Buch lesen: «Im Sparadies der Friseure»
Nicht wenige der hier versammelten Texte erschienen zunächst im Bayerischen Rundfunk, bei MDR Figaro, in der Tageszeitung junge Welt, in der Zeitschrift Das Magazin oder in Häuptling Eigener Herd. Für die gute Zusammenarbeit bedankt sich der Autor bei Thomas Bodmer, Knut Cordsen, Michael Hametner, Christof Meueler und Manuela Thieme.
Wiglaf Droste
Im Sparadies der Friseure
- Eine kleine Sprachkritik -
FUEGO
Für Friedhelm und Friedrich,
die Dortmunder Jungs
Wenn ein Paket beschlossen wird
Die Stimme des Radiosprechers sagte: »Das Paket kann beschlossen werden.« Ich zuckte zusammen. Wie jetzt? Paket? Beschließen? – Quatsch! Pakete packt man, oder man bekommt sie, Pakete kann man verschicken oder empfangen, nicht aber beschließen.
Dennoch gibt eine seriös wirkende Radiostimme das von sich, und sie klingt, als ob sie wisse, wovon sie spricht: »Das Paket kann beschlossen werden.« Ich möchte mich nicht als übermäßig sensibel (und schon gar nicht als sensirrbel) darstellen, aber ich bekomme Trommelfellzirrhose, wenn ich das oder eine nicht minder deprimierende Variante anhören muss: »Das Paket kann verabschiedet werden.« Denn was beschlossen ist, kann auch verabschiedet werden, und wenn das Paket auf die Reise geht, steht ein Dutzend Männer mit ernstem Gesichtsausdruck und steifem Anzug am Ufer, nimmt Abschied und singt Lebewohl: »Good-bye, Paket, good-bye, good-bye, auf Wiederßähn …«
Ich bin nicht wolkenkuckucksverheimert; mir schwant schon, was das für eine Art Paket sein soll, das erst beschlossen und dann verabschiedet wird: ein Konvolut von Gesetzen, ein Knäuel oder Bündel bürokratischer Verordnungen, aber beim Wort »Bündel« denke ich gleich an ein Mündel beziehungsweise schlagartig an mündelsichere Wertpapiere, von denen ich einst las oder hörte: mündelsichere Wertpapiere, was für eine Einflüsterung, bis heute weiß ich nicht, worum es sich dabei handelt, doch tagelang könnte ich dieses Mantra ventilieren und durchgrübeln, »mündelsichere Wertpapiere, aaah …«, aber das führt vom Wege ab, das bringt alles durcheinander, da kommt man in Tüdder, wie meine Omma sagte, Liesbeth Kotsch, geborene Pluppins, aus Tilsit in Ostpreußen, die begnadetste und vorbildlichste Paketpackerin meiner Kenntnis.
Wahrhaftige Lebensrettungspakete schickte sie mir Anfang und Mitte der achtziger Jahre nach Berlin, gefüllt mit selbstgestrickten Socken, Schinken, Wurst, Käse und immer zwei Schachteln filterlosen Zigaretten, an denen zuverlässig ein mit Tesafilm fixierter Zettel klebte: »Aber nur zum Anbieten!« Einmal kam ein Paket abhanden; Omma schickte ein neues, und als ich es aufmachte, lag obenauf ein Zettel mit der Anrede »Hallo, Dieb!« Der potentielle Paketschänder wurde darauf hingewiesen, was für ein haltloses, verkommenes, schurkisches, übles, widerwärtiges und ahndungswürdiges Subjekt er sei, wenn er es wage, auch dieses Paket an sich zu bringen und seinem rechtmäßigen Empfänger zu entreißen. Ich möchte nicht der Dieb dieses Paketes gewesen sein; soviel Hornhaut auf der Seele gibt es gar nicht, dass man nicht für den Rest seines Lebens eine liebende ostpreußische Großmutter als Nemesis gespürt hätte, den heißen Atem ihrer Rache stets im Nacken, eine Kriemhild, dem Bösbock hinterhersteigend bis in die letzten Verästelungen seiner Alpträume noch.
