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Die Blinde

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Die alte Dame rief nach mir mit ihrer gewaltigsten Donnerstimme und präsentierte sich mir in der allersauersten Laune. Grosse war nach London abgereist, ohne sich im Mindesten bei ihr zu entschuldigen und Oscar hatte ihren Tisch mit Büchern umgeworfen. Die durch diese beiden groben Insulten erweckte Entrüstung verlangte laut ein Opfer und ersah, da im Augenblick niemand Anderes in der Nähe war, mich zu demselben. Meine Tante fand zum ersten Mal, daß sie zu viel unternommen habe, als sie sich die alleinige Obhut ihrer Nichte in Ramsgate aufgebürdet.

»Ich kann unmöglich die ganze Verantwortlichkeit tragen,« sagte sie, »es ist in meinem Alter zu viel für mich. Ich werde Deinem Vater schreiben, Lucilla. Du weißt, ich habe ihn immer gehaßt und werde ihn immer hassen. Seine politischen und religiösen Ansichten sind bei einem Geistlichen geradezu verabscheuungswürdig. Aber er ist doch einmal Dein Vater und es ist nach dem, was der grobe Deutsche über Deine Gesundheit gesagt hat, meine Pflicht, ihm anzubieten, Dich wieder zu ihm zu bringen oder wenigstens seine ausdrückliche Genehmigung dazu einzuholen, daß Du noch länger unter meiner Obhut hierbleibst. Beides würde mich, wie Du siehst, meiner Verantwortlichkeit entheben. Meiner Stellung vergebe ich dadurch nichts. Meine Stellung ist mir ganz klar. Ich würde die Einladung Deines Vaters zu Deiner Hochzeit in aller Form angenommen haben, wenn die Hochzeit stattgefunden hätte. Daraus ergiebt es sich als selbstverständlich, daß ich Deinem Vater in aller Form berichten kann, wie der ärztliche Ausspruch über Deinen Gesundheitszustand lautet. Wie brutal derselbe auch geäußert worden sein mag, es war doch immer ein ärztlicher Ausspruch, den ich verpflichtet bin, Deinem Vater mitzutheilen.«

Da ich nur zu gut wußte, wie lebhaft mein Vater die Abneigung meiner Tante gegen ihn erwiderte, bot ich Alles auf, den Entschluß meiner Tante zu bekämpfen, ohne die Sache noch schlimmer zu machen, daß ich ihr meine wahren Motive mittheilte. Nicht ohne Schwierigkeit gelang es mir endlich, sie zu bewegen, mit dem beabsichtigten Bericht über mich noch ein paar Tage zu warten und wir schieden von einander, nachdem der Anfall von schlechter Laune bei meiner Tante wie gewöhnlich rasch vorüber gegangen war, wieder als gute Freunde.

Diese kleine Episode in der Geschichte des Abends lenkte meine Gedanken im Augenblick von Oscar’s sonderbarem Benehmen ab. Aber von dem Augenblick an, wo ich hier in meinem Zimmer allein war, habe ich bis jetzt fast unaufhörlich daran denken müssen und davon geträumt, so schreckliche Träume, daß meine Feder sich sträubt, sie niederzuschreiben. Wenn wir uns heute wiedersehen, wie wird er aussehen? was wird er sagen?

Er hatte gestern Recht. Ich bin wirklich kalt gegen ihn; mit meinen Gefühlen für ihn ist eine Veränderung vorgegangen, die ich selbst nicht verstehe. Mein Gewissen klagt mich jetzt, wo ich allein bin, an, und doch ist es, Gott weiß es, nicht meine Schuld. Wie beklage ich Oscar, wie beklage ich mich selbst.

Noch nie, so lange wir hier vereint sind, habe ich mich so nach ihm gesehnt, wie in diesem Augenblick. Er kommt bisweilen zum ersten Frühstück; wird er es heute thun?

O, wie mich meine Augen schmerzen, und wie der Nebel nicht aus dem Zimmer weichen will. Wie wäre es, wenn ich das Fenster schlösse und mich noch eine Weile wieder in’s Bett legte?

Neun Uhr Morgens. Vor einer halben Stunde, kam die Jungfer in’s Zimmer und weckte mich. Sie wollte wie gewöhnlich das Fenster öffnen. Ich hielt sie zurück.

»Ist der Nebel fort?« fragte ich.

Das Mädchen sah mich erstaunt an. »Was für ein Nebel, Fräulein?«

»Haben Sie ihn nicht gesehen?«

»Nein, Fräulein.«

»Wann sind Sie denn aufgestanden?«

»Um sieben Uhr, Fräulein.« .

