Zeckenalarm im Karpfenland

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Röttenbach, Kirchgasse, Donnerstag, 28. Juni 2012

Kunigunde Holzmann und Margarethe Bauer, die beiden fränkelnden Röttenbacher Urgesteine und langjährigen Busenfreundinnen saßen in Kunnis Küche und beratschlagten, wie sie ihre bevorstehenden achtzigsten Geburtstage ordentlich feiern sollten. „Do lass mer scho an grachn“, meinte die Retta im Brustton der Überzeugung, „su ald wird ka Sau.“ Dritte im Bunde war Theresa Fuchs, die rüstige Nachbarin aus der Lindenstraße, und zwei Jahre jünger als die beiden angehenden Jubilare. Genau wie Kunni und Retta war auch die Fuchsn Deres bereits langjährige Witwe. Doch im Unterschied zu den beiden Geburtstagskindern hatte sie noch direkte Familienbeziehungen ersten Grades im Dorf. Ihr Sohn Bruno und seine Frau Julia, ebenso eine gebürtige Röttenbacherin, wohnten drüben, im Neubaugebiet „Bucher Weg“. Julia war zwar schon einmal verheiratet gewesen, mit einem Amerikaner, und hatte in der Nähe von Dallas gelebt, doch drei Jahre nach ihrer Eheschließung und nur ein Jahr nach der Geburt des gemeinsamen Sohnes Michael schlug das Schicksal unbarmherzig zu: John Hausman, ihr erster Mann, verstarb überraschend an Krebs. Glücklicherweise war John Hausman kein armer Mann, sondern ein sehr erfolgreicher Immobilienmakler. Er hinterließ seiner Frau Sachwerte wie das gemeinsame Haus, zwei Autos, ein ansprechend wertvolles Aktienpaket sowie ein Barvermögen von knapp über drei Millionen US-Dollar. Als gemachte Partie kehrte Julia Hausman, geborene Sapper mit ihrem Söhnchen Michael 1983 wieder in ihre fränkische Heimat Röttenbach zurück. Sechs Jahre später, im September 1989, heiratete sie Bruno Fuchs, Theresas Sohn. Die Ehe blieb kinderlos. Nachdem viele Jahre später Julias Sohn Michael im Alter von fünfundzwanzig Jahren in der Sandstraße einen eigenen Hausstand gründete, bauten sich die beiden Eheleute im Neubaugebiet „Bucher Weg“ ein neues, schmuckes Einfamilienhäuschen. Geld war ja genug da. Julia und Bruno führten eine gute Ehe. Die Kritik, dass sie zu viel rauche, musste sich Julia allerdings immer wieder von ihrem Mann gefallen lassen.

Die Fuchsn Deres hatte als gute Nachbarin der Holzmanns Kunni und der Bauers Retta angeboten, ihnen bei der Organisation ihrer bevorstehenden Geburtstagsfeierlichkeiten mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Sie wusste, dass die Kunni Probleme mit ihren Knien hatte und immer öfter auf ihren Rollator angewiesen war. Wie oft hatte sie ihr schon geraten, etwas abzunehmen. Bei einer Körpergröße von nur einem Meter neunundfünfzig waren fünfundachtzig Kilogramm Lebendgewicht einfach zu viel. Kein Wunder, dass die Pfunde auf die maroden Gelenke drückten. „Edz lass mi doch endlich in Ruh mid deine schdändichn Radschläch“, bekam sie immer wieder von der Kunni zur Antwort, „du waßd doch, dassi gern viel und gud ess! Mier schmeggds hald! Wie solln iech do abnehma?“

Die Retta war das Gegenteil von Kunni Holzmann. Rank und schlank war sie und lief ausdauernd wie ein Mercedes Diesel. Aber ihr machte die Gicht in ihren Fingergelenken immer mehr zu schaffen. Das feinste Gehör hatten zudem beide nicht mehr. Ein Hörgerät wollten sie aber auch nicht tragen. „Dees is doch was fier alde Leid“, pflegten sie zu behaupten, „nix fier uns junge Hubfer!“

