Das Ketzerweib

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Das Ketzerweib
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Werner Ryser

Das Ketzerweib

Roman


Für Philipp und Anna

Alle Rechte vorbehalten

© 2016 by Cosmos Verlag AG, CH-3074 Muri bei Bern

Lektorat: Regina Haener

Umschlag: Stephan Bundi, Boll

Satz und Druck: Merkur Druck AG, Langenthal

Einband: Schumacher AG, Schmitten

ISBN 978-3-305-00475-1

eISBN 978-3-305-00495-9

www.cosmosverlag.ch

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Nachwort

Dominik Bernet: Das Gesicht

Lea Gafner: Die Nonne tanzt

1

Am Abend des 28. April 1693, es war ein Dienstag, stieg die Täuferin Anna Jacob, die auf dem Auenhof am Rand der Schwemmebene westlich von Langnau lebte, hinauf auf die Dürsrüti. Ihr Weg führte sie an der Hüselmatte vorbei, wo Christine Bärtschi, die beim Chorrichter Bürki als Magd angestellt war, im Gemüsegarten mit einer Hacke die Erde lockerte. Bis vor sechs Jahren hatte sie auf dem Auenhof gedient und war dann im Unfrieden von Anna geschieden. Jetzt richtete sie sich auf und starrte der ehemaligen Meisterin nach.

Anna war unterwegs zu den Baumgartners, die oben am Waldrand ihren Hof bewirtschafteten. Rund zwei Dutzend Leute, eine Brüdergemeinde aus Bauern und Handwerkern mit ihren Frauen, ihren Knechten, Gesellen und Mägden versammelten sich dort in der grossen Stube um den Täuferlehrer Caspar Lüthi aus Längenbach. Lüthi hatte 1688 die damals achtundzwanzigjährige Anna getauft. Inzwischen war er alt geworden. Sein Haar, das über Stirn und Ohren fiel, und sein Bart waren weiss. Das Leben hatte zahlreiche Falten in sein Gesicht gegraben. Jung geblieben waren nur seine strahlend blauen Augen. Er öffnete eine grosse Bibel, die vor fast zweihundert Jahren in der Offizin Froschauer in Zürich gedruckt worden war. «Denn wer sein Leben will behalten, der wird’s verlieren», las er daraus vor, «und wer sein Leben verliert um meinet- und des Evangeliums willen, der wird’s behalten.» Die kleine Gemeinde von Altevangelischen schwieg bedrückt. Obrigkeit und Kirche kannten ihnen gegenüber keine Gnade. Dass sie, unter Berufung auf die Schrift, die Erwachsenentaufe praktizierten und den Kriegsdienst ebenso verweigerten wie den Treueeid auf die Gnädigen Herren, machte sie zu Staatsfeinden. Fast jeder von ihnen hatte Angehörige oder Bekannte, die ins Gefängnis geworfen, gefoltert, verbannt oder zu einer Galeerenstrafe verurteilt worden waren.

Schliesslich ergriff Lüthi erneut das Wort: «Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn das Himmelreich ist ihrer», zitierte er Matthäus, der im 5. Kapitel seines Evangeliums die Seligpreisungen des Herrn schildert. Es entstand eine Diskussion. Fast alle äusserten sich. Ruhig und bedächtig die einen, erregt andere. Sie erzählten von ihrer Angst vor Verfolgung durch die Täuferjäger und davor, dass sie unter der Folter nicht standhaft bleiben und damit ihr ewiges Leben verspielen würden. Lüthi sprach ihnen Mut zu. Er schob sein weisses Haar aus der Stirne und zeigte allen sein Mal, den Berner Bären, den ihm der Henker im vergangenen Jahr auf die Haut gebrannt hatte.

«Ich bin verbannt worden», sagte er, «und wieder zurückgekommen. Als man mich fasste, wurde ich ausgepeitscht, gebrandmarkt und erneut aus dem Land gewiesen.» Er richtete sich auf und die Leute hatten das Gefühl, er wachse über sie hinaus. «Ich bin zum zweiten Mal zurückgekehrt. Wenn man mich verhaftet, werden sie mich wohl auf die Galeeren schicken. Aber der Herr spricht: Wer nicht sein Kreuz trägt und mir nachfolgt, der kann nicht mein Jünger sein

Mit leuchtenden Augen schaute Anna den alten Täufer an, der bereit war, das Martyrium auf sich zu nehmen. Auch die anderen schienen aus Lüthis Beispiel Mut zu schöpfen. Nach dem Wort des Evangelisten gab es nichts mehr zu sagen. Jemand stimmte ein Loblied an. Sie fassten sich an den Händen und sangen, so wie sie immer sangen, wenn sie sich gestärkt fühlten.