Sprache ist nicht nur Mittel zum Zweck der Kommunikation – sie ist eine Möglichkeit, die Welt zu erlernen, sie sich zu eigen zu machen, nicht in einem rohen, barbarischen Akt der Unterwerfung und Untertanmachung, sondern langsam, behutsam, staunend, hingebungsvoll. Sprache wohnt die Chance inne, die Welt spielerisch zu begreifen, ohne sie dumpf zu begrapschen. Macht man aber bewusstlos und lieblos von ihr Gebrauch, wird sie stumpf und schäbig.
Das Wort »Paket« mag für manche einen profanen Klang haben und mit jenem schalen Beigeschmack der Entwertung versehen sein, der Wörtern wie »Briefzentrum« oder »Serviceleistung« längst anhaftet. Weil ich aber weiß, wie viel Liebe in den fünf Buchstaben steckt, aus denen das Wort Paket gemacht ist, werde ich es immer verteidigen gegen Sprechautomaten, die Pakete beschließen und verabschieden wollen, obwohl das überhaupt nicht geht.
Über das Vertrauen
Seitdem das Wort »Finanzkrise« in die medialen Ventilatoren geworfen wird, ist auch die Vokabel »Vertrauen« inflationär in Umlauf. Das Gerede vom Vertrauen ist das Echo des Krisengeschreis; der Vertrauenshöker folgt dem Finanzbetrüger wie ein Schatten. Wo betrogen wird, unterschlagen und gestohlen, müssen anschließend rhetorische Beruhigungsmittel ausgeschenkt werden. »Vertraue miiir ...!«, sang schon die Schlange Kaa in Walt Disneys Trickfilmadaption des »Dschungelbuchs« von Rudyard Kipling.
Um den kleinen Mowgli ungestört fressen zu können, bedurfte die Würgeschlange seines Vertrauens. Ähnlich überzeugend gebärden sich Vertreter von Wirtschaft und Politik, die »Rettungspakete schnüren«, »Regenschirme aufspannen« und um einen »Vertrauensvorschuss« werben, der ja längst gewährt und verspielt worden war.
Das Publikum wird versechsjährigt: Mutti Staat und Vati Wirtschaft bringen die Welt schon in Ordnung, und bald ist alles wieder gut. Hauptsache, alle gehen schön wählen und legitimieren durch solchen Vorschuss den Schaden. Gegen jeden Erkenntnisgewinn soll Vertrauen als carte blanche gegeben werden. Infantilisierung und Debilisierung sind nicht nur beim Kitsch mit »Knut« und »Flocke« die Hauptaufgaben der Medien. Denen genau deshalb nicht zu trauen ist.
Man kann jemandem trauen, und man kann sich etwas trauen. In diesem seligen Zustand kommt man auf die Welt. Später begegnet man dann Leuten, die viel von Vertrauen reden: Eltern, Kindergärtnerinnen, Lehrer. So lernt man, auf Sprache zu achten: Die Vorsilbe »Ver« sagt in diesem Fall sehr deutlich, dass man sich ver-traut hat, also jemand Falschem traute. Wenn der Pfarrer von Vertrauen spricht, zuckt der Ministrant zusammen: Aua, Kirche von hinten.
Dennoch gibt es gute Gründe, kein misstrauischer Mensch sein zu wollen. Man möchte nicht mit einem leninistisch verbissenen »Vertrauen ja, aber immer auch prüfen!«-Gesicht herumlaufen und das Arge, das man ja meiden will, durch permanente Vorhersicht erst anziehen. Kassandrahaften, sich selbst erfüllenden Prophezeihungen haftet etwas Miesepetriges an, und Zivilisationspessimismus verströmt immer auch den Hauch von billigem Parfüm. Ein Mensch, der fröhlich leben will, muss bereit sein, betrogen zu werden. Warum sonst heiraten Menschen?
Betrug und Verrat sind anthropologische Konstanten und Tatsachen des Lebens. Nur Unerwachsene oder Heuchler streiten das ab – und reden, betrügend, von Vertrauen. Wenn ich jemandem mein Vertrauen schenken will, ist das ganz allein meine Sache und meine Entscheidung. Wenn es ausgenutzt wird, habe ich die Folgen zu tragen. Aber niemand muss so beschränkt und so langweilig sein, dass er sein Vertrauen an Wirtschaftsbosse und Bankiers, ihre Politiker und Journalisten und andere Angehörige der ehrenwerten Gesellschaft verschenkt.