Um sieben Uhr schrieb ich noch an meinen Tagebuch und der Nebel lag noch auf allen Gegenständen im Zimmer. Personen niedrigen Standes achten meistens merkwürdig wenig auf die sie umgebende Natur. In den Tagen meiner Blindheit konnte ich von Dienstboten und Arbeitern nie eine befriedigende Auskunft über die Aussichten um Dimchurch erhalten. Sie schienen für nichts, was außerhalb ihrer Küche oder ihres sonstigen Arbeitsfeldes lag, ein Auge zu haben. Ich stand auf, führte das Mädchen selbe an’s Fenster und öffnete dasselbe.

»Da sehen Sie,« sagte ich. »Der Nebel ist nicht ganz so dick mehr wie vor einigen Stunden. Aber er liegt doch immer noch deutlich da.«

Das Mädchen blickte ganz erstaunt hin und her zwischen mir und der Aussicht vor uns.

»Nebel?« wiederholte sie. »Bitte um Vergebung, Fräulein, aber so viel ich sehen kann, ist es ein schöner klarer Morgen.

»Klar?« wiederholte ich meinerseits.

»Ja, Fräulein.«

»Wollen Sie damit sagen, die Aussicht auf die See sei klar?«

»Die See ist schön blau, Fräulein und die Aussicht ganz frei; man kann ja die Schiffe sehen.«

»Wo sind Deine Schiffe?

Sie deutete zum Fenster hinaus auf einen bestimmten Fleck.

»Da sind zwei, Fräulein. Ein großes Schiff mit drei Marien und dicht dahinter ein kleines Schiff mit einem Mast.«

Ich sah ihrem Finger nach und strengte meine Augen an. Alles was ich an der von dem Mädchen als den Platz der Schiffe bezeichneten Stelle entdecken konnte, war ein trüber grauer Nebel, mit etwas wie einem kleinen blauen Fleck darauf.

Zum ersten Mal fuhr mir der Gedanke durch den Kopf, daß die Trübung, die ich dem Nebel zugeschrieben, wohl in Wahrheit in meinen Augen liegen möge. Im ersten Augenblick war ich ein wenig erschrocken. Ich trat vom Fenster zurück und erklärte dem Mädchen meinen Irrthum so gut ich konnte. Ich schickte sie dann, sobald ich konnte, fort, wusch meine Augen mit einem von Grosse verordneten Augenwasser und versuchte es wieder, an meinem Tagebuch weiter zu arbeiten. Zu meinem Trost geht es jetzt besser als vorhin. Aber doch will ich mir diese Erfahrung zur Warnung dienen lassen, Grosse’s Vorschriften etwas strenger zu beobachten, als ich es bisher gethan habe.Sollte er an meinen Augen etwas bemerkt haben, was er mir zu sagen Anstand genommen hätte? Unsinn! Grosse ist nicht der Mann, sich vor einem offenen Ausspruch zu scheuen. Ich habe meine Augen nur ein wenig zu sehr angestrengt, das ist das Ganze. Ich will mein Tagebuch schließen und zum Frühstück hinuntergehen.

Zehn Uhr Vormittags. Ich muß mein Tagebuch noch einen Augenblick wieder öffnen.

Es hat sich etwas ereignet, was ich nothwendig in diese Erzählung der Geschichte meines Lebens eintragen muß. Ich bin so verdrießlich und so aufgebracht. Die Jungfer, diese dumme Schwatzliese, hat meiner Tante erzählt, was heute morgen zwischen ihr und mir an meinem Fenster Vorgegangen ist. Meine Tante hat das sofort beunruhigt und sie bestand darauf, nicht nur an Grosse, sondern auch an meinen Vater zu schreiben. Bei seiner gereizten Stimmung gegen meine Tante wird mein Vater ihren Brief entweder unbeantwortet lassen oder sie durch eine unartige Antwort beleidigen. In beiden Fällen werde ich der leidende Theil sein; meine Tante wird sich für die Beleidigung meines Vaters, den sie nicht erreichen kann, an mir rächen. Nervös und verstimmt, wie ich es bereits bin, macht mich die Aussicht, mich in einen neuen Familienstreit verwickelt zu sehen, ganz elend. Wenn ich daran denke, ergreift mich die Lust, meiner Tante undankbarer Weise zu entlaufen.

Noch immer keine Spur und keine Nachrichten von Oscar.

Mittags zwölf Uhr. – Es bedurfte nur noch einer Prüfung, um mein Leben hier ganz unerträglich zu machen, und diese Prüfung ist jetzt gekommen.

Eben übergab mir ein Bote aus dem Hotel einen Brief von Oscar. Er theilt mir darin mit, daß er beschlossen habe, Ramsgate mit dem nächsten Zuge zu verlassen. Der nächste Zug geht in vierzehn Minuten ab. Guter Gott! Was soll ich thun!