Später schlug der Alte vor, dass man zum Zeichen der brüderlichen Liebe und des Friedens gemeinsam das Brot breche, jenes ganz gewöhnliche Brot, das die Hausfrau am Morgen gebacken hatte, und dazu einen Becher Wein trinke. Alle wussten, dass es für die Staatskirche ein Sakrileg war, wenn ein Bauer oder ein einfacher Handwerker, wie es alle Täuferlehrer waren, das Abendmahl austeilte. Nach einem schlichten Gebet, in dem sie Gott um Standhaftigkeit anflehten, machte sich jeder und jede von ihnen auf den Heimweg. Auch Anna Jacob.

Es war schon spät. Anna zählte die Glockenschläge der Kirche von Langnau. Es waren sieben. Die Sonne versank am Horizont. Ihre letzten Strahlen vergoldeten die Kuppen der bewaldeten Hügel und tauchten die Felswände der Schrattenfluh in ein fahles Licht. Die Schwemmebene der Ilfis am Fuss der Dürsrüti lag im Schatten. In zahlreichen Nebenarmen und Bachläufen mäanderte der Fluss durch den Auenwald Richtung Nordwesten. Anna musste die Wildnis mit all ihren Wassern durchqueren, um zu ihrem Hof zu gelangen, der auf der anderen Seite der Ebene lag. Sie zog den Schal enger um ihre Schultern. Der schmale Pfad zwischen den Bäumen und den mehr als mannshohen Büschen war ihr nicht geheuer. Zumal jetzt im Dämmerlicht. Geschichten fielen ihr ein, alte Geschichten von den Seelen von Ertrunkenen, Selbstmördern und tot geborenen Kindlein, die als Irrlichter in den Erlenbrüchen spukten, um späte Wanderer vom Weg und in ihr Reich zu locken. Anna beschleunigte ihre Schritte. Hannes und Heini würden jetzt wohl dem Melker helfen, das Vieh zu versorgen, während die fünfzehnjährige Ursula die drei Jüngsten ins Bett brachte.

Als sie die Furt des Flusses überquerte, hörte sie aus der Ferne ein Horn und lautes Rufen. Sie wusste, was das bedeutete. Es gab in der Gegend ein ausgeklügeltes Alarmsystem, mit dem die Bevölkerung die Altevangelischen vor den im ganzen Land verhassten Täuferjägern warnte, wenn diese unterwegs waren. Sie blieb unschlüssig stehen. Zuhause in ihrer Schlafkammer gab es eine mit blossem Auge kaum erkennbare Scheinwand, hinter der sie sich bei Gefahr verbergen konnte. Aber möglicherweise waren die Leute des Landvogts bereits dort und warteten auf sie. Ihre sechs Kinder brauchten nichts zu fürchten. Sie waren alle nach der Geburt getauft worden und keines von ihnen hatte sich bisher für den Glauben der Mutter entschieden. Sie hatte sie auch nie dazu gedrängt. Täuferin oder Täufer wurde man nicht auf Wunsch der Eltern, sondern aus freiem Willen.

Noch immer stand Anna mit geschürztem Rock im Fluss, dessen Wasser ihre Beine bis zu den Knien umspülte. Sie konnte nicht ewig hier bleiben. So watete sie ans Ufer und kletterte über den mächtigen Stamm einer umgestürzten Silberweide, unter deren Geäst sie Schutz suchte. Sie würde wohl einige Stunden hier bleiben müssen, der Nacht und ihren Geräuschen preisgegeben. «Der Herr ist mein Hirte», murmelte sie, «mir wird nichts mangeln.» Sie kannte den 23. Psalm auswendig. Er war ihr immer tröstlich erschienen. «Er weidet mich auf einer grünen Aue», betete sie weiter. Dann hielt sie inne. Sie hörte jetzt Rufe, die vom Abhang der Dürsrüti her näher kamen. Auch Hundegebell war zu vernehmen. Vorsichtig erhob sie sich. Es war inzwischen dunkel geworden. Sie sah Fackeln, die sich Richtung Ebene bewegten. «Er erquicket meine Seele», flüsterte sie hastig und verbarg sich tief unter den Zweigen der Silberweide. «Er führet mich auf rechter Strasse um seines Namens willen.» Sie verstummte.

Die Täuferjäger waren in den Auenwald eingedrungen. Die Stimmen waren jetzt ganz nah. «Die Ketzerhure muss sich hier irgendwo verstecken», sagte einer, «so lange kann sie noch nicht unterwegs sein. Wir haben gesehen, wie sie den Hof der Baumgartners verliess.»

