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Ernten

An einem Tag im Herbst habe ich bei einem Spaziergang Haselnuss-Sträucher entdeckt, die frei am Weg standen und voll hingen mit großen, braunen Nüssen. Ich konnte nicht widerstehen, da waren wohl Erinnerungen an meine Kinderzeit im Spiel: Erst pflückte ich mir eine, knackte sie (ich weiß, das ist ungesund) mit den Zähnen und zerkaute langsam und genießerisch das würzige, noch saftige Fruchtfleisch. Dann holte ich mir die nächste, und auf einmal war ich wie im Fieber. Ich kroch in die Büsche, bog Zweige zu mir herunter, grapschte und füllte mir systematisch die Hosentaschen.

Auf dem Heimweg begegneten mir andere Spaziergänger; ich versuchte unauffällig und verschämt, meine ausgebeulten Hosentaschen mit den Händen zu tarnen. Aber stolz war ich und glücklich wie ein Schulbub. „Schau, was ich geerntet habe“, sagte ich zu Hause und leerte meine Schätze in eine ziemlich große Schüssel, in der sie schon wieder bescheidener aussahen. Meine Frau hat gelacht, aber nicht spöttisch.

Ich glaube, was mir da passiert ist, war nicht bloß eine Kindheitserinnerung. Es war dieses Ur-Vergnügen am Ernten, das zu den einfachen, aber großen Freuden der Menschen gehört, seit sie in Höhlen schliefen und ein Leben als Jäger und Sammler führten. Wenn man so will, hat sich da der Neandertaler in mir wieder gemeldet. Heute produzieren immer weniger Bauern immer mehr Lebensmittel und die meisten Menschen leben in großen Städten; wohin also heute mit diesem Ur-Vergnügen?

Ich möchte es mir wenigstens im Kleinen erhalten und kultivieren. In dem Wort „ernten“ steckt das englische Wort „to earn“, durch Arbeit verdienen. Das tun wir ja alle nach Möglichkeit für unseren Lebensunterhalt. Aber am Fließband, an der Ladenkasse, am Bankschalter, am Steuer oder am Schreibtisch denkt ja kein Mensch mehr an wogende Kornfelder, Ackerbau und Obstgärten. Unsere alltägliche Ernte ist sehr abstrakt und un-sinnlich geworden.

Dass diese sinnliche Freude nicht verloren geht, ist mir aber wichtig. Vielleicht hat mancher Grundstücks- oder Gartenbesitzer genau aus diesem Grund so viel Arbeit in seinen Besitz gesteckt und so viel Freude an der Plackerei, obwohl das nicht jedem bewusst ist. Das muss auch nicht sein. Erntefreude ist tief im Menschen verankert und nicht auszurotten. Für die meisten Zeitgenossen ist es nicht immer leicht, ein Schlupfloch, ein Ventil für diesen Trieb zu finden. Man hat selten das Glück, ernten zu können, wo man nicht gesät hat. Um die meisten Verlockungen dieser Art stehen Zäune, die man respektieren muss.

Wer im Spätsommer oder Herbst mit dem Auto oder Fahrrad in die Gegend um den Bodensee fährt, kann zahlreiche Erntefreuden haben, auch wenn

er kein Stück Land mit einem Zaun drum besitzt. Überall darf man mit den Augen ernten: Äpfel, Birnen, Zwetschgen, Nüsse, Quitten, Zwiebeln, Kohl – alles ist voll von Obst und Gemüse, so weit das Auge reicht. Man sieht die Leute bei der Arbeit, und am Straßenrand kann man alles kaufen: direkt. Frischer und preiswerter als beim Erzeuger geht´s nicht. Ich habe auch schon auf einem Erdbeerhof mein Obst selbst geerntet. Immer mehr Bauern laden dazu ein; es wird billiger, wenn man ihnen Arbeit abnimmt. Und es kann einen Riesenspaß machen.