Meine Augen brennen. – Ich weiß, es schadet ihnen, wenn ich weine. Aber wie kann ich umhin, zu weinen? Wenn ich Oscar fortgehen lasse, so ist es zwischen uns vorbei, das sagt mir sein Brief deutlich genug.« Warum bin ich so kalt gegen ihn gewesen? Es wäre nicht zu viel, wenn ich ihm meine ängstlichen Rücksichten zum Opfer brächte, um das wieder gut zu machen. Und doch schreckt etwas in mir beharrlich davor zurück. Was soll ich thun? Was soll ich thun?

Ich muß die Feder hinlegen und versuchen, ob ich denken kann. Meine Augen versagen mir völlig ihren Dienst. Ich kann nicht mehr schreiben.«

(Anmerk. Ich will hier eine Abschrift des Briefes hersetzen, von welchem Lucilla spricht.

Nugent selbst behauptet, er habe denselben in einem Augenblick der Reue geschrieben, um ihr eine Gelegenheit zu geben, das Wort zu brechen, durch welches sie sich unschuldiger weise gegen ihn verpflichtet glaubte. Er erklärt, er habe, als er den Brief schrieb, aufrichtig geglaubt, sie werde sich durch denselben beleidigt fühlen. Eine andere Erklärung des Briefes ist die, daß Nugent, als er sich genöthigt sah, Ramsgate zu verlassen, wenn er sich nicht der Gefahr aussetzen wollte, von Grosse bei dessen Rückkehr am nächsten Tage als Betrüger bloßgestellt zu werden, die Gelegenheit ergriff und seine Abwesenheit als Mittel benutzte, um Lucilla zu bewegen, ihn nach London zu begleiten. Man frage mich nicht, welche von diesen beiden Auffassungen ich mir zu eigen mache. Aus Gründen, die der Leser verstehen wird, wenn er meine Erzählung zu Ende gelesen haben wird, möchte ich meine Ansicht hier lieber noch nicht aussprechen.

Man lese den Brief und entscheide selbst:

»Meine theuerste Lucilla.<7p>

Nach einer schlaflosen Nacht habe ich beschlossen, Ramsgate mit dem nächsten Zuge zu verlassen, der unmittelbar, nachdem Du diesen Brief erhalten haben wirft, abgeht. Der gestrige Abend hat mich überzeugt, daß meine Gegenwart hier Dich, nach dem, was ich Dir aus dem Hafendamme gesagt habe, unglücklich macht. Irgend ein geheimer Einfluß, der zu mächtig ist, als daß Du ihm widerstehen könntest, hat mir Dein Herz abwendig gemacht. Wenn die Zeit gekommen sein wird, wo Du Dich zu entscheiden haben wirst, ob Du unter den von mir proponirten Bedingungen mein Weib werden willst, so wirst Du, das sehe ich nur zu deutlich voraus, »Nein« sagen. Laß mich Dir die Sache weniger schwer machen, mein geliebtes Kind, indem ich es Dir überlasse, das entscheidende Wort zu schreiben, anstatt es gegen mich auszusprechen. Wenn Du Deine Freiheit wieder zu erhalten wünschest, so will ich Dich, es koste mich, was es wolle, von Deinem Worte entbinden. Ich liebe Dich zu innig, um Dich deshalb zu tadeln. Meine Adresse in London steht auf der Rückseite. Lebe wohl!

 
Oscar.«

Die auf der nächsten Seite stehende Adresse ist die eines Hotels.

In dem Tagebuch folgen auf die letzten eben mitgetheilten Zeilen noch einige weitere. Aber bis auf einige vereinzelte Worte ist es unmöglich, die Schrift zu entziffern. Die nachtheilige Wirkung auf ihre Augen, welche ihr unvorsichtiger Gebrauch derselben, ihr krampfhaftes Weinen, ihre unruhigen Nächte und die fortwährende durch Aufregung und Ungewißheit hervorgerufene Spannung geübt haben, hat offenbar die schlimmste jener unausgesprochenen Befürchtungen, welche Grosse bei ihrem Anblick hegte, gerechtfertigt. Die Handschrift, in welcher ihre letzten Zeilen geschrieben, ist positiv schlechter, als ihr schlechtestes Schreiben in den Tagen ihrer Blindheit.

Indessen ist der Entschluß, den sie nach Empfang, des vorstehenden Briefes faßte, hinreichend ersichtlich aus einem Billet von Nugent’s Hand, welches ein Gepäckträger der Eisenbahn in Fräulein Batchford’s Wohnung abgab. Spätere Ereignisse machen es nothwendig, dem Leser auch dieses Billet mitzutheilen. Es lautet wie folgt:

»Gnädige Frau!

