitze im Schatten dieser Strandhütte und schaue auf die anrollenden Brecher. Meine Fahrt an der Atlantikküste entlang, von Biarritz nach Norden, verläuft langsam und mit vielen Zwischenstationen wie dieser – und ich hoffe, glaube, rede mir ein, dass es vorbei ist, dass ich wieder der Alte bin.

Gestern Abend rief ich Stella an: ›Ich glaube, ich bin wieder gesund‹, erklärte ich ihr. ›Ich möchte nach Hause kommen.‹ Sie sagte Nein – sofort und eiskalt. Sie wolle mich nie wiedersehen, sie habe keine Lust auf neue Demütigungen. Ich erzählte ihr von Kilmaron, und sie lachte. ›Du armseliger Wicht‹, sagte sie. ›Zu glauben, dass du mich mit diesem Unsinn an der Nase herumführen kannst!‹ Wenn meine Geschichte über Wallace Kilmaron und wie ich seinen verderblichen Einfluss aus meinem Leben verbannt hatte also überhaupt etwas bewirkt hatte, dann höchstens, dass sie noch wütender wurde: ›Du bist krank‹, sagte sie voller Abscheu. ›Such dir Hilfe. Aber halte dich fern von mir und den Jungen.‹

Immer wieder geht mir der Gedanke durch den Kopf – während ich nach Antworten für das suche, was mir in den letzten Monaten passiert ist –, dass die Theorie der Kilmaron-Welle vielleicht von noch größerer Tragweite ist. So wie die Kilmaron-Welle eine nachhaltige physische Manifestation der Erinnerung an das Boot oder die Turbulenz ist, die es verursachte, so – vermute ich jetzt – könnten auch Menschen einen ähnlichen Effekt auslösen, eine Wellenwirkung, die sich durch die Zeit erstreckt.

Wallace Kilmaron starb in einem Zustand der Verbitterung und Enttäuschung, von Findlay Quarrie um seine kleine Portion Entdeckerruhm und wissenschaftliche Unsterblichkeit gebracht. Fand diese Turbulenz, diese Erschütterung seines Verstands, diese Manie, irgendeine Fortsetzung nach seinem Tod? Pflanzte sie sich im Strom der Zeit fort, um sich ein Ziel zu suchen? Nervenzusammenbruch, Midlife-Krise, Geisteskrankheit – das sind vielleicht nur verschiedene Namen für ein und dasselbe Phänomen. Mir kommt jetzt der Gedanke, dass wir alle, die wir Ähnliches erleiden, in Wirklichkeit auf ähnliche Weise heimgesucht werden, dass wir alle Opfer der Kilmaron-Wellen sind, die uns aus der Vergangenheit ereilen … Der Tod eines Menschen hat viele Auswirkungen und berührt uns in unmittelbarer Weise – Verlust, Trauer, Leid. Aber was, wenn die Auswirkungen darüber hinausgehen? Was, wenn die Turbulenz, die der plötzliche Abbruch eines Lebens erzeugt, andere Formen der Bewegung gebiert, andere Turbulenzen? … So wie sich das Wasser im Kanal an die Bewegungen des Lastkahns »erinnert«, erinnert sich vielleicht die Welt und die Zeit an die Turbulenzen im Leben gewisser Menschen. Und ich frage mich, wie viele Menschen Wallace Kilmaron seit 1840 geschädigt oder zerstört und damit ähnliche Ablehnung und ähnliche Missverständnisse provoziert hat, bis die Welle durch einen verrückten Zufall ausgerechnet über mich hereinbrach, und auch ich bin Ingenieur …

Wenn ich betrachte, was ich hier niedergeschrieben habe, wird mir klar, dass es als weiteres Indiz für mein Problem dienen könnte, für meine spezielle Art von Wahnsinn. Stella hielt es ganz offensichtlich für eine letzte, verzweifelte Lüge meinerseits, eine alberne Selbsttäuschung, um meine chronische Untreue und die damit verbundenen Verletzungen zu rechtfertigen. Aber ich spüre eine greifbare Veränderung in mir, während ich hier an der Atlantikküste sitze. Ich fühle mich ruhig, ich spüre, dass ich zu einer gewissen Erkenntnis gelangt bin. Die Kilmaron-Welle pflanzt sich fort – ohne Veränderung ihrer Form oder Verringerung ihrer Geschwindigkeit. Wie hatte es Auchinleck formuliert? ›Selbst das Denken ist ein Wellenphänomen.‹ Wenn die Wellenbewegung die Welt der subatomaren Teilchen beherrscht, warum nicht auch unser Leben? Oder das der Generationen über die Zeiten hinweg? Könnte dies, so frage ich mich, die Quelle aller unserer Heimsuchungen sein?

Bei unbarmherzig brennender Sonne sitze ich hier und schlürfe langsam mein Bier, schaue auf die grünen Wellen des Atlantiks, die in endloser Folge heranrollen. Die Frau, die diese Bar betreibt, spielt brasilianische Rockmusik. Sie hat eine schmächtige, aber muskulöse Figur und trägt ein blassblaues T-Shirt, das eng genug ist, um ihre kleinen BH-losen Brüste genau zu modellieren. Ihr Haar ist blond gefärbt. Sie lächelt zu mir herüber, hält die nächste betaute Bierflasche hoch. Ich schüttele den Kopf. Ich registriere all diese Einzelheiten, aber ich spüre nichts mehr. Das Bier, das ich trinke, hat die ideale Temperatur. Vom Ozean weht eine schwache Brise herüber. Und ich frage mich, ob ich endlich von Wallace Kilmaron befreit bin.«

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