Wenn ich überhaupt keine Zeit für solche Ausflüge habe oder nicht die rechte Jahreszeit dafür ist, gehe ich manchmal nur auf den Markt, um in Berührung mit dem Naturereignis Ernte zu kommen, um zu riechen, zu sehen und vielleicht auch zu schmecken. Vielleicht sollte ich das viel öfter tun. Man verlernt sonst so vieles. Es ist doch schön und gar nicht mehr so selbstverständlich, wenn man eine Fenchelknolle von einer Lauchstange unterscheiden kann.

Nächsten Herbst gehe ich bestimmt wieder spazieren und schaue nach, ob „meine“ Haselnüsse noch kein anderer entdeckt hat.

Bewegung

Kinder toben gern herum; die Freude an der Bewegung gehört offenbar zu den ursprünglichen Dingen im Leben. Aber dann kommt eine lange Zeit, in der wir erzogen werden, still zu sitzen. „Setz dich auf den Hosenboden“ – das war ein viel gehörter und sehr verhasster Satz in meiner Kindheit. Doch irgendwann trägt diese Erziehung Früchte. Sogar der Hund muss lernen: „Sitz!“ Nach dem Lernen kommt das Arbeiten, und da sitzen immer mehr Menschen erst recht. Von morgens bis abends. Einen letzten Rest der alten Bewegungsfreude, im Mangel, im Nicht-Können, enthält die umgangssprachliche Formulierung, dass einer „gesessen hat“. In der Haft, das sagt die Sprache mit deutlicher Wehmut, gibt es die Freiheit der Bewegung nicht, und folglich auch kaum die Freude daran.

Ich übe eine sitzende Tätigkeit aus. Vielleicht fällt mir gerade deswegen ein geflügeltes Wort ein, das im Rundfunk kursiert: „Der Sender hat unseren Kopf gemietet, aber nicht unseren Hintern“.

Mir gefällt dieser Satz nicht zuletzt deshalb, weil er so beweglich und vielseitig ist, auch vieldeutig und frech. Im Kern sagt er: Arbeit ist mehr als das Absitzen von Zeit. Scherz beiseite: Ganze Heerscharen von Angestellten joggen, machen Jazzgymnastik, besuchen Tanzkurse, bevölkern Fitness-Studios und Schwimmbäder. Dahinter steckt nicht nur Gesundheitsbewusstein, eine Mode oder Geschäftssinn, sondern auch der elementare Wunsch nach Bewegung. Manche fühlen den so unbändig, dass sie zu unchristlich früher Stunde aufstehen. Ich habe den Verdacht, dass man das mit allen Appellen an die Vernunft nicht erreichen könnte.

Bei mir ginge das jedenfalls nicht. Wie war das noch: Schnell wie ein Windhund, zäh wie Leder, hart wie Krupp-Stahl…? Auch im Spaß wiederhole ich solche Parolen aus der Nazizeit nicht gern. Meine Abneigung gegen jeden Drill sitzt tief. Ich mache lieber lange, ausgedehnte Spaziergänge und Wanderungen, bei jedem Wetter, mit weit ausholenden, kräftigen Schritten. Der Kopf wird klar, die Lunge weitet sich, die Beine sind dankbar für die Bewegung. Der Mensch ist zum Laufen geboren. Ganz gleich, was man tut und wie man sich bewegt: „Die Bewegung des Leibes und der Glieder ist dem Leibe und der Seele gesund“, wussten schon die Gebrüder Grimm.

Dabei geht es nicht um sportliche Höchstleistungen. Es ist die Freude an der ungebundenen, spielerischen Bewegung, die mich und andere treibt. Wäre es anders, könnte ich mir auch nicht vorstellen, warum gerade so viele ältere Menschen sich mit einem Genuss bewegen, der früher als würdelos gegolten hätte. Ein ziemlich dummes Sprichwort darüber ist „Tanz und Spiel will ein Ziel“. Das Wesen von Tanz und Spiel ist doch gerade in Tanz und Spiel selbst zu suchen! Das Freie, das Zweckfreie, macht ja den tiefsten Grund der Freude daran aus, das Einfache, das Archaische.