Anna wagte nicht, sich zu rühren. Sie hatten auf sie gewartet, oben auf der Dürsrüti. Aber woher wussten sie, dass sie an der Lesung teilgenommen hatte? Wer hatte sie verraten und weshalb?

«Hättest du besser aufgepasst», murrte der Zweite, «wären wir mit ihr bereits unterwegs ins Schloss. Ich kann nur hoffen, dass der Hund sie aufspürt.»

Jetzt hörte Anna das Hecheln des Tieres und nun wusste sie auch, wer ihr Verfolger war: Balz Wüthrich, der Büttel des Landvogts. Er folterte im Auftrag der Obrigkeit Gefangene, vollzog Körperstrafen und ging dem Berner Scharfrichter zur Hand, wenn es galt, einen Emmentaler zu köpfen, zu hängen oder zu rädern. Wo immer er in den Dörfern auftauchte, ging man ihm aus dem Weg und kreuzte heimlich die Finger. Er war durch und durch verdorben. Mütter warnten ihre ungehorsamen Kinder: «Der Wüthrich wird dich holen!» Annas Herz klopfte bis zum Hals. Täuferjäger! Und sie war das Wild. Am liebsten wäre sie davongerannt. Aber sie wusste: dann würde man sie hören und fangen. Ihre Lippen bewegten sich lautlos: «Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich.»

 

«Lass den Hund los», hörte sie Wüthrich sagen, «vielleicht findet er ihre Spur. Sie muss diesen Pfad genommen haben.»

Und dann ging alles sehr schnell. Anna sah über sich einen riesigen Schatten. Das Geäst der Silberweide, unter dem sie sich verborgen hatte, brach krachend. Vor ihr stand der Hund. Er erschien ihr riesig. Er fletschte die Zähne und gab Laut. Anna erstarrte.

«Wir haben sie.» Das war Wüthrichs Kumpan. «Komm heraus, du Hexe, oder müssen wir dich holen?»

Anna erhob sich, kletterte über den Stamm der Weide und stand vor den beiden Männern.

«Deine Hände!» Das war Wüthrich. Er schloss ihre Gelenke in eiserne Fesseln und befestigte an der Kette, die die Schellen verband, einen Strick. «Komm! Wir haben keine Zeit, wir müssen verschwinden, bevor deine Leute versuchen, dir zu helfen.» Tatsächlich war es schon mehr als einmal vorgekommen, dass Freunde oder Verwandte Täufer, die bereits festgenommen worden waren, wieder befreit hatten.

In der verzweifelten Hoffnung, man würde sie hören, stiess Anna einen Schrei aus. Wüthrich gab ihr eine Maulschelle. «Sei still», zischte er. Sie wehrte sich, riss am Strick, an den sie gebunden war, trat mit den Füssen um sich. Während einer der beiden Häscher sie festhielt, stopfte ihr der andere sein schmutziges Halstuch in den Mund. Dann legten sie die Männer über den gestürzten Weidenstamm und verprügelten sie mit Ruten, die sie aus seinem Geäst geschnitten hatten. Mit ihren gefesselten Armen versuchte Anna ihren Kopf zu schützen. Vergeblich. Die Schläge prasselten auf sie ein. Das Tuch in ihrem Mund erstickte ihre Schreie.

«Hast du genug?», knurrte Wüthrich nach einer halben Ewigkeit. Sie nickte. Er stellte sie auf die Füsse und zerrte sie hinter sich her wie eine Kuh, die man zum Markt führt.

Es war ein langer und beschwerlicher Weg, den Anna Jacob in dieser Nacht zu gehen hatte. Sie war barfuss. Die Schuhe hatte sie ausgezogen, als sie die Furt überquerte, und dann unter der Silberweide abgelegt. Es war dunkel. Sie konnte den Pfad, der dem Lauf der Ilfis folgte, kaum erkennen. Zweige schlugen ihr ins Gesicht. Als sie einmal hinfiel, gab ihr Wüthrichs Begleiter, den sie nicht kannte, einen Fusstritt. «Steh auf, du faules Luder», fauchte er, «du wirst noch lange genug liegen können.» Sie rappelte sich hoch. Ihre Häscher hatten es eilig. Keuchend stolperte sie hinter ihnen her. Sie kannte den Weg zum Schloss Trachselwald, dem Sitz des Landvogts. Sie war ihn oft gegangen. Allerdings nie bei Nacht und nie als Gefangene. Der Schweiss, der ihr von der Stirne rann, brannte in ihren Augen. Oder waren es Tränen?