Von der Schneekatastrophe zum Gaskrieg
In Deutschland war Winter. Das hatte es lange nicht gegeben; in den Krawallmedien, die Anfang 2009 die bedauerliche Tatsache ihrer 25-jährigen Existenz als Grund zum Feiern missverstanden, kommt längst kein Winter mehr vor. Sondern stattdessen: »Schnee-Chaos!« Oder, noch Bild-kompatibler: »Schnee-Katastrophe!« Was ins Deutsche zurückübersetzt bedeutet, dass man vielleicht die Scheiben seines Autos freikratzen oder eine Viertelstunde lang auf einen Zug warten muss.
Dann aber kam tatsächlich ein Winter, und mit dem eisigen Wind aus den sibirischen Lagern bekam man, ebenfalls aus Russland, eine weitere und offenbar hoch willkommene Hiobsbotschaft frei Haus geliefert: den Gas-Krieg. Russland und die Ukraine befinden sich schon lange in einem Streit, der medial als Duell in Szene gesetzt wird: Moskau gegen Kiew, Gazprom gegen Naftogaz, Putin versus Timoschenko. Von »Gas-Diebstahl« war die Rede, auch die Europäische Union hatte viel dazu zu sagen. Als in einigen Ländern das Gas knapp zu werden drohte, wurde der eigentlich strafrechtlich relevante Vorwurf der ökonomischen »Geiselnahme« erhoben.
In Deutschland hätte man ein paar seltene, angenehm verlangsamte Wintertage genießen können. Der damalige Bundeswirtschaftsminister Michael Glos betonte mit bernhardinerhafter Jovialität: »Deutschlands Wohnzimmer bleiben warm.« Doch ohne Schreckensszenarien scheint vielen das Leben keinen rechten Spaß zu machen. In den Redaktionen der Vulgärmedien malt man sich also Katastrophen aus. Katastrophen sind die »Sissy«-Romane des Journalismus, sie kosten nichts und erzielen große Wirkungen beim Publikum.
Darf sich Europa, darf sich Deutschland, dürfen WIR uns von Russland erpressen lassen? – So fragen Leitartikler, und man weiß wieder, warum und wofür Kriege geführt werden und weshalb deutsche Soldaten in Afghanistan schon mal üben. Menschenrechte sind ein gut klingender Vorwand für wirtschaftliche Interessen, und in mancher Schreibtisch- und Laptop-Existenz liegt viel kriegerisches Potential verborgen. Zwar ist niemand bedroht in Deutschland, doch genügt es, sich das vorzustellen und sich in die Rolle eines Großstrategen hineinzuphantasieren.
Mir aber gefiel es, den rhetorischen Katastrophismus auszublenden und einfach den Winter einen Winter sein zu lassen. Durch knackende Kälte zu stapfen und sich anschließend am Feuer zu wärmen, ist eine archaische Lust. In der Sauna zu schwitzen und sich im frischen Schnee zu wälzen, beschert animalische Freude und bärenhaftes, großes Glück. Man ahnt, wie frei Bruno sich gefühlt haben muss, bevor er genau deshalb abgeknallt wurde – nicht zu vergessen, wo: im sogenannten Freistaat Bayern.
Versprecher und Versprechen
Armer Papst. Beinahe vier Jahre lang wurde Benedikt XVI. bejubelt und als offizielles Maskottchen der Christenheit gefeiert. Seitdem Joseph Ratzinger am 19. April 2005 zum Papst gewählt worden war, herrschte Fußballstimmung, wo immer der Mann aufkreuzte. Die katholische Folklore erlebte eine gewaltige Renaissance. Schlau ergriff der als Kongregationsscharfmacher berüchtigte Ratzinger die Gelegenheit, auf dufte zu machen, herumzumenscheln und potentielle neue Kundschaft anzuschnacken. Vom Papamobil aus grüßte er alle Welt und inszenierte Andachten vor 250.000 Leuten; in Lourdes entließ er sich und sein Publikum beiderseits als geheilt. In ochsenblutrotem Schuhwerk sang er die lateinisch-liturgische Variante von »I did it my Way« – und kam mit all dem durch. Zwar empörten sich ein paar Tierschützer über den Hermelinbesatz seines Umhangs und seines Mützchens, doch das schlug nicht weiter ins Kontor. Zumal die deutsche Heimatpresse sich längst Bild angeschlossen hatte und unisono orgelte: »Wir sind Papst.«
Doch auf einmal war die Show vorbei, und die Journalisten wurden ganz, ganz mutig. »Holocaust-Gegner haben in der Kirche nichts zu suchen«, verkündete Caren Miosga am 2. Februar 2009 in einem Trailer für die von ihr moderierten ARD-Tagesthemen. Zwar handelte es sich um einen Versprecher, sie meinte offenbar Holocaust-Leugner, aber solche Unterschiede spielen in deutschen Medien keine große Rolle, hier spricht man auch von »polnischen Konzentrationslagern«, wenn man deutsche KZ in Polen meint. Frau Miosga zeigte, wie Fernsehen funktioniert: Hauptsache Schaum. Wenn man den als Haltung verkaufen kann, umso besser.