Die Bewegung ist uns in die Wiege gelegt – auch das Wort „Wiege“ ist noch darin enthalten. Auch der „Weg“ und das Schwingen der Waage. Wenn ich andere Menschen frage, warum sie sich gern bewegen, bekommt ich die verschiedensten Antworten. Zwei Dinge kommen aber fast immer dabei vor: Der Spaß am freien Spiel und ein gutes, oft neues Körpergefühl durch das Beherrschen oder Überwinden von Widerständen. Das kann Kraft bedeuten, Sicherheit, aber auch Grazie, Schönheit, Ebenmaß, Ästhetik.

Alle großen Dinge sind einfach. Aber nicht alle einfachen Dinge sind leicht zu erklären. Vielleicht kann man sich auch mit dem Genuss begnügen, den sie bringen. Der russische Schriftsteller Vissarion Belinski hat schon im vorigen Jahrhundert geschrieben: „Alles Vernünftige hat seinen Ausgangspunkt und sein Ziel: Die Bewegung ist die Äußerung des Lebens, das Ziel ist der Sinn des Lebens.“

Die körperliche Bestätigung dafür, dass ich lebe, gehört einfach zu meiner Lebensfreude. Wer das versteht, begreift auch, warum Menschen sogar im Rollstuhl Sport treiben. Leben ist Bewegung. Wer sich nicht mehr bewegt, ist tot.

Armut und Würde
Die Würde des Menschen ist unantastbar

(Artikel 1 Gundgesetz)

„Nicht wer wenig hat ist arm, sondern wer viel wünscht“, schrieb der römische Philosoph Seneca. Passt dieser Gedanke noch in die Konsumwelt von heute? Werbung und Medien wecken ständig neue Wünsche. Auch Erziehung und kulturelle Tradition erzeugen den Wunsch, bestimmten Vorbildern zu genügen. Welche dieser Wünsche sind berechtigt und welche nicht? Der Staat hat ebenfalls Wünsche. Seine Bürger sollen auf eigenen Füßen stehen, nach Möglichkeit Steuern zahlen und am öffentlichen Leben teilnehmen durch ihr Engagement im Ehrenamt, in Kultur und in politischen Parteien. Was aber, wenn immer mehr Menschen das möchten, aber gar nicht können, weil ihre Arbeit zu wenig einbringt oder weil sie krank sind?

Als arm gilt, wer lebenswichtige Grundbedürfnisse nicht befriedigen kann: Körperliche Grundbedürfnisse wie Essen, Trinken, Schlaf und Gesundheit; geistige Grundbedürfnisse wie Sicherheit, Anerkennung und Teilhabe an kulturellen und politischen Leben. Wenn das Einkommen unterhalb der sogenannten Armutsgrenze liegt, ist die freie Gestaltung des Lebens unmöglich. Deshalb haben Armut und Würde viel miteinander zu tun. Der Obdachlose, der im Pappkarton schläft, ist in dieser Entscheidung nicht mehr frei.

Noch vor 200 Jahren galt Armut grundsätzlich nicht als gesellschaftlich verursacht, sondern als persönlich verschuldet oder gar "gottgewollt". Mit der Industrialisierung wuchs in Europa eine andere Einsicht: Armut als Massenphänomen ist ein Ergebnis von Verteilungsprozessen und somit ein politisches Problem. Arm wird man vor allem durch Arbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung und sehr ungleiche Einkommen. Im ersten Armutsbericht der Bundesregierung von 2001 heißt es: „Der Begriff Armut entzieht sich wegen seiner Vielschichtigkeit einer allgemeingültigen Definition.“

 

Der Siegener Soziologe Rainer Geißler untersucht die Wohlstandsgesellschaft. Er hält es für typisch, dass in Wohlstandsgesellschaften die Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen zunimmt. Was Armut wirklich ausmacht, bleibt umstritten. Unumstritten steht aber fest:

Erstens ist Armut in entwickelten Gesellschaften relativ, also keine Frage des nackten Überlebens mehr – wie noch in vielen Ländern der Dritten Welt –, sondern eine Frage des menschenwürdigen Lebens. Zweitens: Armut bedeutet in jeder Gesellschaft und zu jeder Zeit etwas anderes. Drittens: Armut ist auch ein soziales Problem. Sie bedeutet nicht nur den Verlust existenzieller Chancengleichheit, sondern auch den weitgehenden Ausschluss von der Teilnahme am gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Leben. Dies bleibt nicht ohne psychische Folgen, unter denen nicht nur die Betroffenen selbst leiden. Auch diese Form der Entwürdigung, nicht nur die durch Gewaltverbrechen, meint das deutsche Grundgesetz mit Artikel 1, der lautet „Die Würde des Menschen ist unantastbar“.

