Buch lesen: «Холодное сердце. Уровень 1 / Das kalte Herz»
Wilhelm Hauff
Das kalte Herz
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© Матвеев С. А., адаптация текста, комментарии, упражнения и словарь, 2023
© ООО «Издательство АСТ», 2023
1
Wer durch Schwaben1 reist, der sollte nie vergessen, auch ein wenig in den Schwarzwald hineinzuschauen. Die Leute hier unterscheiden sich von den andern Menschen. Sie sind größer als gewöhnliche Menschen. Sie sind breitschultrig, von starken Gliedern, und mutiger als gewöhnliche Bewohnern der Stromtäler und Ebenen. Und auch durch ihre Sitten und Trachten sondern sie sich von den Leuten, die außerhalb des Waldes wohnen, streng ab.
Die Bewohner des Schwarzwaldes kleiden sich am schönsten. Die Männer haben den Bart. Ihre schwarzen Wämser2, ihre ungeheuren, enggefalteten Pluderhosen3, ihre roten Strümpfe und die spitzen Hüte, von einer weiten Scheibe umgeben, verleihen ihnen etwas Ernstes, Ehrwürdiges.
Dort beschäftigen sich die Leute gewöhnlich mit Glasmachen; auch verfertigen sie Uhren.
Auf der andern Seite des Waldes wohnt ein Teil desselben Stammes. Aber sie handeln mit ihrem Wald. Sie fällen und behauen ihre Tannen. Sie flößen sie durch die Nagold in den Neckar4 und von dem oberen Neckar den Rhein hinab5, nach Holland. Ihre langen Flöße halten an jeder Stadt. Sie handeln ihre stärksten und längsten Balken und Bretter.
Diese Menschen nun sind an ein rauhes, wanderndes Leben gewöhnt. Und ihr Prachtanzug ist verschieden von dem der Glasmänner im andern Teil des Schwarzwaldes. Sie tragen Wämser von dunkler Leinwand, einen handbreiten grünen Hosenträger über die breite Brust, Beinkleider von schwarzem Leder6. Aus deren Tasche ein Zollstab von Messing hervorschaut. Ihr Stolz und ihre Freude aber sind ihre Stiefel. Sie können damit in drei Schuh tiefem Wasser umherwandeln, ohne sich die Füße naß zu machen.
Noch vor kurzer Zeit glaubten die Bewohner dieses Waldes an Waldgeister. Und auch die Waldgeister, die im Schwarzwalde hausen, in diese verschiedenen Trachten sich geteilt haben. Das Glasmännlein, ein gutes Geistchen von dreieinhalb Fuß Höhe, war in einem spitzen Hütlein mit großem Rand, mit Wams und Pluderhöschen und roten Strümpfchen. Der Holländer-Michel7 aber, der auf der anderen Seite des Waldes umgeht, war ein riesengroßer, breitschultriger Kerl in der Kleidung der Flözer. Seine Stiefel waren so groß, dass ein gewöhnlicher Mann bis an den Hals hineinstehen könnte.
Mit diesen Waldgeistern hatte ein junger Schwarzwälder eine sonderbare Geschichte, die ich erzählen will. Es lebte nämlich im Schwarzwald eine Witwe, Frau Barbara Munk. Ihr Gatte war Kohlenbrenner. Nach seinem Tode hielt sie ihren sechzehnjährigen Knaben nach und nach zu demselben Geschäft an.
Der junge Peter Munk, ein schlanker Bursche, saß die ganze Woche über am rauchenden Meiler, schwarz und berußt. Dann fuhr er in die Städte und verkaufte seine Kohlen. Aber ein Köhler hat viel Zeit zum Denken. Wenn Peter Munk an seinem Meiler saß, stimmten die dunklen Bäume umher und die tiefe Waldesstille sein Herz zu Tränen und unbewusster Sehnsucht.
Es betrübte ihn etwas, es ärgerte ihn etwas, er wusste nicht recht was. Endlich merkte er sich ab, was ihn ärgerte. Das war sein Stand.
«Ein schwarzer, einsamer Kohlenbrenner!» sagte er sich. «Es ist ein elend Leben. Wie angesehen sind die Glasmänner, die Uhrmacher, selbst die Musikanten am Sonntag abends! Abe ich!.. Ach, ich bin nur der Kohlenmunk-Peter!8»
Auch die Flözer auf der andern Seite waren ein Gegenstand seines Neides. Wenn diese Waldriesen herüberkamen, mit stattlichen Kleidern, und an Knöpfen, Schnallen und Ketten einen halben Zentner Silber auf dem Leib trugen, wenn sie holländisch sprachen, da stellte er sich als das vollendetste Bild eines glücklichen Menschen solch einen Flözer vor. Und wenn diese Glücklichen dann erst in die Taschen fuhren, ganze Hände voll großer Taler herauslangten und würfelten9 (fünf Gulden hin, zehn her10), so wollten ihm die Sinne vergehen11. Dann schlich er trübselig nach seiner Hütte. An manchem Feiertagabend hatte er einen oder den andern dieser Holzherren mehr verspielen sehen, als der arme Vater Munk in einem Jahr verdiente.