Ich schreibe Ihnen auf Lucilla’s Wunsch, um Sie zu bitten, sich nicht zu ängstigen, Wenn Sie finden, daß Ihre Nichte Ramsgate verlassen hat. Sie begleitet mich auf meine ausdrückliche Bitte nach dem Hause einer Verwandten von mir, einer verheiratheten Frau, unter deren Obhut sie bis zu unserer Verheirathung bleiben wird. Die Gründe, welche sie zu diesem Schritt veranlaßt haben und welche sie nöthigen, ihren neuen Aufenthaltsort für jetzt geheim zu halten, werden wir Ihnen und ihrem Vater am Tage unserer Hochzeit offen mittheilen. Inzwischen bittet Lucilla Sie, ihre plötzliche Abreise zu entschuldigen und diesen Brief an ihren Vater zu befördern. Sie beide werden sich hoffentlich erinnern, daß sie mündig ist und daß sie nur ihre Heirath mit einem Manne beschleunigt, mit dem sie mit Genehmigung ihrer Familie schon lange verlobt ist.

Ihr ganz ergebener

Oscar Dubourg«

Dieser Brief wurde Fräulein Batchford beim zweiten Frühstück fast in demselben Augenblick übergeben, wo die Magd ihrer Herrin gemeldet hat, daß das Fräulein nirgends zu finden sei und daß ihr Reisesack aus ihrem Zimmer verschwunden sei. Der Zug nach London war bereits um diese Zeit fort. Fräulein Batchford, die kein Recht hatte, einzuschreiten, beschloß nach einer Berathung mit einem Freunde sofort nach Dimchurch zu reisen und die Sache in Herrn Finch’s Hände zu legen.

Fünftes Kapitel.
Das italiensche Dampfboot

Lucilla’s Tagebuch hat dem Leser alles das mitgetheilt, was Lucilla mitzutheilen im Stande war. Der Leser gestatte mir nun, meine Erzählung selbst wieder aufzunehmen. Soll ich, wie der beliebte englische Clown, der alljährlich in Eurer barbarischen englischen Pantomine wieder erscheint, sagen: »Da bin ich wieder! Wie geht es Euch?« Nein, das will ich lieber bleiben lassen. Euer Clown ist einer Eurer nationalen Institutionen und mit dieser geheimnißvollen Quelle englischer Belustigung soll kein Fremder sich einfallen lassen zu spaßen.

Ich kam in Marseille, wenn ich nicht irre, am 15. August an.

»Ich darf nicht auf die Sympathie des Lesers für meinen guten Papa rechnen. Ich will über Alles, was dieses ehrwürdige Opfer der liebenswürdigen Täuschungen des Herzens betrifft, so rasch hinweggehen, wie mein kindlicher Respect und meine Liebe es irgend gestatten. Das Duell, dessen der Leser sich hoffentlich noch erinnert, war ein Pistolenduell gewesen, und die Kugel, die meinen Vater getroffen hatte, war noch nicht herausgezogen, als ich an seinem Krankenbette eintraf. Er lag im Fieber und erkannte mich nicht. Zwei Tage später zog der behandelnde Arzt die Kugel heraus. Eine Weile befand sich mein Vater in Folge dessen besser, – dann trat ein Rückfall ein. Am 1. September durften wir wieder hoffen, ihn noch am Leben erhalten zu sehen. Erst an diesem Tage war ich endlich ruhig genug, um wieder an Lucilla zu denken und mich der freundlichen Bitte Frau Finch’s zu erinnern, ihr von Marseille aus zu schreiben.

Ich schrieb kurz und erzählte der feuchten Pfarrersfrau, nur etwas ausführlichen was ich hier eben mitgetheilt habe. Mein Hauptzweck dabei war, wie ich bekenne, durch Frau Finch Nachrichten von Lucilla zu erhalten. Nachdem ich den Brief auf die Post gebracht, ging ich an die Erfüllung einer anderen Pflicht, welche ich vernachlässigt hatte, so lange mein Vater in Lebensgefahr schwebte. Ich ging zu dem Mann, an welchen mein Advocat mich empfohlen hatte, um die Nachforschungen nach Oscar ins Werk zu setzen, welche ich anstellen zu lassen beschlossen hatte, als ich London verließ. Der Mann stand in Verbindung mit der Polizei in der Eigenschaft eines nicht officiell anerkannten, aber gleichwohl mit wichtigen Aufträgen betrauten geheimen Agenten.