Die Idee der Menschenwürde ist historisch gewachsen. Teile davon finden sich schon in der Antike und in der Gründerzeit aller Weltreligionen. Dazu zählt etwa der Gedanke, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind. Seit der Reformation gehört Gewissensfreiheit zur Menschenwürde. Aus der Aufklärung stammt die Einsicht, dass nur Freiheit, Gleichheit und Menschenwürde den Frieden sichern. Heute sind wir davon überzeugt, dass eine Demokratie die Menschenwürde am besten sichert. Doch der Demokratie droht die Pleite, wenn es immer weniger Steuerzahler gibt. Firmen sind nicht demokratisch organisiert und meist mehr am Gewinn als am Gemeinwohl orientiert. Nur sie können aber wirklich Arbeitsplätze schaffen. Zur Zeit jedoch tun viele das Gegenteil und flüchten aus der Verantwortung fürs Gemeinwohl.

Der Philosoph Immanuel Kant hat die Menschenwürde an sich definiert. Danach wird die Menschenwürde verletzt, wenn ein Mensch einen anderen bloß als Mittel für seine eigenen Zwecke benutzt – etwa durch Leibeigenschaft, Sklaverei, Unterdrückung oder Betrug. Das ist der Kern einer absoluten, objektiven Moral. Große Teile der Wirtschaft verhalten sich aber heute so, als wäre die Arbeitswelt ein moralfreier Raum, und deshalb häufen sich Armut und Verstöße gegen die Menschenwürde, die laut Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes unantastbar ist.

Die Menschenwürde wird auch verletzt, wenn die Opfer anonym bleiben – also bei Markentyrannei, Versicherungsbetrug, Steuerhinterziehung oder Missbrauch der Sozialsysteme. Ich finde, solchen Missbrauch treibt nicht nur der Empfänger von Arbeitslosengeld, der zugleich schwarz arbeitet. Eigentlich tun das auch – bisher ganz legal – Konzerne, wenn sie „Beschäftigungsgesellschaften“ für entlassene Mitarbeiter bilden, deren Gehälter hauptsächlich die Bundesagentur für Arbeit aus Steuermitteln und aus der Arbeitslosenversicherung zahlt.

Nach wie vor wäre in Deutschland Wohlstand für alle möglich. Doch zu viele sind z. B. einfach nicht bereit, auf Schwarzarbeit zu verzichten und ehrlich ihre Steuern zu zahlen. Zu wenige von denen, die wirklich viel haben, sind bereit zu teilen und sich etwa mit kleineren Gewinnspannen zufrieden zu geben. Sie schätzen Menschen nur als Kunden, aber nicht als Mitarbeiter. So entsteht Überfluss hier und Armut dort, hier ein menschenverachtendes Über-Ego, dort verletzte Menschenwürde.

Grundbedürfnisse und Gerechtigkeit

Was ist ein menschenwürdiges Leben? Gerade weil wir in einer weit entwickelten Gesellschaft leben, zeigt sich in schlechten Zeiten der Konflikt zwischen Armut und Würde: Hohe gesetzliche Standards, die sich auf moralische Grundwerte berufen, haben hohe Erwartungen an die Bürger und an die Sozialsysteme geschaffen. Doch jetzt muss gespart werden. Wie kann man aber soziale Standards senken, ohne die Menschenwürde zu verletzen? – Indem man sie bei allen und angemessen senkt, d.h. gemessen an dem, was wirklich notwendig ist.