Es waren drei Männer, von welchen er am meisten bewunderte. Der eine war ein dicker, großer Mann mit rotem Gesicht. Er war de reichste Mann in der Runde. Sein Name war Ezechiel12. Er reiste alle Jahre zweimal mit Bauholz nach Amsterdam und war sehr reich.
Der andere war der längste und magerste Mensch im ganzen Wald. Sein Name war Schlurker, und diesen beneidete Munk. Schlurker widersprach den angesehensten Leuten; er hatte unmenschlich viel Geld.
Der dritte war ein schöner junger Mann, der am besten tanzte und daher den Namen Tanzbodenkönig hatte. Er war ein armer Mensch gewesen und hatte bei einem Holzherrn als Knecht gedient. Da wurde er auf einmal steinreich. Die einen sagten, er hat unter einer alten Tanne einen Topf voll Geld gefunden. Die andern behaupteten, er hat im Rhein mit der Stechstange, womit die Flözer zuweilen nach den Fischen stechen, einen Pack mit Goldstücken heraufgefischt.
An diese drei Männer dachte Kohlenmunk-Peter oft, wenn er einsam im Tannenwald saß. Aber hatten alle drei einen Hauptfehler, der sie bei den Leuten verhaßt machte. Es war dies ihr unmenschlicher Geiz, ihre Gefühllosigkeit gegen Schuldner und Arme.
«So geht es nicht mehr weiter»13, sagte Peter eines Tages schmerzlich betrübt zu sich, «wenn ich nicht bald auf den grünen Zweig komme14, so tu ich mir etwas zuleid. Wäre ich doch nur so angesehen und reich wie der dicke Ezechiel! Oder so kühn und so gewaltig wie der lange Schlurker! Oder so berühmt und könnte den Musikanten Taler statt Kreuzer zuwerfen wie der Tanzbodenkönig! Wo nur der Bursche das Geld her hat?»
Allerlei Mittel ging er durch, wie man sich Geld erwerben könne. Aber keines wollte ihm gefallen. Endlich fielen ihm auch die Sagen von Leuten ein, die vor alten Zeiten durch den Holländer-Mechel und durch das Glasmännlein reich geworden waren. Solange sein Vater noch lebte, kamen oft andere arme Leute zu Besuch. Da wurde oft lang und breit von reichen Menschen gesprochen, und wie sie reich geworden. Da spielte nun oft das Glasmännlein eine Rolle. Konnte er sich beinahe noch des Versleins erinnern, das man am Tannenbühl in der Mitte des Waldes sprechen mußte, wenn es erscheinen sollte.
Es fing an:
«Schatzhauser im grünen Tannenwald,
Bist schon viel hundert Jahre alt,
Dir gehört all Land, wo Tannen stehn…»
Und weiter? Aber er mochte sein Gedächtnis anstrengen, wie er wollte, weiter konnte er sich keines Verses mehr entsinnen. Er dachte oft, ob er nicht diesen oder jenen alten Mann fragen sollte, wie das Sprüchlein heiße. Aber immer hielt ihn eine gewisse Scheu, seine Gedanken zu verraten, ab, auch schloß er, es müsse die Sage vom Glasmännlein nicht sehr bekannt sein und den Spruch müssen nur wenige wissen. Es gab nicht viele reiche Leute im Wald. Warum hatten denn nicht sein Vater und die andern armen Leute ihr Glück versucht?
Er fragte einmal seine Mutter auf das Männlein. Seine Mutter erzählte ihm, was er schon wusste. Sie kannte auch nur noch die erste Zeile von dem Spruch. Sie sagte ihm endlich, nur Leuten, die an einem Sonntag zwischen elf und zwei Uhr geboren seien, zeige sich das Geistchen. Und er ist am Sonntag – mittags zwölf Uhr! – geboren.
Als dies der Kohlenmunk-Peter hörte, war er vor Freude und vor Begierde, dies Abenteuer zu unternehmen, beinahe außer sich. Es schien ihm hinlänglich, einen Teil des Sprüchleins zu wissen und am Sonntag geboren zu sein. Das Glasmännlein mußten sich ihm zeigen!
2
Als Peter daher eines Tages seine Kohlen verkauft hatte, zündete er keinen neuen Meiler an, sondern zog seines Vaters Staatswams und neue rote Strümpfe an, setzte den Sonntagshut auf, und faßte seinen fünf Fuß hohen Schwarzdornstock in die Hand. Dann nahm von der Mutter Abschied:
«Ich muß in die Stadt gehen.»