Als er von mir hörte, wie viel Zeit verflossen sei, ohne daß die leiseste Spur des Entflohenen aufgefunden sei, machte er ein sehr bedenkliches Gesicht und erklärte mir geradeheraus, er zweifle, ob er mein in ihn gesetztes Vertrauen rechtfertigen und mir von dem geringsten Nutzen werde sein können. Als er aber sah, daß ich ernstlich entschlossen sei, keine Anstrengung zu scheuen richtete er eine letzte Frage in folgenden Ausdrücken an mich:

»Sie haben mir den Herrn noch nicht beschrieben. Will es vielleicht ein glücklicher Zufall, daß seine persönliche Erscheinung etwas Auffallendes hat?«

»Etwas sehr Auffallendes antwortete ich.

»Beschreiben Sie es mir gefälligst genau, Madame.«

Ich beschrieb Oscars Hautfarbe. Mein vortrefflicher geheimer Agent legte, während er mir zuhörte, ein ermuthigendes Interesse an den Tag. Er trug die ausgesuchteste Toilette und hatte die Manieren eines Prinzen. Es war eine besondere Gunst, wenn man zu einer persönlichen Besprechung zu ihm zugelassen wurde.

»Wenn der Vermißte mit einem so auffallenden Gesicht durch Frankreich gereist ist,« sagte er, »so haben wir alle Aussicht, seine Spur aufzufinden. Ich will vorläufige Nachforschungen an der Eisenbahnstation auf dem Bureau des Dampfschiffes und am Hafen anstellen lassen. Sie sollen morgen das Ergebniß hören.«

Ich kehrte vorläufig befriedigt an das Krankenbett meines guten Vaters zurück.

An dem nächsten Tage beehrte mich mein geheimer Agent mit einem Besuch.

»Bringen Sie mir Nachrichten?« fragte ich.

»Allerdings, Madame. Der Commis auf dem Bureau des Dampfboots erinnert sich sehr gut, ein Billet an einen Fremden mit einem schrecklichen blauen Gesicht verkauft zu haben. Unglücklicherweise erinnert er sich anderer Umstände nicht mehr. Er kann sich weder auf den genauen Namen des Fremden noch auf den Ort, wohin sich derselbe einschiffte, besinnen. Wir können nur soviel sagen, daß er sich nach einem italienischen oder nach einem orientalischen Hafen eingeschifft haben muß. Weiter wissen wir bis jetzt nichts.«

»Und was gedenken Sie demnächst zu thun?« fragte ich.

»Ich möchte, wenn Sie damit einverstanden sind, zunächst Telegramme mit einer personellen Beschreibung des Herrn nach den verschiedenen italienischen Hafenorten abschicken. Wenn uns das zu keiner Auskunft verhilft, müssen wir es demnächst mit den orientalischen Hafenorten versuchen. Das sind die Vorschläge, die ich Ihrer Erwägung zu unterbreiten die Ehre habe. Sind Sie damit einverstanden?«

Ich stimmte von ganzem Herzen zu, und wartete das Ergebniß mit aller mir zu Gebote stehenden Geduld ab.

Der nächste Tag ging vorüber, ohne daß sich irgend etwas ereignete. Mit meinem armen Vater ging es sehr langsam vorwärts. Das elende Weib, die das Unglück herbeigeführt hatte, und die mit seinem Gegner davon gelaufen war, beschäftigte seine Gedanken fortwährend, regte ihn auf und verzögerte seine Genesung. Warum darf ein nichtswürdiges Wesen dieser Art, ein erbarmungsloses, verrätherisches, gieriges Ungeheuer in weiblicher Gestalt frei in der Welt umher laufen. Man sperrt eine arme Tigerin die uns nur frißt, wenn sie hungrig ist und keine Nahrung für ihre Jungen hat, in einen Käfig und man läßt jene anderen viel gefährlicheren Bestien unter dem Schutz des Gesetzes frei umherlaufen. Das kommt auch davon, daß Männer die Gesetze machen. Aber einerlei, die Frauen brechen sich Bahn. Wartet nur ein wenig; die zweibeinigen Tigerinnen werden schlimme Tage bekommen wenn wir erst im Parlament sitzen.

Am 4. September schrieb mir der geheime Agent. Er konnte schon weitere Nachrichten über Oscar mittheilen. Der Mann mit dem blauen Gesicht war in Genua gelandet, wo man seine Spur bis nach dem Bahnhof der Turiner Eisenbahn verfolgt hatte. In Folge dessen waren in Turin weitere Nachforschungen auf telegraphischem Wege angestellt worden. Inzwischen sollten für den möglichen Fall, daß der Vermißte über Marseille nach England zurückkehren würde, erfahrene mit seiner Personalbeschreibung desselben versehene Männer an verschiedenen öffentlichen Plätzen postiert und beauftragt werden alle zu Lande oder zu Wasser ankommenden Reisenden genau anzusehen und mir, falls der Betreffende ihnen vorkäme, sofort Bericht erstatten. Abermals unterbreitete mein geheimer Agent mit den vornehmen Manieren dieses Verfahren meiner Erwägung und Genehmigung, und erhielt dieselbe, und meine Bewunderung noch in den Kauf.