Niemand regt sich auf, wenn ein Manager zehn Mal so viel verdient wie seine Angestellten. Aber 300 oder gar 1000 Mal mehr, das ist mit Leistung oder „Verantwortung“ nicht mehr zu begründen. Manchmal sind Entlassungen notwendig. Sie sind aber fragwürdig, wenn gleichzeitig die Managergehälter weiter so hoch bleiben. Es kann auch notwendig sein, ein Kaufhaus zu schließen oder mitsamt den Mitarbeitern zu verkaufen. Aber wenn es in einem angeschlagenen Konzern Gewinne macht? Alles nur auf Druck der Banken?

Ein anderes Beispiel: Bezahlter Urlaub ist notwendig. Aber kein moralischer Standard legt den Anspruch auf 30 oder 20 Urlaubstage fest. Darüber sollte man reden können, wenn es gute Gründe gibt. Ohnehin verdient kaum jemand so viel, dass er es sich leisten könnte, 30 Tage lang auch wirklich Urlaub zu machen, d.h. etwa zu verreisen oder sich zum Beispiel in einem Hotel verwöhnen zu lassen, wo man sich tatsächlich erholen kann. Auch wer in eine billige Pension für 30 EURO am Tag geht, muss für drei gute Mahlzeiten am Tag noch einmal 40 EURO am Tag drauflegen. 70 x 30 macht aber schon 2100 EURO in 30 Tagen – pro Person, ohne Reisekosten und Trinkgelder. Für ein Paar oder gar für eine Familie ist meist gar nicht daran zu denken. 30 Tage Sommerfrische? - Für Durchschnittsverdiener unmöglich.

Was unbedingt zu einem menschenwürdigen und "anständigen" Leben gehört, ist umstritten. Denn wer definiert, was dazu gehört? Die meisten dieser Definitionen stammen von „Fachleuten“, die eigentlich Interessenvertreter der einen oder der anderen Seite sind. Doch ein „runder Tisch“, bei dem jede Gruppierung gleichberechtigt ist, macht bei moralischen Fragen nur Sinn, wenn alle die gleichen Überzeugungen zu bestimmten Grundwerten haben. Und das ist bei existenziellen Fragen von Armut und Würde nicht der Fall.

Allenfalls entsteht ein ausgewogenes, repräsentatives Meinungsbild. Das aber ist deshalb noch nicht demokratisch legitimiert oder gar gerecht. Ein repräsentatives Meinungsbild kann auch entstehen, wenn man kritiklos die gesammelten Vorurteile aller Interessengruppen in den Medien abbildet. Bei den erwähnten „Fachleuten“ allgemein anerkannt ist die Bedürfnispyramide, die der amerikanische Psychologe Abraham Maslow 1968 als Modell zur Beschreibung menschlicher Motivationen entwickelt hat. Die Stufen der Pyramide bilden menschliche Bedürfnisse. Doch wer genauer hinschaut, dem kommen schnell Fragen. Denn so einfach, wie die Pyramide aussieht, ist das Leben dann doch nicht.

Auf der ersten Stufe stehen körperliche Grundbedürfnisse: Essen, Trinken, Schlaf, Sex, Gesundheit. Hier scheint alles klar zu sein. Doch halt: Schlafforscher wissen: das tatsächliche Schlafbedürfnis weicht oft vom subjektiv gefühlten Schlafbedürfnis ab. Und so stark der Sexualtrieb auch ist, erfüllte Sexualität bleibt ein Glück, zu dem immer zwei gehören. Auch ein Recht auf Gesundheit gibt es nicht – höchstens ein Recht auf Schutz vor unnötigen gesundheitlichen Schäden oder Risiken. In unseren Breiten müsste man diese Grundbedürfnisse übersetzen in gesunde, ausreichende Ernährung, angemessene Kleidung für jede Jahreszeit und eine bezahlbare Wohnung mit funktionierender Heizung. Damit aber haben schon viele Zeitgenossen auch in Deutschland erhebliche Defizite. Nach der in vielen Pflegeheimen üblichen Maxime „Satt und sauber“ kommt man also nicht weit.