Nun saßen sie in Kunnis Küche, jede eine geöffnete Flasche „Storchenbier“ von der Brauerei Sauer vor sich. Biergläser brauchten sie nicht. Sie tranken aus der Flasche. Die Zeiger der Wanduhr krochen langsam, aber beständig auf zwanzig Uhr zu, und die drei Witwen waren gerade mit einem späten, deftigen Abendessen zu Gange. Auf einer riesigen Platte waren roter und weißer Presssack, geräucherte Leberwurst, Obatzter, grobe Mettwurst, aufgeschnittener Leberkäse, geräucherter Schinken und eine knoblauchhaltige Stadtwurst angerichtet. In einem kleinen Suppenteller lagen dünn geschnittene, kräftig gesalzene Rettichscheiben, und das frisch geschnittene Bauernbrot von Peters Backstube duftete verführerisch. Deutsche Markenbutter, ein Glas Gewürzgurken und aufgeschnittene Tomaten aus dem eigenen Garten rundeten das verlockende Essensangebot ab. Kunigunde Holzmann hatte den Hals der Bierflasche mit geschlossenen Augen an ihre Lippen angesetzt und entließ den Gerstensaft gluckernd und genießerisch in ihre Kehle. „Aah, dud dees gud! Es gibd doch nix ieber an gscheidn Schlugg frischs Sauer Bier, wemmer durschdich is“, kommentierte sie, nachdem sie die Flasche wieder auf den Tisch zurückgestellt hatte. „Also Maadli, wos is edz? Wu schdemmer denn in unserer Blanung?“, wollte sie wissen. „Lang zu, Deres, der Bressagg is vom Baumüller. Ganz frisch. Habbi heid erschd kaffd. Soller der an Senfd dazu hulln, odder mogsd lieber an Sahnemeerreddich? Schmeggd aa gud!“

„Na, Kunni, dangschee, iech kann auf der Nachd nemmer suviel essn. Bekummd mer ned. Lichd mer bloß im Moogn. Abber– weilsd scho fragsd – iech hab mer dengd, dees Kugnbaggn iebernehm iech. Do brauchd iehr eich scho nemmer mid zu belasdn. Habd eh gnuch um die Ohrn. Und Eikaafn kanni aa. Blabds denn edz beim sibbzehndn Augusd? Eiere große Feier? Wieviel Leid habd der denn ieberhabds eigloodn?“

„No, du gfällsd mer, Deres!“, antwortete die Kunni. „Die Fuchsn Werdschafd habbi scho vor ieber an Joahr reserviern lassen! Die zwaa Wirdsschduubn und dees Nebenzimmer. Gschlossne Gsellschafd! Die Retta had am fuchzehndn Augusd Geburdsdooch, dees waßd ja, und iech zwaa Dooch schbäder. Do hammer uns dengd, dass mer gor nemmer lang rummachn und gleich am sibbzehndn feiern. Dees is a Freidooch. Do kenna die Leid am näxdn Dooch aa ausschloofn.“

„Wieviel werns denn sei? Wer kummd denn alles?“, hakte die Theresa nochmals nach.

„Dees wiss mer edz doch aa ned auswendich, wen mier alles eigladn hamm. Dees misserdn mier edz aa erschd nochschaua“, meldete sich nun die Retta zu Wort, nachdem sie ebenfalls einen kräftigen Schluck Bier genommen hatte und leicht rülpste. „Jedenfalls kumma su umera hunerdfufzich Leid, die meisdn aus Röttenbach, abber aa a boar Auswärdiche sen dabei. Danzd werd aa. Der Gerald Harter machd Mussigg im Nebenzimmer. Der had scho lang zugsachd, dasser kummd!“

„Jessasla, do musser mer ja exdra was Neis zum Oziehchn kaafn“, meinte die Fuchsn-Nachbarin. „Habd der dees Essn a scho bschdelld?“

„Naa, dees langd nu a Wochn vorher, had die Wirdin gmaand, abber deswegn hoggn mier edzerdla ja aa grood zamm“, kam die Kunni wieder zur Sache. „Wos maandn na iehr, was mer zum Essn bschdelln solldn?“

„Auf jedn Fall nix Ausländischs!“, schlug die Retta vor.