Sie passierten die Stelle, wo die Ilfis in die Emme mündet. Eine Stunde später beschlossen die Männer, eine Rast einzulegen. Anna banden sie an einen Strauch. Sie hockte sich nieder und liess Wasser. Die beiden Häscher schauten ihr gleichgültig zu. «Lasst mich laufen», flehte sie. «Ich bezahle euch das Doppelte von dem, was ihr für mich bekommt.»

Die Männer lachten. «Du wirst bald kein Geld mehr haben», sagte Wüthrich. «Man wird dir dein Hab und Gut nehmen, wie allen, die sich gegen Gott und die Obrigkeit versündigen.» Er riss an ihrem Strick. «Komm, es geht weiter.»

Kalt und fern wölbte sich der Nachthimmel, an dem Myriaden von Sternen in ihrer funkelnden Pracht ihre Bahn zogen, unberührt vom Schicksal der Menschen unter ihnen, die für sie nicht mehr waren als Staub in Zeit und Raum. Kurz vor Ramsei wandten sich die Täuferjäger mit ihrer Gefangenen Richtung Norden. Die zwei Männer unterhielten sich halblaut miteinander. Anna nahm ihre Worte nicht wahr. Sie starrte in die Dunkelheit. Drüben, am Fusse des Ramseibergs lag der Waldhof, wo sie aufgewachsen war. Sie konnte die Konturen des Hauses erkennen. Der Hof wurde jetzt von ihrem jüngsten Bruder bewirtschaftet, der ihn, wie das im Bernbiet üblich war, geerbt hatte. Der Hund, der die drei nächtlichen Wanderer gehört haben musste, bellte ihnen nach. Sie hatten inzwischen das Tal der Grüene erreicht. Ein Käuzchen schrie. Anna nahm den Ruf des Totenvogels als schlechtes Omen. Sie war verzweifelt und erschöpft. Mit ihren blossen Füssen wurde jeder Schritt zur Qual. Die Eisenschellen hatten ihre Handgelenke wund gescheuert. Kurz nach Mitternacht wuchsen vor ihnen drohend Ringmauer, Palas und Bergfried von Schloss Trachselwald in die Höhe. Sie stiegen den Burghügel hinauf.

Ein Wächter öffnete ihnen das Tor und liess sie eintreten. Mit einer Fackel leuchtete er Anna ins Gesicht. Sie schloss die Augen. Wüthrich gab ihm den Strick, an den Anna gebunden war. «Bring sie ins Loch», befahl er.

2

Der Mann führte sie über den Schlosshof. Durch eine Tür im Bergfried kamen sie zu einer Treppe. Sie musste vor ihm hergehen. Im flackernden Licht der Fackel nahm sie düstere Mauerquader wahr. Im ersten Stockwerk erkannte sie zwei Türen aus schweren Eichenbalken. Der Eingang zu den gefürchteten Verliesen von Trachselwald. Eines von ihnen öffnete er. «Bück dich», brummte er und stiess Anna hinein. Dann nahm er ihr die Handfesseln ab und legte ihr stattdessen eine eiserne Schelle um das rechte Fussgelenk. Sie war mit einer schweren, in der Wand verankerten Kette verbunden. «Du bist nicht die Erste, die hier einsitzt», sagte er. Sollte das ein Trost sein? Er ging hinaus, schlug die Tür hinter sich zu. Anna hörte, wie sich ein Schlüssel im Schloss drehte und ein Riegel vorgeschoben wurde. Dann Stille.

Es war stockdunkel. «Finster wie in einer Kuh», fiel ihr ein. Sie wusste nicht, weshalb sie sich ausgerechnet jetzt daran erinnerte, dass ihr Vater, der längst tot war, ab und zu diese Redewendung gebraucht hatte. Ihre Hände ertasteten Wände. Sie standen nah beieinander. Drei Schritte in die Länge. Drei Schritte in die Breite. Die Hälfte des Raums beanspruchte ein roh gezimmertes Lager. Darauf lag ein mit altem Stroh gefüllter Sack. Ihre Schlafstätte. Ein kleines vergittertes Fensterchen, kaum mehr als eine Luke.

Anna, deren Rücken von den Prügeln, die sie bezogen hatte, noch immer schmerzte, legte sich auf den Bauch. Sie barg ihren Kopf in der Ellenbeuge. Jetzt, wo sie allein war, gab sie sich ihrem Elend hin. Tränen flossen über ihre Wangen. «Lieber Gott, hilf mir», schluchzte sie. Immer wieder: «Lieber Gott, hilf mir.»