Was war los, was war passiert? Der Papst hatte solitär beschlossen, die Exkommunikation von vier Bischöfen aufzuheben, die einer Pius-Bruderschaft angehören, von deren Existenz kein aufgeklärter Mensch Kenntnis haben müsste. Irrsinn gibt es, in Kirchen wird er organisiert. Das ist nichts Neues. Teil des Glaubensabtrünnigen-Quartetts ist auch ein Richard Williamson, der den Holocaust für erfunden hält und die minimalzivilisatorischen Einlenkungen des Zweiten Vatikanischen Konzils ablehnt. Williamson ist ein Lefebvre’scher Traditionskatholik alter Schule, angetrieben vom Neid auf das Leid der Juden und vom Hass auf die Moderne. Im Leben Joseph Ratzingers gab es Zeiten, in denen er Williamson nicht sehr fern war. Doch während Williamson – wie auch der peinlich eitle Gegenpapst Hans Küng – auf dem Dissidententicket zu reüssieren suchen, war sich Ratzinger immer darüber im klaren, dass Macht nur im Mainstream zu haben ist und man also Kreide fressen muss.
Honoré de Balzac hatte eine treffende Vokabel für Journalisten; er nannte sie »Halbkameraden«. Das Wort gilt auch für die PR-Truppen des Papstes. Journalistische Jubelperser, die sich jahrelang trittbrettfahrend an den Medienpapst anflanschten, rangen auf einmal die Hände. »Sind wir noch Papst?«, fragte Maybritt Illner, als ob sie jemals Papst gewesen wäre. War sie noch bei Trost? Die taz erging sich in evangelischer Selbstbezichtigung und titelte: »Wir sind peinlich«. Wer wollte dem Blatt da widersprechen?
Die katholische Kirche ist, was sie war: ein Zeughaus der Heuchelei. Nahezu vier Jahre lang haben die sogenannten Leitmedien mitgeheuchelt und den Papst ikonisiert – um sich dann, bei Ahnung eines Skandals, eilig zu distanzieren. Das ist Heuchelei hoch zwei.
Privat kann jeder glauben, was er möchte. Wer sich mit seiner Religion in die Öffentlichkeit begibt, muss allerdings damit rechnen, auf Befremdnis zu stoßen, auf Widerspruch, auf Kritik und auf Spott – allein schon deshalb, weil es jede Menge Konkurrenzvereine gibt, von denen jeder seinen Glauben für den schönsten und besten hält. Der deutsche Papst Joseph Benedikt Ratzinger liebt es, Glaubenswidersacher niedrig zu machen und kleinzuholzen. Dass der Papst Gläubische schurigelt, könnte einem ja recht sein, wenn er nur nicht immerzu den eigenen Laden verherrlichte. Als notorischer Bessergläubischer zeigt der Papst der Religionskonkurrenz Geringschätzung und brüskiert regelmäßig Protestanten, Juden und Muslime, um sein eigenes Karnevalsunternehmen aufzuwerten. Das wirkt eher plump und stumpf als raffiniert und will nicht so recht zu dem durchtriebenen Theologen Ratzinger passen.
Wieso der Gnadenakt für den Antisemiten Williamson? Wollte der Papst damit nicht nur die Christenheit, sondern gleich auch die chronisch beleidigten Muslime mit versöhnen? Also eine deutsch-arabische, katholisch-muslimische Allianz schmieden, die ihren gemeinsamen Nenner in der Ablehnung des Judentums findet?
Das würde auch den Versprecher der ARD-Journalistin Caren Miosga nachträglich ins Recht setzen: »Holocaust-Gegner haben in der Kirche nichts zu suchen.« Falls Frau Miosga damit hätte sagen wollen, dass aufgeklärte Humanisten einen großen Bogen um die Kirche machen, sie hätte es nicht besser auf den Punkt bringen können.