„Do gebber der scho rechd, Redda“, bestärkte sie die Theresa Fuchs, „do solled iehr scho bei der deidschen Kichn bleibn.“

„Dees habbi eigendli ned damid gmaand“, widersprach ihr die Retta. „Fier miech is a rheinischer Sauerbradn mid Rosina in der Soß aa was Ausländischs! Iech deng mier solledn scho ehra in unserer Gegend bleibm mid der Auswahl vo dem Essn. Was maansd no du Kunni? Sogsd goar nix mehr!“

„Dees hängd ja aa a weng vom Wedder ab, maan iech. Wenns draußen dreißg Grad had, waßi aa ned, ob mer a Schäuferla schmeggn däd. Iech schlooch vor, wir dreffn a edwas breidere Auswahl. A Wochn vor der Feier, wenn mier wissen wie dees Wedder wern soll, legn mier uns endgüldich fest. Was maandnd iehr?“

„Allmächd!“, Retta sah auf die Uhr und schoss hoch, wie von der Tarantel gestochen. „Is heid ned der achdazwanzigsde Juni?“

„Und was is am achdazwanzigsdn Juni?“, riefen die beiden anderen im Chor.

Retta schlug sich auf die Stirn, „No, heid schbieln doch die Deidschn gegen die Schbagheddifresser im Halbfinale! Wer gwinnd kummd ins Endschbiel gegen die Schbanier! In zehn Minuddn gehds los!“

„Kunni sah ebenfalls zur Uhr. „Schnell“, würgte sie auf ihrem Bauernbrot kauend hervor, „räumer ab! Redda, schdell die Wurschdbladdn, die Budder und dees Gurgnglas in Kiehlschrank nei! Deres, schald scho amol den Fernseher ei. Wer will nu a Bier?“

„Iech!“

„Iech aa!“

„Redda, die Deidschlandschminke is aa im Kiehlschrank. Brings mied ins Wohnzimmer! Iech hul schnell nu die Deidschlandfohna ausm Keller. Bin glei widder da.“

Punkt zwanzig Uhr fünfundvierzig saßen die drei Witwen auf dem Sofa. Jede hatte zwei breite, schwarz-rot-goldene Streifen auf den Backen. Kunni schwang die Deutschlandflagge gefährlich nahe an der Wohnzimmerlampe vorbei. Retta trötete auf einer Vuvuzela, welche die Kunni noch im Keller gefunden hatte. Die Theresa war mit einer Trillerpfeife ausgestattet worden. Als die deutsche Nationalhymne erklang, sangen alle drei aus voller Kehle: à „Einichkeid-und-Rechd-und-Frei-heid-für-das-deudsche-Va-hader-land-danach-lassd-uns-alle-schdre-heben-briederlich-mid-He-herz-und-Hand …“

„Warum singa der deidsche Necher, der deidsche Dirg und der deidsche Bollagg ned mied?“, erboste sich die Kunni.

„Die dädi gor ned aufschdelln“, gab ihr die Retta recht. „Wolln Deidsche sei und singa dees Deidschlanlied ned mied! Is a Schand! Wenn iech der Joogi Löf wär, dena däd iech abber schee die Meinung geign. Suwas geberds bei mier ned! Dees is doch a wergli a Schand, und die ganze Weld schaud zu.“

Als der französiche Schiedsrichter wenige Minuten später das Spiel anpfiff, wurde Kunnis Wohnzimmer zum Tollhaus. „Renn, renn, renn“, schrie Retta, als Özil den Ball nach vorne passte. „Schieß, schieß, schieß“, rief die Kunni, als der vorgestürmte Hummels versuchte, die Kugel im gegnerischen Tor unterzubringen.

„Wer isn der idaljenische Necher, dem des Sauergraud ausm Kubf wächst?“, wollte Theresa Fuchs wissen.

„Dees is doch der idaljenische Middlschdürmer, der Ballodelli, kennsdn du denn den ned?“, fragte die Retta verwundert.

„Ballodelli? Ballodelli? Is dees ned a Nudlsordn?“, bezweifelte Theresa Rettas Sachkenntnis.