Und mit einem Mal war ihr, als sitze ihr Mann an ihrem Lager und halte ihre Hand, wie er es früher immer getan hatte, wenn sie traurig war oder verzagt. «Ueli», flüsterte sie. Ramsei, Palmsonntag, 11. April 1677. Die siebzehnjährige Anna Eggimann war früh aufgestanden. Sie hatte in der Nacht kaum geschlafen. Heute sollte sie den Mann heiraten, den ihr Vater für sie ausgesucht hatte: Ueli Jacob. Man hatte sie nicht gefragt, ob sie ihn wolle. Weshalb auch? Ein Mädchen konnte froh sein, wenn sie nicht ein Leben lang auf dem elterlichen Hof dem jüngsten Bruder als Magd dienen oder anderswo fremdes Brot essen musste.

Ueli Jacob gehörte der Auenhof, ein grosses Gut am Rand der Schwemmebene bei Langnau. «Du hast Glück», sagte ihre Mutter, die ihr das dunkle Haar zu einem Zopf flocht. «Du wirst Bäuerin.» Anna hatte die Festtagstracht schon am Abend zuvor bereitgelegt. Sie schlüpfte in den langen schwarzen Rock, der sich über dem Hüftpolster, dem, wie man ihn nannte, «Weiberspeck», bauschte und dann bis fast zu den Knöcheln fiel. Über das blendend weisse Hemd legte sie ein dunkelrotes Mieder. Ihre Mutter schnürte es so eng, dass Annas Taille noch schlanker erschien, als sie es ohnehin war. Dann setzte sie der Braut das weisse, mit Spitzen besetzte Häubchen vorsichtig auf den Kopf. Die Mutter zog aus ihrer Schürze eine Halskette aus schwerem, glänzendem Silber und gab sie der Tochter. «Dein Ueli soll sehen, dass seine Braut aus rechtem Haus kommt», sagte sie.

Anna hielt den Atem an. Sie hatte noch nie so etwas Wertvolles besessen. «Ist die wirklich für mich?», fragte sie schliesslich.

«Sie gehört dir nur auf Zeit, mein Kind. Schon meine Grossmutter und meine Mutter haben sie getragen. Auch du wirst sie deiner ältesten Tochter weitergeben, wenn sie sich einmal verheiratet.» Sie nahm ihr die Kette aus der Hand und legte sie Anna um den Hals.

Zwei Stunden später stieg die ganze Familie in den offenen Leiterwagen, der, wie die beiden Ackergäule, die ihn zogen, mit Blumen und Laub geschmückt war. Während sich die Braut auf den Kutschbock neben den Vater setzen durfte, nahmen die Mutter und die sechs Geschwister auf der Ladefläche Platz, wo man mit zwei Brettern eine behelfsmässige Sitzgelegenheit eingerichtet hatte.

Sie fuhren der Emme entlang flussaufwärts. Das Land mit seinen dunklen Tannenwäldern und seinen steilen Hügeln, auf deren Kuppen oft einsame Linden sich vom Horizont abheben, begrüsste den Frühling. Oben in den Bergen war der Schnee geschmolzen. Das Sonnenlicht brach sich im Wasser des Flusses, dessen Bett bis zum Rand gefüllt war. Er liebkoste die herunterhängenden Zweige der Weiden. Der Auenwald trug bereits sein hellgrünes Kleid und auf den Wiesen streckten die ersten Schlüsselblumen ihre gelben Köpfchen aus der Erde. Die Luft war erfüllt vom Gesang der Vögel. Am zartblauen Himmel, an dem zwei Bussarde ihre Kreise zogen, segelten hauchdünne Federwolken nach Osten. Schon von weitem hörte die Hochzeitsgesellschaft die Kirchenglocken, die zum Gottesdienst riefen. Hinten im Wagen stand die fünfzehnjährige Lisa auf. Vorsichtig hob sie das Spitzenhäubchen vom Kopf ihrer Schwester und setzte ihr einen Brautkranz aus weissen Narzissen, die sie am frühen Morgen gepflückt hatte, auf das braune Haar. Anna lächelte.