Auf der zweiten Stufe der Bedürfnispyramide steht der Wunsch nach Sicherheit: Haus, Job, Versicherungen, Zukunftsaussichten, Religion. So berechtigt diese Wünsche auch sind, ein Recht auf ihre Erfüllung gibt es nicht – außer beim Recht auf freie Religionsausübung. Mit so starken Triebkräften spielt man nicht ungestraft. Wie oft reden uns Werbung oder öffentliche Meinung ein, jedem müsse alles möglich sein? Sicherheit: da fallen vielen Beschäftigten nur noch zynische Bemerkungen ein. Zukunftsaussichten? – Rabenschwarz. Versicherungen? – Nur wenn du sie bezahlen kannst, und solange sie nicht zahlen müssen!

Auf der dritten Stufe von Maslows Bedürfnispyramide stehen soziale Beziehungen: Partnerschaft, Freundeskreis, alle Formen sozialer Kommunikation von Kneipe und Sportverein bis hin zum Besuch der Oper. Darauf hat der Mensch als soziales Wesen bei uns ein Recht. Armut dagegen macht oft tatsächlich depressiv und einsam. Wie ist das mit Würde vereinbar?

Auf der vierten Stufe wird es richtig problematisch: Soziale Anerkennung, die sich in Karriere, Status und Macht äußert, ist niemals einklagbar. Welch ein armseliger Irrtum, wenn jemand seine Selbstachtung davon abhängig macht!

Auf der fünften Stufe siedelt Maslow die Selbstverwirklichung an. Dazu gehören für ihn alle höheren geistigen Bedürfnisse wie Talententfaltung und Güte, aber auch Identität oder das Streben nach Selbstlosigkeit: für Maslow ein Luxus, nicht etwa die Grundlage sozialer Beziehungen. Wo aber Selbstlosigkeit als Luxus gilt, finde ich, wird Ungerechtigkeit die Regel.

Vor allem seelisch-geistige Grundbedürfnisse wie Kreativität und Selbstachtung sind stark gesellschaftlich geprägt. Doch ein Grundrecht auf das „Streben nach Glück“, wie es die amerikanische Unabhängigkeitserklärung kennt, ist etwas anderes als ein Grundrecht auf Glück. Das gibt es nicht, kann es gar nicht geben! Sondern Soziale Gerechtigkeit kann in diesem Zusammenhang nur heißen, dass jeder eine faire Chance bekommt, auch in Zeiten des Wandels seinen Platz in der Welt zu finden und nicht von der Zukunft ausgeschlossen zu werden.

Nur ein Kommunikationsproblem?

Worüber reden wir bei "Armut und Würde"? Und wie reden wir darüber – oder wie eben auch nicht? Reden wir zum Beispiel einmal über verdeckte Armut. Die heimlichen Armen sind Menschen, die mit weniger auskommen, als § 21 des Bundessozialhilfegesetzes vorsieht. Er regelt unter anderem die Ansprüche auf Kleidung: Pro Jahr zwei Hosen und ein Jackett, einen Schlafanzug, drei Paar Socken, drei Hemden, ein Paar Schuhe und sechs Paar Unterhosen. Für Damen gibt´s etwas mehr. Männer brauchen weder Strumpfhosen noch BHs. Das so genannte Kleidergeld wird oft als Pauschale ausgezahlt: für Frauen rund 350 und für Männer 300 € im Jahr. Das ist keine richtige Armut mehr.

Ich kenne Menschen, die hart arbeiten und so wenig verdienen, dass sie sich die letzte Jacke und den letzten Pyjama vor zehn Jahren, die letzte Hose vor fünf und die letzten Schuhe vor drei Jahren kaufen konnten. Socken oder Unterwäsche kaufen sie grundsätzlich bei Billiganbietern. Viele von ihnen wären glücklich über ein solches Budget allein für Kleidung, wie es die Sozialhilfe bietet. Aber dafür müssten sie vor möglicherweise hämischen Behördenaugen zuvor die letzte Unterhose fallen lassen. Diese schlecht bezahlten Menschen zahlen stattdessen Steuern und finanzieren damit Sozialleistungen für andere. Kann man den Beziehern von Sozialleistungen wirklich nicht zumuten, was diesen Steuerzahlern zugemutet wird? Sollten Berufstätige nicht deutlich mehr in der Tasche haben als Sozialhilfeempfänger?