 

Das Spiel wogte hin und her. Es stand immer noch 0:0. Bis zur zwanzigsten Minute. Die Nudelsorte Balotelli verarschte Mats Hummels, nahm einen zielgenau geschlagenen Pass mit dem Kopf auf und köpfte trotz Sauerkraut den Ball wuchtig in Manuel Neuers Tor. 1:0 für Italien!

„Bschieß!, Bschieß! Dees Sauerkraut woar im Abseids! Warum bfeifdn der französische Debb ned, had der Domadn auf die Augn?“, rief die Kunni entsetzt.

„Na Kunni, des woar scho a regulärs Door. Die deidsche Abwehr had hald amol widder gschloofn. Da had der Löf meisdens sei Broblem“, kommentierte die Retta. „Warum er den Bodolsgi, die Flaschn, scho widder aufgschdelld had, verschdeh iech abber aa ned. Der dorgld doch auf dem Bladz rum, wie a Bsuffner. Und jedesmol, wenner den Ball ned drifft odder drieber haud, lachdder aa nu wie a Eichhernla wenns blidzd.“

„Na ja“, warf die Theresa ein, „wu kummdern aa scho her? Aus Boln und aus Köln! A bolnischer Breiß, kwasi. Dees kann ja nix wern!“

Die drei Fußballsachverständigen ließen sich – trotz des 1:0 für Italien – in ihrer Begeisterung nicht bremsen. Sie tröteten, trillerten und schwenkten die deutsche Fahne. Dann kam die sechsunddreißigste Minute, als sich das „Sauerkraut“, alias „italienische Nudelsorte“, einen von Riccardo Montolivio geschlagenen Pass erlief und das Leder knallhart linkerhand knapp unter die Latte einhämmerte. 2:0 für Italien! Die Nudelsorte war mächtig stolz über seinen zweiten Torerfolg. So stolz, dass er sein blaues Trikot auszog und den Zuschauern seinen nackten, muskulösen Oberkörper zeigte. „Ich war es“, wollte er damit sagen. „Ich habe die Deutschen aus dem Wettbewerb geschossen. Ich bin der Größte.“ Er stand da, wie ein wild glotzender Gorilla, der sich gleich auf die Brust trommeln würde. Das unterließ er dann doch, als der Schiedsrichter auf seiner Pfeife trällerte und ihm die gelbe Karte zeigte.

„Oh weh, des hul mer nemmer ei!“, klagte die Retta. „Scho widder su a Scheiß-Idaljenschbiel!“

„Schald mer hald den Fernseher aus?“, schlug die Theresa vor. „Hogg mer uns widder in die Kichn und beradn mer weider ieber die Essensauswahl vo eirer Geburdsdagsfeier. Unser Bier kemmer in der Kichn aa dringn.“

„Iech hab scho gor kan richdign Durschd mehr“, kommentierte die Kunni Theresas Vorschlag. „Mier is ganz schlechd.“ Die deutsche Fahne hatte sie in die Ecke hinters Sofa gestellt.

„Der schwarze Schbagheddi had mer mei ganze Schdimmung verdorbn“, lammentierte auch die Retta herum. „Gscheid sollns gecher Schbanien eigeh, die Iddagger!“ Dann schaltete sie das Fernsehgerät aus. „Kummd, gemmer widder in die Kichn, red mer a weng drieber was im Dorf Neis gibd. Iech hab gherd, der Müllers Hanna iehr Ingried soll schwanger sei.“

„Dees arme Kind“, hakte die Kunni ein, „dees werd doch ned gor vo dem Berser sei, mid dem der Hanna iehr Madla in der ledzdn Zeid rumzuugn is?“

„Dees kann scho sei“, merkte die Theresa an, „den habbi scho lang nemmer gsehgn. Der is beschdimmd nach Affganisdaan abghaud, wieer dees midgrichd had. Der had ja ausgschaud mid seim Zoddlbard. Vor dem hasd ja richdich Angsd grichd!“