Aber machte er sich auf nach dem Tannenbühl15. Der Tannenbühl liegt auf der höchsten Höhe des Schwarzwaldes. Auf zwei Stunden im Umkreis stand damals kein Dorf, ja nicht einmal eine Hütte. Die abergläubischen Leute meinten, es sei dort unsicher16.
Man schlug ungern Holz in jenem Revier. Oft die Äxte vom Stiel gesprungen und in den Fuß gefahren, oder die Bäume waren schnell umgestürzt und hatten die Männer mit umgerissen und beschädigt oder gar getötet. Die Floßherren nahmen nie einen Stamm aus dem Tannenbühl unter ein Floß auf, weil die Sage ging, dass Mann und Holz verunglücke, wenn ein Tannenbühler mit im Wasser sei.
Im Tannenbühl die Bäume dicht und hoch standen. Peter Munk wurde es ganz schaurig dort zumute; denn er hörte keine Stimme und keinen Axt. Die Vögel vermieden diese dichte Tannennacht.
Kohlenmunk-Peter hatte jetzt den höchsten Punkt des Tannenbühls erreicht und stand vor einer Tanne von ungeheurem Umfang17.
«Hier», dachte er, «wird wohl der Schatzhauser wohnen».
Peter zog seinen großen Sonntagshut, machte vor dem Baum eine tiefe Verbeugung, räusperte sich und sprach mit zitternder Stimme:
«Wünsche glückseligen Abend, Herr Glasmann.»
Aber es erfolgte keine Antwort. Alles umher war so still wie zuvor.
«Vielleicht muß ich doch das Verslein sprechen», dachte er weiter und murmelte:
«Schatzhauser im grünen Tannenwald,
Bist schon viel hundert Jahre alt,
Dir gehört all Land, wo Tannen stehn…»
Indem er diese Worte sprach, sah er zu seinem großen Schrecken eine ganz kleine, sonderbare Gestalt hinter der dicken Tanne hervorschauen. Hat er das Glasmännlein gesehen?
Das schwarze Wämschen, die roten Strümpfchen, das Hütchen, das blasse, aber feine und kluge Gesichtchen!
Aber ach, so schnell es hervorgeschaut hatte, das Glasmännlein, so schnell war es auch wieder verschwunden.
«Herr Glasmann», rief nach einigem Zögern Peter Munk, «seid so gütig und haltet mich nicht zum Narren18. Herr Glasmann, wenn Sie meinen, ich habe Euch nicht gesehen, so täuschen Sie Ihnen sehr. Ich sah Ihnen wohl hinter dem Baum hervorgucken!»
Immer keine Antwort. Nur zuweilen glaubte er ein leises, heiseres Kichern hinter dem Baum zu vernehmen. Endlich überwand seine Ungeduld die Furcht.
«Warte, du kleiner Bursche», rief Peter, «dich will ich bald haben!»
Peter sprang mit einem Satz hinter die Tanne, aber da war kein Schatzhauser im grünen Tannenwald. Nur ein kleines, zierliches Eichhörnchen jagte an dem Baum hinauf.
Peter Munk schüttelte den Kopf. Er sah ein, dass er die Beschwörung bis auf einen gewissen Grad gebracht habe. Er sah ein, dass ihm vielleicht nur noch ein Reim zu dem Sprüchlein fehle. So könne er das Glasmännlein hervorlocken. Aber er fand nichts. Das Eichhörnchen zeigte sich an den untersten Ästen der Tanne. Es putze sich, es rollte den schönen Schweif. Es schaute ihn mit klugen Augen an. Aber endlich fürchtete Peter sich doch beinahe, mit diesem Tier allein zu sein. Bald schien das Eichhörnchen einen Menschenkopf zu haben und einen dreispitzigen Hut zu tragen. Bald war es ganz wie ein anderes Eichhörnchen und hatte nur an den Hinterfüßen rote Strümpfe und schwarze Schuhe. Es war ein lustiges Tier. Aber dennoch graute Kohlenpeter.
Mit schnelleren Schritten, als er gekommen war, zog Peter wieder ab. Das Dunkel des Tannenwaldes war Schwarz. Die Bäume standen immer dichter. Und ihm fing an so zu grauen, dass er im Trab davonjagte19.
Als er in der Ferne Hunde bellen hörte und bald darauf den Rauch einer Hütte erblickte, wurde er wieder ruhiger. Aber als er näher kam und die Tracht der Leute in der Hütte erblickte, fand er, dass er aus Angst gerade die entgegengesetzte Richtung genommen und statt zu den Glasleuten zu den Flözern gekommen sei.
Die Leute, die in der Hütte wohnten, waren Holzfäller. Ein alter Mann, sein Sohn, der Hauswirt und einige erwachsene Enkel nahmen Kohlenmunk-Peter, der um ein Nachtlager bat20, gut auf. Sie gaben ihm Apfelwein zu trinken. Sie fragten nach seinem Namen und Wohnort nicht. Abends wurde ein großer Auerhahn aufgesetzt.