Warum ich kein Hypochonder geworden bin
Hypochonder? Ich weiß nicht, was das sein soll – das Wort klingt in meinen Ohren wie eine Mischung aus HypoVereinsbank und Expander; von beidem verstehe ich nichts. Der Kluge, das etymologische Wörterbuch der deutschen Sprache, klärt mich auf: »Person mit unbegründeten Krankheitsvorstellungen. Rückbildung zu hypochondrisch‚ schwermütig (zunächst nur über Männer gesagt, im Gegensatz zu [weiblich] hysterisch). Es geht zurück auf griechisch hypochóndrios‚ unterhalb des Brustknorpels liegend. (…) Nach antiker Auffassung saßen die Gemütskrankheiten im Unterleib.« Ich will nicht klüger als der Kluge sein, sondern den Sachverhalt vielmehr in meinen eigenen Worten bestätigen: Sitz der Seele ist die Möse / Ohne Liebe wird sie böse.
Schon allein deshalb möchte man doch kein Hypochonder sein, kein männlicher Hysteriker, der in zwanghafter Selbstbeobachtung Krankheiten an sich entdeckt, egal, ob er sie hat oder nicht oder ob er sie von all der Einbildung erst bekommt. Hans Christian Andersen litt an solchen Krankheitsphantastereien; Eckhard Henscheid konstatierte an sich, als er vor Jahren das Rauchen aufgab, die Stoffwechselumstellungsfolgekrankheiten gleich en gros. Was die unterdessen erfolgte Generaleinführung des Rauchverbots aus sogenannten volksgesundheitlichen Gründen in einem ganz anderen Licht erscheinen lässt: Was ist gewonnen, wenn aus Millionen von schmaddrigen Teerabhustern Millionen von Nervenbündeln werden, die 147 oder 159 neue Krankheiten an sich diagnostizieren, und die ihre Entdeckungen ja auch nicht für sich behalten, sondern sie ohne jede Rücksicht auf Kamerad Mitmensch ausjallern?
Über Krankheiten reden ist etwas für Kranke oder für Leute, die sonst nichts oder nichts mehr haben, mit dem sie sich spreizen und wichtig machen können. Mit bedeutungsgesättigter Miene und Stimme sitzen sie da und reißen Gespräche an sich, um die vom Arzt erstellte Diagnose langatmig, dabei jedes einzelne Wort zäh malmend und auskostend wiederzukäuen und die Zeit eben nicht gnädig ruckzuck totzuschlagen, sondern streckfolternd zu zerquälen. Der Arzt, selbstverständlich eine Kapazität auf seinem Gebiet, findet gerade ihren Fall ganz besonders speziell und hochinteressant, und dann muss man stundenlange Amateurmedizinermonologe und Selbstdiagnoseexpertisen über sich ergehen lassen. Selbstverständlich gibt es eingebildete Kranke; es kommt aber eben auch häufig vor, dass einer durch Krankheit erst eingebildet wird.
Nach einem unfreiwillig durchlittenen Vortrag über Heimtücke und Gefahr von Zeckenbiss, vulgo Borreliose, stand ich auf, beugte mich über den Siechtum simulierenden Sprecher, brachte meinen Mund an sein rechtes Ohr und flüsterte nach Art Marlon Brandos im ersten Teil von Francis Ford Coppolas »Paten«, also gedehnt und wie mit tamponierten Backentaschen: »Es ist mir eine Ehre, für Sie zu arbeiten, Don Borreliose … Wissen Sie, ich brauche Schutz … für meine Familie … Nur Sie in Ihrer unendlichen Güte können ihn gewähren, mi Padrino, nur Sie allein, Don, Don Borreliose ...!« Es nützte nichts; der Auswalzertänzer seiner eigenen Krankengeschichte ließ sich das Heft des Laberns nicht mehr aus der Hand nehmen.