Die Tage vergingen und der Zustand unseres guten Papa war noch immer schwankend, bald besser, bald schlimmer.

Meine armen Schwestern vermochten die Angst und Sorge nicht zu ertragen. Die ganze Last fiel wie gewöhnlich mir zu. Tag für Tag schien meine Aussicht, nach England zurückzukehren, weiter in die Ferne gerückt zu werden. Keine Zeile Antwort erhielt ich von Frau Finch. Das machte mich schon an und für sich nervös und aufgeregt. Lucilla kam mir jetzt fast nie aus den Gedanken. Wieder und wieder fühlte ich mich durch meine Besorgniß gedrängt, es darauf zu wagen und ihr zu schreiben. Aber immer stellte sich mir dabei dasselbe Hinderniß in den Weg. Nach dem, was zwischen ans vorgefallen, war es unmöglich für mich, ihr direct zu schreiben, ohne mir vorher ihre Achtung wieder verschafft zu haben. Das aber konnte ich nur, wenn ich auf Einzelheiten einging, deren Enthüllung ich noch immer für grausam und gefährlich halten mußte.

An Fräulein Batchford mochte ich nicht wieder schreiben, nachdem ich schon vor meiner Abreise von England die Geduld der alten Dante durch einen Brief auf die Probe gestellt hatte. Wenn ich das jetzt noch einmal that, ohne bessere Entschuldigungen, als die mir meine Besorgnisse an die Hand gaben, so mußte ich fürchten, daß diese Royalistin vom reinsten Wasser meinen Brief in’s Feuer werfen, und die republikanische Briefstellerin durch verächtliches Schweigen für ihre Gesinnung strafen würde. Grosse war die dritte und letzte Person, von der ich hoffen durfte, Nachrichten zu erhalten. Aber – soll ich es bekennen? – ich konnte nicht wissen, was Lucilla ihm über unsere Entfremdung mitgetheilt haben mochte und mein Stolz – man vergesse nicht, daß ich eine blutarme Fremde bin – sträubte sich dagegen, mich einer möglichen Zurückweisung auszusetzen.

Gegen den zwölften September fing ich an, meine Ungewißheit so peinlich zu empfinden und von Zweifeln über dass was Nugent in meiner Abwesenheit unternehmen möchte, so entsetzlich gequält zu werden, daß ich beschloß, auf alle Gefahr hin an Grosse zu schreiben. Es war doch möglich und das Tagebuch zeigt, daß ich doch richtig vermuthete, daß Lucilla ihm nur von meiner traurigen Reise nach Marseille und nichts weiter erzählt hatte.

Ich hatte eben meinen Schreibtisch geöffnet, als der Arzt meines Vaters in’s Zimmer trat und mir die frohe Botschaft brachte, daß er jetzt endlich für die Herstellung unseres guten Papa einstehen könne.

»Kann ich nach England zurückreisen?« fragte ich eifrig.

»Noch nicht, Sie sind seine Lieblingswärterin; Sie müssen ihn allmählig an den Gedanken Ihres Fortgehens gewöhnen. Ihre plötzliche Abreise könnte einen Rückfall bewirken.«

 

»Ich werde nicht plötzlich abreisen. Nur sagen Sie mir, bitte, sobald ich beruhigt, vollkommen beruhigt fortgehen kann.«

»Nun, ich denke in acht Tagen.«

»Am achtzehnten?«

»Gewiß.«

Ich schloß meinen Schreibtisch. Ich durfte jetzt hoffen, in wenigen Tagen, so rasch wie ich Grosse’s Antwort in Marseille hätte erhalten können, wieder in England zu sein. Unter diesen Umständen erschien es mir richtiger, zu warten, bis ich meine Nachforschungen sicher und persönlich würde anstellen können. Eine Vergleichung der Daten zeigt, daß es, auch wenn ich an den deutschen Arzt geschrieben hätte, zu spät gewesen wäre. Wir schrieben den elften und Lucilla hatte Ramsgate mit Nugent am fünften verlassen.

Während dieser ganzen Zeit wurden unsere Nachforschungen nach Oscar nur durch eine sehr dürftige Nachricht belohnt und selbst diese dürftige Nachricht schien mir unglaubwürdig.