„Vielleichd isser ja a Dalibaan“, gab auch die Retta noch ihren Senf dazu. „Waß mers?“ Das 2:1 der deutschen Nationalmannschaft bekamen die drei Witwen gar nicht mehr mit. Sie unterhielten sich über ledige Schwangere, die Seitensprünge des verheirateten Nachbarn gleich gegenüber, über die Bemühungen einiger Röttenbacher Bürger, im Dorf einen Ableger der Partei Freies Franken zu gründen, und darüber, wer sich nächstes Jahr als Kandidat für die Bürgermeisterwahl aufstellen lassen würde. „No der Ludwich, der Ludwich machd doch widder dees Renna“, gab sich die Kunni überzeugt. „Da beißd doch die Maus kann Fadn ab.“

Erlangen, Staatsstraße 2240, Sonntag, 1. Juli 2012

Kuno Seitz hatte sich mit seinem neuen Bekannten vom Bohlenplatz unter der Brücke, welche sich in Richtung des Ortsteils Dechsendorf über den Rhein-Main-Donau-Kanal spannte, für einundzwanzig Uhr verabredet. Während sich ganz Fußball-Deutschland das EM-Finale Spanien gegen Italien ansah, wollten die beiden ihr Gespräch vom Bohlenplatz fortsetzen.

„Du musst wissen, ich bin kirchlich engagiert“, hatte ihm Till Stemmann erklärt, „und ich möchte mich zukünftig gerne um die Obdachlosen dieser Stadt kümmern. Ich denke, ich kann ihnen helfen, wieder in die normale Gesellschaft zurückzufinden. Dazu muss und will ich aber verstehen, wie sie leben, was sie für Sorgen haben und welche Lösungen sich daraus für jeden Einzelnen anbieten. Du, zum Beispiel, hast Abitur und einen qualifizierten Berufsabschluss. Solche Leute werden heute gesucht. Die Wirtschaft boomt.“ So sprach er auf der Bank am Bohlenplatz. Zudem hatte er versprochen, ausreichend Getränke und Zigaretten mitzubringen. Kuno Seitz kam die unerwartete, neue Bekanntschaft gerade recht. Erstens hatte er die Brücke für diese Nacht sowieso als Schlafplatz auserkoren. Schwere Sommergewitter mit heftigen Regenschauern waren angesagt. Zweitens war er nicht allein und konnte mal wieder ein anregendes Gespräch führen, und drittens schließlich sprach es sich leichter und freier, wenn auch für den nötigen Alkoholkonsum gesorgt war. Kuno Seitz freute sich auf das Gespräch. Eine willkommene Abwechslung in seinem tristen Dasein. Die Kirchenglocken in Alterlangen läuteten gerade acht Uhr abends, als er mit seinem ramponierten Einkaufswagen die Schallershofer Straße entlang schlurfte. Er hoffte einen Blick auf sein ehemaliges Zuhause zu erhaschen. Vielleicht waren Jens und Tina gerade im Garten. Nur ein kurzer, verstohlener Blick, und er wäre schon zufrieden gewesen. Der Richter hatte ihm im Scheidungsurteil jeglichen weiteren Kontakt mit seiner Familie verboten. Er musste vorsichtig sein. Seine Ex würde keine Gelegenheit auslassen, ihn beim geringsten Anlass ans Bein zu pinkeln. Zu groß war bei ihr die Enttäuschung über die zerrüttete Ehe und sein kriminelles Verhalten in der Korruptionsaffäre, welches der Familie nur zusätzliche Schande einbrachte. Verstohlen blickte er über die Straße. Nichts. Das Haus lag ruhig und verlassen da. Enttäuscht und stöhnend machte er sich weiter auf den Weg zur Brücke. Noch eine halbe Stunde, dann müsste er sein Ziel erreicht haben. Sein Einkaufswagen ratterte quietschend über die Unebenheiten des Gehsteigs. Die wenigen Fußgänger, denen er begegnete, sahen mitleidlos durch ihn hindurch. Als wäre er gar nicht existent. Eine wandelnde, übel riechende Luftblase. Nach weiteren zwanzig Minuten hatte er die Kreuzung Möhrendorfer Weg/St. Johann erreicht. Die Brücke war nur noch drei Steinwürfe entfernt. Er war früh genug dran. Till Stemmann würde nicht vor vierzig Minuten eintreffen. Wenn er überhaupt kam und sich das Ganze nicht doch noch anders überlegt hatte!