Es gibt viele gute Gründe, kein Hypochonder zu sein. Der wichtigste ist dieser überlegen-ironische Blick, den manche Frauen aufsetzen, wenn ein Mann tatsächlich krank ist. Sie haben dann dieses implizite »Ja, ja, der Ärmste, er hat mal wieder nichts« in den Augen; die Unterstellung, ein Mann mache per se und qua Geschlecht aus einer leicht verschnupften Mücke einen krebskranken Elefanten, während Frauen an und für sich und überhaupt ja sowas von tapfer seien. Als letzte Trumpfkarte spielen sie ihr Frausein aus: »Und überhaupt, du kannst gar nicht mitreden, du hast noch nie ein Kind bekommen!« Allein um solchem Passionspathos zu entgehen, stelle ich mich lieber gesund als krank oder tot.
Hypochonder? Schon das Wort ist ohne Liebreiz. Es spricht sich mit unangenehm rachigem »ch« – manche, vor allem die der deutschen Sprache abholden Insassen Bayerns, sagen allerdings »Hypokonder«, so wie sie China »Kina« nennen. Hypokonder reimt sich auf Anakonda, also auf Würgeschlange, und das war’s dann auch schon. Das Breitreifenbayerische hat sich noch nicht zum Mitglied der Menschensprachenfamilie entwickelt, sondern entstammt noch direkt dem rückwärtsgewandten Teil einer muffigen Lederhose. In Bayern nennen sie das, auch anatomisch verblüffend, Mundart.
Angesichts einer mit Hypochondern und Simulanten vollgeprengelten Welt ziehe ich es vor, das Gegenteil eines Hypochonders zu sein: ein stoischer Ärztevermeider, der sich nicht in Behandlung begibt, sondern sagt: »Ach, das ist doch nichts, das vergeht schon«, und am Ende wird es dann richtig blöd. Aber was soll ich machen? Stil zählt mehr als Gesundheit.
Im Sparadies der Friseure
In einem Land, in dem Bild als Zeitung durchgeht und Guido Knopp als Historiker firmiert, gelten Friseure als Hirnforscher. Und führen sich manchmal auch so auf.
Wer mit offenen Augen durch die Welt geht, liest schon rein gewohnheitsmäßig alles, was geschrieben steht im öffentlichen Raum, auch wenn er sich damit manche Last aufbürdet. Neben dem Kontoauszugsdrucker der Sparkasse hing ein Plakat, das ein »Sparadies« anpries. Unübersehbar und gleich mehrfach verhieß man mir: das Sparadies.
Lüge, Betrug, Heuchelei und Nepp sind ja immer in ausreichender Menge und Vielfalt vorhanden und im Angebot. »Sparadies« jedoch hat die Ausstrahlung einer unerwünschten Zugabe: 25 Jahre Kundendasein bei der Sparkasse lehrten mich, dass ich bei diesem Anbieter jeden Service am Automaten selbst erledige und dafür dann Gebühren zahle. So sieht das Sparadies aus, das Sparadies auf Erden.
Kopfschüttelnd verließ ich die Filiale dieses Geldinstituts und raufte mein Resthaar – das, wie ich feststellte, lang und wallend zu werden drohte, als sei ich ein Jugendlicher, oder, bedauernswerter, ein Operettenkünstler. Die Matte muss ab! Die kommt runter! Du gehst zum Putzer!, beschloss ich barsch und machte mich daran, einen Friseurladen aufzusuchen. Ich fand auch gleich einen; er hieß aber »Hair Force One«. Ungläubig las ich das und floh, Blitzeis im Genick.
Aber wohin mich begeben, wohin mich wenden? »Hairdamit«, verlangte der nächste Friseur im Stil eines Straßenräubers, Wegelagerers und Raubritters. Dem wollte ich nicht in die Hände fallen, aber auch keine Coiffeurstube namens »Kopfsache« betreten – dagegen war ja das legendäre »Gard Haarstudio« aus den 70er Jahren mit Jacques Galèt eine humanistische Angelegenheit gewesen.
Ich taumelte weiter. »McCut« hieß der nächste Haar- und Halsabschneider, und es nahm kein Ende mehr. »Die Frisierbar« las ich und lächelte noch, »Cuthaarstrofal« ließ mich beinahe zusammenklappen, »Wächst schon wieder« warb dagegen relativ charmant mit dem eigenen Unvermögen. »Eckzackt« war von grausamer Zwanghaftigkeit, einem »Headhunter« wollte ich meinen Kopf nicht einmal äußerlich anvertrauen, und »Querschnitt« klang ganz übel. Die »Vier Haareszeiten« mied ich ebenso entschieden wie »Fön-X«, »Hairlich«, »Kamm Hair«, »KammIn«, »Joe’s Hairport« »Haireinspaziert«, »Spektakulhair«, »Millionhair«, »Die Kopfgeldjäger«, »Mata Haari«, »Haaribo«, den »Haar-M«, die »Haarvantgarde« und die »Haarchitektur«. Gab es denn keine Friseurbuden mehr? Wie den »Salon Maucke« in Magdeburg, der eben kein Fußpflege-Etablissement ist – das dann analog und genausogut auch »Quantensprung« heißen könnte –, sondern tatsächlich ein Schuppen zum Haareschneiden?