Es wurde behauptet, daß er in einem Milltärhospital, dem Alexanderhospital in Piemont gesehen worden sei, und zwar, hieß es glaube ich, als Krankenpfleger bei den in dem italienisch-französischen Feldzuge gegen Oesterreich Verwundeten. (Meine Erzählung spielt, wie man sich erinnern wird, im Jahre 1859. Die Beschäftigung als Krankenwärter in einem Hospital schien mir so durchaus nicht zu Oscar’s Wesen und Neigungen zu stimmen, daß ich diese Nachricht für entschieden falsch hielt.)

Am siebzehnten September hatte ich meinen Paß in Ordnung bringen lassen, und hatte bereits den größten Theil meiner Sachen für die Reise nach England, die ich am nächsten Tage antreten wollte, gepackt.

Trotz meiner sorgfältigsten Bemühungen, meinen armen Vater an die Idee meiner Abreise zu gewöhnen, wollte er doch so durchaus nichts davon hören, mich von sich zu lassen, daß ich mich genöthigt sah, in eine Art Compromiß zu willigen. Ich versprach ihm, wenn mein Geschäft in England erledigt sein würde, wieder nach Marseille zu kommen und ihn dann, sobald er im Stande sein würde, die Reise zu unternehmen, nach Paris zurückzubringen. Unter dieser Bedingung erwirkte ich mir von ihm Erlaubniß abzureisen. Arm wie ich war, wollte ich mir doch unendlich viel lieber die Kosten der doppelten Reise machen, als noch länger ohne Nachrichten von dem sein, was je nach Umständen in Ramsgate oder in Dimchurch vorgehe. Ich weiß nicht, was mich jetzt, nachdem ich der Sorge für meinen Vater überhoben war, mehr quälte, mein Verlangen, mich mit meiner schwesterlichen Freundin wieder zu versöhnen, oder meine unbestimmte Furcht vor dem Unheil, das Nugent in meiner Abwesenheit angerichtet haben würde. Wieder und wieder fragte ich mich, ob Fräulein Batchford wohl meinen Brief Lucilla gezeigt habe. Wieder und wieder beschäftigte mich der Gedanke, ob es mir vergönnt gewesen sein werde, Nugent in seiner wahren Gestalt zu zeigen und Oscar doch schließlich für Lucilla zu erhalten.

Am siebzehnten Nachmittags ging ich allein aus, um ein wenig frische Luft zu schöpfen und mir · die Läden in der Stadt anzusehen. Für eine Frau, gleichviel wer oder was sie ist, hoch oder niedrig, schön oder häßlich, jung oder alt, ist es immer eine Herzerquickung, in die Schaufenster der Läden zu sehen.

Ich war noch nicht fünf Minuten auf der Straße, als ich meinem vornehmen geheimen Agenten begegnete.

»Haben Sie etwas Neues für mich?« fragte ich.

»Noch nicht.«

»Noch nicht?« wiederholte ich. »Erwarten Sie denn Nachrichten?«

»Wir erwarten diesen Nachmittag die Ankunft eines italienischen Dampfers,« erwiderte der geheime Agent. »Wer weiß, was passirt.«

Er verneigte sich gegen mich und ging fort. Die durch seine Mittheilung eröffnete Aussicht gewährte mir nicht viel Trost. So viele Dampfer waren in Marseille eingetroffen, ohne irgend eine Nachricht von dem Vermißten zu überbringen, daß ich auf die Ankunft des italienischen Schiffes nicht sehr viel Werth legte. Indessen hatte ich nichts zu thun, wollte nur spazieren gehen und dachte, ich könne ebenso gut nach dem Hafen hinunterschlendern und das Schiff ankommen sehen. Das Schiff lief eben in den Hafen ein, als ich am Landungsplatz anlangte.

Ich fand den von mir angestellten Mann auf seinem Posten und damit beschäftigt, die ankommenden Reisenden genau in Augenschein zu nehmen. Seinem Einflusse gelang es, mir, allen Vorschriften des peinlichen französischen Reglements, welches alle Freiheit der Bewegung untersagt, zum Trotz einen Platz in dem Raum im Zollhause zu verschaffen, durch welches die mit dem Dampfboot ankommenden Reisenden passiren mußten. Ich nahm sein höfliches Anerbieten dankbar an, nur weil ich froh war, nach meinem Spaziergang sitzen und mich an einem ruhigen Platz ausruhen zu können, ohne es auch nur im Mindesten für möglich zu halten, daß mein Gang nach dem Hafen zu irgend etwas führen könne.

Nach einer langen Pause fingen die Passagiere an in den Raum zu strömen. Nachdem ich mir das erste halbe Dutzend Fremde, die kamen, gleichgültig angesehen hatte, fühlte ich mich plötzlich hinten an der Schulter berührt. Da stand unser Mann in einem Zustande unbeschreiblicher Aufregung und bat mich, mich zu beruhigen.