Vor allem bei Alleinerziehenden und Teilzeitbeschäftigten sind auskömmliche Nettolöhne eine Milchmädchenrechnung. Sie berücksichtigen einfach nicht, was das Leben kostet, ganz abgesehen von den happigen Abzügen auch schon bei kleinen Einkommen. Ein lediger Arbeitnehmer mit 1.774 € brutto im Monat hat es sehr schwer, seine Würde zu wahren, wenn er nicht mehr in der Tasche hat als ein Langzeitarbeitsloser mit einem Zwei-Euro-Job in Vollzeit. Die Abgabenlast für kleine und mittlere Einkommen ist unangemessen.

Das macht Wut und Verbitterung bei den Betroffenen verständlich. Wenn wir zu Hause über Armut und Würde reden, dann meistens über solche Fälle in Familie, Nachbarschaft, Freundes- und Bekanntenkreis. Über konkrete Nahaufnahmen regen sich die Menschen auf. Richtige Armut verletzt ihr Gefühl für Gerechtigkeit, auch wenn sie persönlich besser dran sind.

Oder wir reden über Armut, die weit weg ist: Auf unterschiedliche Weise blenden wir Armut aus. Betroffene verdrängen ihre Lage. Nichtbetroffene reden mitleidig über die Probleme der Dritten Welt, lassen sie aber nur selten an sich heran, zum Beispiel nach der Flutkatastrophe in Asien. Andere bedecken ihre soziale Scham mit irgendeinem Feigenblatt nach dem Motto: Die Welt ist in Ordnung, so lange nur in den eigenen vier Wänden, in der eigenen Familie, auf dem eigenen Konto alles stimmt. Schon der Liedermacher Franz Josef Degenhardt hatte für diese Menschen den Rat: „Spiel nicht mit den Schmuddelkindern, sing nicht ihre Lieder! Geh doch in die Oberstadt, mach´s wie Deine Brüder!“

 

Anscheinend haben ihn viele seiner Zuhörer nicht ironisch, sondern wörtlich und damit falsch verstanden. Denn: Wer es sich leisten kann, lässt seine Kinder behütet aufwachsen und beileibe nicht mit jedem spielen. Sie werden zur Schule und wieder nach Hause chauffiert, zum Sport, zur Nachhilfe und zum Musiklehrer. Da kommen sie nie mit den Schmuddelkindern zusammen, auch nicht im Bus.

Viele Eltern verhalten sich aus Sicherheitsgründen so. Damit geben sie zu, wie dramatisch groß und tief die Kluft inzwischen ist zwischen Oben und Unten. Ein neues Klassenbewusstsein herrscht. Man bleibt wieder gern unter sich und hält sich unkritisch an alte Weisheiten. Eine davon ist heute besonders bitter: „Wer Arbeit will, findet auch welche“. Ja, aber was für eine?

Wir müssen mehr über Armut und Würde reden. Über falsche und echte Armut, über Zumutungen. Über offizielle, um die sich der Staat kümmert, und verdeckte, nach der kein Hahn kräht. Wir müssen auch über die Frage sprechen, wie viel finanzieller Spielraum für wen „angemessen“ ist. Sind alle Bedürfnisse gleichberechtigt? – Wohl kaum. Nur ein Beispiel: Wohlhabende Omas, die ihre Enkel maßlos verwöhnen, fördern damit ein falsches Markenbedürfnis. Die Vorstellung, es gebe einen Anspruch auf Überfluss, ist unangemessen. Und dann gibt es tatsächlich Sozialrichter, die Pendlern sagen, sie könnten an den fälligen Inspektionen sparen. Sichere Autos, eine Haushaltshilfe für Behinderte oder eine menschenwürdige Pflege für Pflegefälle sind aber kein Überfluss. Dafür wäre finanzieller Spielraum angemessen – und nicht Zynismus.