Sie war noch so jung, damals. Noch fast ein Mädchen. Ihr Mann, der sechsunddreissigjährige Ueli Jacob war mehr als doppelt so alt wie sie. Zum ersten Mal hatte sie ihn ein halbes Jahr vor ihrer Hochzeit gesehen. Auf dem Viehmarkt in Langnau, wo ihm ihr Vater eine Kuh abgekauft hatte. Anna hatte ihn dorthin begleitet. Nach dem Handel hatten sie gemeinsam mit Ueli den Abschluss bei einem Becher Wein in einer Taverne gefeiert. Sie erinnerte sich noch, wie sie den grossen, hageren Mann verstohlen betrachtet hatte. Er war eine eindrückliche Figur. Sein dunkles Haar, das von einigen grauen Strähnen durchsetzt war, hatte er aus der zerfurchten Stirn gestrichen. Seine tief liegenden Augen und die beiden scharfen Falten, die von der Nase schräg zu den Mundwinkeln liefen, verliehen seinem Gesicht einen melancholischen Zug. Ein sorgfältig gepflegter Bart umrundete Wangen und Kinn, liess aber seine Oberlippe frei. Er sprach langsam, dachte vor jedem Satz nach, geizte mit seinen Worten. Als er die heimlichen Blicke des Mädchens bemerkte, musterte er sie lange. Dann bat er den Vater, sie hinauszuschicken. Er habe noch etwas mit ihm unter vier Augen zu besprechen. Verwirrt war sie aufgestanden und hatte die Gaststube verlassen.

Auf dem Rückweg nach Ramsei hatte der Vater geschwiegen. Manchmal hatte er geseufzt. Es war Anna, welche die Kuh am Halfter führte, nicht gelungen herauszufinden, was ihn beschäftigte. Er hatte ihre Fragen abgewehrt.

Am Abend, nach dem Essen, hatte er die Mutter aufgefordert, ihn zu einem Gang über die Felder zu begleiten. Anna sah den beiden aus dem Stubenfenster nach. Sie ahnte, dass man über sie sprach. Als sie zurückkehrten, sagten ihr die Eltern, dass sie beschlossen hatten, sie mit Ueli Jacob zu verheiraten.

Sie begann zu weinen, ohne zu wissen, weshalb. «Er ist ein guter Mann», tröstete sie die Mutter, «ein angesehener Mann. Er besitzt einen grossen Hof und ist Gerichtsäss.»

Am zweiten Weihnachtstag kam Ueli Jacob nach Ramsei. Er brachte einen goldenen Ring mit. Zur Verlobung. Man legte den Hochzeitstermin auf den Palmsonntag im kommenden Frühjahr fest.

Die Kirche von Langnau, in der sie getraut wurden, war vor vier Jahren eingeweiht worden. Die Gnädigen Herren von Bern hatten einen Neubau nach den Plänen ihres Münsterbaumeisters, Abraham Dünz, angeordnet. Auf der Kanzel prangte das Wappen von Samuel Frisching, der früher einmal Landvogt in Trachselwald gewesen war und inzwischen die Schultheissenwürde von Bern erlangt hatte. Die Obrigkeit war allgegenwärtig im Emmental. Auch der Pfarrer war von ihr eingesetzt.

 

Als der Prädikant, Johann Jakob Feer, nach der Predigt die Trauung vollzog und den Bräutigam fragte, ob er Anna Eggimann als seine Ehefrau lieben und die Ehe mit ihr nach Gottes Gebot und Verheissung führen wolle, in guten und in bösen Tagen, bis der Tod sie beide scheide, betrachtete die junge Frau den Mann, mit dem sie künftig zusammenleben würde, aus den Augenwinkeln. Sie empfand anders als damals im Gasthaus, wo sie ihn nach dem Viehhandel zum ersten Mal bewusst wahrgenommen hatte. Auch anders als bei der Verlobung, ihrer zweiten Begegnung. Jetzt wurde ihr bewusst, dass Ueli Jacob nicht nur als ihr Gatte, sondern auch als ihr Vormund jene Gewalt über sie haben würde, die bisher ihrem Vater zugestanden war.

Ueli schaute den Prädikanten konzentriert an. Seine Lippen bewegten sich, als spreche er die Worte nach, um sie sich besser einzuprägen. Auch er war festlich gekleidet. Über einem gefältelten weissen Hemd trug er eine schwarze Weste mit silbernen Knöpfen. Darunter eine weite Rheingrafenhose aus blau gefärbtem Leinen, die bis zu den Knien reichte. Die weissen, wollenen Strümpfe waren über den Waden mit roten Bändeln befestigt.

«Ja, mit Gottes Hilfe», sagte er jetzt.

«Und du, Anna Eggimann …», wandte sich Pfarrer Feer der jungen Frau zu und wiederholte die Trauformel.

Sie zögerte eine Sekunde. «Ja, mit Gottes Hilfe», sagte dann auch sie.