Nein, einfache Friseure sind weitgehend ausgestorben. Statt ihrer gibt es jede Menge Aufgebrezeltes. So findet sich eine »Hair-Killer«-Kette »mit der Lizenz zum Stylen« ebenso wie ein »Haar und Bewußtsein«. Darüber hinaus sind, unter langsamem, qualvollem Erlöschen, zu verzeichnen und hinzunehmen: ein »Schnitt-Punkt«, ein »Director’s Cut«, ein »Schneideraum«, ein »Hairgott«, ein »Hairkules«, ein »Open Hair«, ein »Kamm back«, zu dem ich niemals zurückkehren würde, ein bedrohlich entgültig klingender »Final Cut«, der einem das Rasiermesser an die Kehle zu setzen scheint, ein »Haarlekin« – ist das ein Spezialist für Clownsfrisuren? –, ein »Haarmäleon«, eine »Haarmonie« und, wahrscheinlich für die Sadomaso-Fraktion, eine »Haarpune« und ein »Haarakiri«. Und in Berlin-Pankow findet sich ein »Friseur Tsunami«; da kann man sich wahrscheinlich eine Welle machen lassen.
Erfreulich vergeblich allerdings suchte ich einen schwarzen Friseur namens »Haarlem«. Und eine Billigfrisurenbude mit Namen »Haartz IV« zu eröffnen, wo ein Armutseinheitsschnitt mit der Rasiermaschine angeboten wurde, war bisher ebenfalls noch keinem Discounterschurken eingefallen.
Ich atmete auf; zu früh allerdings. Denn um mich vollendet am Kopf innen zu vernichten, war das »cHAARisma« ausgeheckt worden: kleines c, großes H-A-A-R, und dann klein »isma« – cHAARisma. Ich war im siebten Kreis der Wortspielhölle. Wohin fliehen, wohin nur? Zu »KreHaartiv«? Ich brach in die Knie. Das ist das Ende, dachte ich, aber ich täuschte mich. Ein so leichter Tod war mir nicht vergönnt.
Inzwischen zwar gewappnet, amalgamiert, in Drachenblut gebadet und schier auf alles gefasst, was Friseure der Sprache an Gewalt zufügen können, hatte ich doch mit einem nicht gerechnet: »Kaiserschnitt«. Es tat so weh, ein Messer trennte mir den Bauch auf, ich schrie vor Schmerzen, verstarb, verließ die irdische Hölle – und erwachte wo? Genau: im Sparadies, wo man »Haarva Nagila« sang. Und das ist nicht an den Haaren hairbeigezogen. Außer natürlich vom Friseur meiner Träume: »Haarald«, der auf seiner »Haarley« durch Köln knattert und dabei sein Lieblingslied singt: »Verdamp lang hair...«
PS: Und dann erreichte mich auch noch folgende Elektropost des Kollegen Ralf Sotscheck von der irischen Westküste:
Lieber Wiglaf,
»Kamm back« ist ein Tiefpunkt. Aber es geht noch tiefer. Wie wär’s mit »Kammouflage«, dem flotten Tarnschnitt für den modernen Soldaten? Oder mit »Kamma Sutra«, dem Haarschnitt, der Frauen schwach macht? »Let’s kamm together«? Oder »Kammembert«, wenn sonst alles Käse ist?
Au Mann.
Muss jetzt unser Leihpferd wieder einfangen, es hat sich auf die Nachbarwiese abgesetzt. Werde mich als Hafer tarnen. War Haferkamm nicht ein Kammissar beim Tatort?
Gruß,
Ralf
PPS: Damit Sie klar sehen: Ralf Sotscheck ist unbelehrbarer Anhänger der terroristischen Vereinigung Hairtha BSE.
Der kostenlose Auszug ist beendet.