Da ich schon vollkommen beruhigt war, so sah ich ihn erstaunt an und fragte:

»Warum?«

»Er ist da, rief der Mann, »sehen Sie nur!’

Er deutete auf die noch massenweise in’s Zimmer eindringenden Fremden. Ich sah hin, verlor aber alsbald den Kopf und fuhr mit einem Schrei auf, der die Augen aller Anwesenden auf mich lenkte. Ja! da war das liebe, arme, entstellte Gesicht, da war Oscar selbst, auch seinerseits bei meinem Anblick wie vom Blitz getroffen.

Ich riß ihm die Schlüssel seines Koffers aus der Hand und gab dieselben unserm Mann, der es übernahm, den Koffer auf dem Zoll revidiren zu lassen und ihn nachher nach meiner Wohnung zu bringen. Ich ergriff Oscar’s Arm, bahnte mir mit ihm einen Weg durch die Menge, trat hinaus und rief einen am Hafengitter haltenden Fiaker an. Die Leute, die meine Aufregung bemerkten, flüsterten einander mitleidig zu: »Das ist die Mutter des blauen Mannes!’ Das dumme Volk! Sie hätten doch wohl sehen können, daß ich nach meinem Alter nur seine Schwester sein könne.

Als wir endlich im Wagen saßen, konnte ich wieder Athem schöpfen und Oscar für alle die Angst, die er mir bereitet hatte, durch einen Kuß belohnen. Ich hätte ihm tausend Küsse geben können. Von Staunen überwältigt, war er ein willenloses Geschöpf in meinen Händen. Er wiederholte nur mit schwacher Stimme immer wieder: »Was hat das zu bedeuten? Was hat das zu bedeuten?«

»Es hat zu bedeuten, Sie böser Mensch, daß Sie Freunde haben, die thöricht genug sind, Sie zu lieb zu haben, um Sie aufzugeben,« sagte ich. »Sie werden morgen mit mir nach England reisen, und selbst sehen, ob Lucilla nicht eine Andere geworden ist.«

Die Erwähnung Lucilla’s brachte ihn wieder zur Besinnung. Er fing an, die Fragen zu thun, die sich ihm unter den obwaltenden Umständen naturgemäß aufdrängen mußten. Da ich auch meinerseits eine Menge von Fragen an ihn zu richten hatte, erzählte ich ihm ganz kurz, was mich nach Marseille geführt und was ich während meines Aufenthalte in dieser Stadt gethan habe, um seinen Zufluchtsort zu ermitteln.

Als er mich dann nach einem Moment inneren Kampfes fragte. was ich ihm über Nugent und Lucilla mittheilen könne, zauderte ich, wie ich bekennen muß, mit der Antwort. Ein Moment der Erwägung genügte jedoch, mich für eine offene Erklärung zu entscheiden, aus dem einfachen Grunde, daß die kurze Erwägung mir die Sorgen und Unannehmlichkeiten vor die Seele führte, welche wir bereits dem Verheimlichen der Wahrheit zu verdanken hatten. Ich erzählte Oscar rückhaltslos Alles, was ich hier berichtet habe, von meiner abendlichen Zusammenkunft mit Nugent in Browndown bis zu den Vorsichtsmaßregelm die ich zum Schutz Lucilla’s für die Zeit, die sie unter der Obhut ihrer Tante leben würde, ergriffen hatte.

Es interessierte mich lebhaft, den Eindruck zu beobachten, den diese Enthüllungen auf Oscar hervorbrachten. Ich kam zu zwei Schlüssen: Erstens, daß Zeit und Abwesenheit an der Liebe des armen Jungen zu Lucilla nicht das mindeste geändert hatten, und zweitens, daß nur die bündigsten Beweise ihn von der Richtigkeit meines ungünstigen Urtheils über den Charakter seines Bruders überzeugen würden. Vergebens erklärte ich ihm, daß Nugent England mit dem feierlichen Versprechen verlassen habe, ihn aufzusuchen, und daß er es; wie der Verlauf der Dinge bewiesen, mir überlassen habe, ihn zu finden. Er gestand zu, daß er nichts von Nugent weder gesehen noch gehört habe. Nichtsdestoweniger ließ er sich in seinem Vertrauen zu seinem Bruder nicht erschüttern. »Nugent ist die Ehrenhaftigkeit selber,« wiederholte er immer wieder und warf mir dabei einen Blick zu, der mir zeigte, daß ich ihn durch meine offen ausgesprochene Ansicht über seinen Bruder verletzt und beleidigt habe.