Als das frisch vermählte Paar an der Spitze der Hochzeitsgäste von der Kirche die Dorfstrasse hinunter zur Ilfisbrücke schritt, machte Ueli seine junge Frau auf ein grosses Bauernhaus aufmerksam, das inmitten eines Baumgartens am südlichen Rand der Schwemmebene lag. «Der Auenhof», sagte er, «dein neues Zuhause.»

Ein mächtiges, strohgedecktes Walmdach wölbte sich über Wohnteil, Stall, Speicher und Tenn. Anna staunte. Hier also sollte sie Bäuerin werden. «Wie viel Stück Vieh hast du?», wollte sie wissen.

«Dreissig Kühe, vier Pferde, ein Dutzend Schweine», zählte er auf, «natürlich Hühner und ein paar Gänse. Dazu genügend Weideland, um das Vieh durch den Winter zu füttern, und Äcker, auf denen wir Weizen, Roggen, Dinkel und Hafer pflanzen. Ausserdem einen Pflanzplätz, einen Obstgarten und ein Stück Wald.» Er schwieg. «Wir haben alle Hände voll zu tun», fügte er dann hinzu.

Es war mehr, viel mehr als ihre Eltern besassen. «Wer sind wir?», fragte sie vorsichtig.

«Hansjakob Tanner, der Grossknecht, er ist mein Vetter, ein Melker und ein Karrer, Tagelöhner, je nach Arbeitsanfall. Im Haus helfen Christine Bärtschi und Therese Müller, die beiden Mägde.»

Anna ging schweigend neben ihrem Mann her. Sie realisierte, dass Ueli Jacob viel reicher war als ihre Eltern. Sie selber hatte seit ihrer Kindheit mitgeholfen, im Haus und auf dem Feld, sie und ihre sechs Geschwister. Daheim gab es keine Knechte und Mägde. Sie wusste, was es hiess, zuzupacken. Aber es war stets die Mutter gewesen, die gesagt hatte, was zu tun sei. Jetzt würde sie selber einem grossen Haushalt vorstehen, einem viel grösseren als dem elterlichen. Sie würde vorausdenken müssen, planen, anderen die Arbeit zuweisen. Ob sie das konnte, fragte sie sich verzagt.

«Du brauchst keine Angst zu haben.» Hatte der Mann, dessen Frau sie nun war, ihre Gedanken erraten? Er nahm ihren Arm und drückte ihn beruhigend. «Du wirst an deiner Aufgabe wachsen. Ausserdem wird dich meine Schwester anlernen.»

Seine Schwester. Anna kramte in ihrem Gedächtnis. Irgendeinmal hatte sie von Uelis älterer Schwester gehört, die ihm den Haushalt führte. «Wo ist sie, deine Schwester?» Sie wandte sich um und musterte die Hochzeitsgäste.

«Sie kann an der Feier nicht teilnehmen. Sie ist krank», der Mann machte ein verschlossenes Gesicht, Anna wagte es nicht, weitere Fragen zu stellen.

Da es der frühen Jahreszeit zum Trotz aussergewöhnlich warm war, hatte man grosse Tische unter die breiten Kronen der beiden Linden vor dem Haus gestellt. Alles, was der Auenhof zu bieten hatte, stand für die Bewirtung der Gäste bereit: Fleischbrühe, Geräuchertes, Gesalzenes, Gesottenes und Gebratenes vom Schwein, von der Kuh und vom Kalb. Selbst Hähnchen, die im Emmental als «Herrenspeise» galten, hatten die Mägde aufgetischt. Verschiedene Platten mit Gemüse waren da, auch dampfender Hirse- und Haferbrei. Und natürlich Mengen von Chüechli, die in Butter schwimmend gebacken worden waren. Ferner grosse, duftende Brotringe aus Weissmehl. In Glaskaraffen blinkte roter Burgunderwein. Ueli Jacob schien entschlossen, ein Festmahl auszurichten, von dem man im ganzen Tal noch lange sprechen würde. «Nehmt Platz», rief er und machte eine einladende Geste, «und lasst es euch schmecken. Mich wollt ihr kurz entschuldigen.»

Er nahm Anna am Arm und führte sie ins Haus. «Ich will dich zuerst mit meiner Schwester Margrit bekannt machen.» Sie stiegen eine Treppe hoch. Ueli klopfte an eine Tür und schob seine junge Frau in die Kammer. «Ich warte unten auf dich», sagte er und liess sie allein.

«Komm näher», sagte eine Stimme, die, obwohl leise, seltsam eindringlich klang. Am offenen Fenster, aus dem man über die Auenlandschaft in ihrer Frühlingspracht sah, sass eine Frau in einem grossen, geschnitzten Stuhl. Sie mochte um die fünfzig Jahre alt sein und wirkte zart und zerbrechlich. Ihre weisse, von blauen Äderchen durchzogene Haut schien fast durchsichtig. Sie trug einen langen schwarzen Rock und über den schmalen Schultern eine gehäkelte, schwarze Stola, die vor ihrer Brust mit einer goldenen Brosche zusammengehalten wurde. Das graue, zu einem Knoten gebundene Haar war bedeckt von einer ebenfalls schwarzen Haube. Auf einem Beistelltisch neben ihrem Sessel lag die Heilige Schrift. Sie war aufgeschlagen.

«Nimm einen Stuhl, setz dich mir gegenüber und lass dich anschauen», sagte sie. Das klang freundlich, fast liebevoll.

Anna gehorchte. Erst jetzt fiel ihr auf, welch schöne Augen Margrit Jacob hatte, gross, grün, unergründlich.

Die Frau betrachtete sie schweigend. Um ihre blutleeren Lippen spielte ein Lächeln. «Du bist also meine Schwägerin», sagte sie endlich und streckte ihre Hand aus. Leicht wie ein Schmetterling berührte sie die Wangen der Jüngeren. «Und fast noch ein Kind.» Sie schwieg. «Hat dir Ueli gesagt, dass ich bald sterben werde?»

Anna schüttelte verwirrt den Kopf.

«Mein Herz will nicht mehr», sagte Margrit Jacob ruhig, «es schlägt nur noch langsam und es rast, wenn ich mich ein wenig anstrenge. Das Atmen fällt mir schwer. Ich kann kaum mehr diese Kammer verlassen. Das Treppensteigen ermüdet mich. Ein Leben lang habe ich für Ueli gesorgt. Er war mein kleiner Bruder. Er ist es immer noch», fügte sie lächelnd hinzu. «Jetzt bin ich nutzlos geworden. Ich kann in der Küche nicht mehr nach dem Rechten sehen. Ich bin froh, dass eine junge Frau gekommen ist, die meine Pflichten übernimmt.»

«Ich weiss nicht, ob ich das kann, ich bin nur die Tochter eines einfachen Kleinbauern.» Anna spürte, dass sie keine Angst haben musste, der Schwägerin ihr Herz zu öffnen. Sie erzählte ihr vom Waldhof in Ramsei, von den engen Verhältnissen, in denen sie aufgewachsen war, von den Sorgen ums tägliche Brot. «Ich bin doch viel zu jung und unerfahren. Wie soll ich dem Ueli eine gute Frau sein und den Mägden eine gerechte Meisterin?» Sie hatte die schmalen Hände Margrit Jacobs in die ihren genommen und hielt sich an ihnen fest wie eine Ertrinkende. Ihre Augen wurden feucht und mit einem Mal flossen Tränen über ihre Wangen. Sie barg ihr Gesicht in den Händen.

Margrit nahm ihr behutsam den Narzissenkranz vom Kopf und fuhr ihr durchs Haar. Immer wieder. Endlich sagte sie: «Das wird sich alles geben. Zunächst regierst du das Haus durch mich. Du wirst mein Auge sein, mein Ohr, mein Mund und meine Hände. Und mit der Zeit wirst du die Verantwortung allein tragen können.»

Anna rührte sich nicht. Aus der Hand der Schwägerin, die jetzt auf ihrem Kopf ruhte, strömte eine Kraft, die sie tröstete und mit Zuversicht erfüllte. Sie wünschte, sie könnte auf Zeit und Ewigkeit hier bleiben, bei dieser Frau, in deren Gegenwart sie sich geborgen fühlte.

Durchs offene Fenster drang das Lachen der Gäste. «Sie feiern deine Hochzeit, Kind», sagte Margrit lächelnd, «meinst du nicht, du solltest langsam hinuntergehen und dich zeigen?» Sie küsste Anna auf die Stirn. «So Gott will, werden wir noch viele schöne Stunden zusammen erleben.»

Die Leute an den langen Tafeln, die bereits den ersten Hunger gestillt hatten, begrüssten Anna mit fröhlichen Zurufen. Sie setzte sich neben Ueli, zögernd, als stünde ihr der Ehrenplatz nicht zu. Der Grossbauer sass still und ernst da. Er hatte noch kaum etwas von den Speisen berührt, die man ihm aufgetragen hatte. Auch aus dem Zinnbecher, der bis zum Rand mit Wein gefüllt war, schien er nichts getrunken zu haben. Ab und zu nippte er an einem Glas Wasser.