Till Stemmann war gekommen, und er hatte ausreichend Wodka mitgebracht. Er selbst dürfe keinen Alkohol trinken, erklärte er. Ärztliche Anweisung! Zu schlechte Leberwerte! Schade. Kuno Seitz trank ungern alleine. Wenn sich dies aber nicht vermeiden ließ, na dann eben doch! Bevor er auf seinen Fingernägeln herumkaute und der Wodka schlecht wurde, würde er sich nicht zweimal bitten lassen. Er schaffte auch alleine die eine oder andere Flasche. Gierig griff er nach der Marlboro-Box und riss sie auf. Es tat gut, den beißenden Rauch in den Lungenflügeln zu verspüren.

Die Zeit verging wie im Flug. Aus der Ferne schlugen die Glocken bereits dreiundzwanzig Uhr. Kuno Seitz hielt bereits die zweite Wodka-Flasche in den Händen. Sie war noch halb voll, oder sollte er besser sagen „halb leer“? Die erste Flasche musste irgendwie undicht gewesen sein. Lange hielt sie jedenfalls nicht. Längst hatte er sie mit einem kräftigen, ausholenden Wurf platschend im dunklen Wasser des Rhein-Main-Donau-Kanals entsorgt.

„… und so kam es, dass ich plötzlich mittellos und ohne Freunde auf der Straße stand.“ Kuno Seitz stierte mit trüben Blicken auf die ebenso trübe Wasseroberfläche des Wasserlaufs. Till Stemmann war ein aufmerksamer wie auch interessierter Zuhörer. Er sprach kein einziges Wort, er hörte nur zu. „Freunde, sogenannte Freunde“, hörte er den Obdachlosen mit lallender Stimme fortfahren, „wenn du sie brauchst, sind sie nicht da. Eine Welt voller Schein und Trug. Das habe ich gelernt.“ Wieder öffnete er die Flasche, setzte sie an seine Lippen und nahm drei kräftige, gurgelnde Schlucke. „Nur wenn sie selbst was brauchen, sind sie deine Freunde.“ Er rülpste. Der Geschmack des Wodkas stieg ihm in die Kehle. „‚Kuno kannst du mir hier helfen, Kuno kannst du mich da unterstützen?’ Ich Idiot habe an das Gute im Menschen geglaubt. Habe mir den Arsch aufgerissen. Habe nie nein gesagt, wenn sie mich um etwas baten. Scheiße! Verdammte Scheiße! Ja Kuno, da hast du ganz schön versagt, hast geglaubt du besitzt etwas Menschenkenntnis. Nichts von dem. Hast ganz schön in die Scheiße gegriffen!“ Wieder gurgelte der Wodka durch seine Kehle. „Aber du, Till, du bist ein wahrer Freund. Du hörst dir meine verdammte Geschichte an, sagst nichts, hörst nur zu und spendierst mir obendrein noch meine flüssigen Seelentröster. Du bist ein guter Mensch. Pass auf dich auf, kann ich dir nur raten, such dir deine Freunde mit Bedacht aus, und vor allem: Lass die Finger von den Weibern. Du kannst sie ruhig ordentlich bumsen, aber trau niemals ihren schönen, verführerischen Worten. Wenn es darauf ankommt, nehmen sie dich aus wie eine Weihnachtsgans. Glaub mir, du kennst ja nun meine Geschichte.“ Der restliche Wodka verschwand geräuschvoll in Kuno Seitz‘ Kehle. „Ich, … ich kann nicht mehr. Bin müde und … außerdem besoffen. Stockbesoffen! Ich leg mich hin.Muss schlafen … Bleib ruhig hier sitzen, … wenn du willst!“

Es dauerte keine fünf Minuten. Der Obdachlose hatte sich wie ein Embryo in sich zusammengezogen und schnarchte laut vor sich hin. Till Stemmann saß immer noch regungslos neben ihm und blickte interessiert auf ihn herab. Dann sah er auf das Wasser des Kanals, auf dessen Oberfläche sich zwischenzeitlich kleine Wellen kräuselten. Leichter Westwind war aufgekommen. Aus weiter Ferne drang dumpfer Donner an sein Ohr. Blitze erhellten den weit entfernten Horizont für Sekundenbruchteile. Till Stemmann nahm die zweite, leere Wodkaflasche und warf sie angeekelt und achtlos in das Wasser. Er zählte die Ringe, die sich gleichmäßig auf der dunklen Wasseroberfläche ausbreiteten und gegen die aufkommenden Wellen ankämpften. Das Licht des Mondes brach sich in ihnen und ritt auf ihren kleinen Kämmen dahin. Dann begann er ganz leise vor sich hin zu singen. Die Melodie klang nach einem Kinderlied. Der Text war von einem Kinderlied allerdings so weit entfernt, wie der Mond von der Erde:

à Hört zu, ihr kleinen Zecken,

Den Rotweinbruder sollt ihr stechen.

Auch Schmarotzer ich nicht leiden kann,

Drum kommt der Typ als nächster dran.

Der Alte kommt dann ganz zum Schluss,

Auf jeden Fall auch sterben muss.

Die Süchtige sowieso verdirbt,

An Lungenkrebs von selber stirbt.

Als er die Strophe mit leisem Sprechgesang beendet hatte, begann er erneut von vorne. Dabei schaukelte er in der Hocke mit seinem Körper hin und her, die Arme um beide Beine geschlungen und sah auf das Wasser des Kanals. Der Donner wurde schnell lauter, die Blitze am Horizont wurden greller und kamen näher. Kuno Seitz bekam von alledem nichts mit. Er schnarchte. Plötzlich richtete sich Till Stemmann zu voller Größe auf, griff in seine Jackettasche und holte zwei winzige Glasbehälter daraus hervor. Er strahlte die beiden Gefäße mit einem Schlüssellochsucher an. In jedem der Gläser saß ein winziges, achtbeiniges Spinnentier, nicht größer als einen halben Zentimeter. Die Beine der Insekten waren im schwachen Licht auffallend rot-gelb geringelt. Hyalomma-Zecken! Der Hinterleib der Tiere war leer. Sie waren ausgehungert. Hungrig nach Blut. Nach frischem, warmen Blut. Vorsichtig nahm Stemmann eines der Gläser in die Hand und öffnete den Verschluss. Mit einem kleinen Holzspatel entließ er die Zecke zwischen Hals und Hemdkragen des schnarchenden Obdachlosen. Das Insekt nutze seine plötzliche Freiheit und verschwand sofort unter dem Hemd. Es spürte den warmen Körper von Bruno Seitz sofort, und es fühlte das Blut, das in ihm rauschte. Dann nahm der angebliche Till Stemmann das zweite Glas, öffnete es ebenfalls und schob das winzige Spinnentier in den offen stehenden Hosenstall des Schnarchenden. „Macht’s gut meine Lieben“, spornte er die längst verschwundenen Insekten an, „verrichtet eure Arbeit. Guten Appetit, und lasst es euch schmecken.“

 

Es war Zeit, von Kuno Seitz Abschied zu nehmen. Abschied für immer. „Du bist kein schlechter Mensch. Leider stehst du mir im Weg. Mein Probe-Mord-Opfer bist du außerdem. Schade! Wir hätten tatsächlich Freunde werden können.“ Dann drehte er sich abrupt um, und machte sich auf den Weg zu seinem Wagen, den er im Möhrendorfer Weg geparkt hatte. Als er in seinen Ford Focus einstieg, klatschten die ersten, dicken Regentropfen auf die Windschutzscheibe, und der Donner rollte mächtig laut über den naheliegenden Rhein-Main-Donaukanal. Heftiger Wind bog die stolzen Kronen der Lärchen hin und her und fuhr mit brutaler, entfesselter Gewalt in den bisher still daliegenden Wald, jenseits des Kanals. Till Stemmann startete den Motor und dachte an Kuno Seitz. Armer Schlucker! Dann erinnerte er sich seiner zwei kleinen, infizierten Lieblinge. Wenn sie sich mit genügend Blut vollgesogen hatten, ließen sie sich von ihrem Opfer abfallen. Das wusste er. Bis zu zehn Jahren konnten sie mit einer Nahrungsaufnahme überleben. Doch nicht hier, in Franken. Der erste leichte Frost würde sie dahinraffen. Ob sie es sich zwischenzeitlich bereits gemütlich gemacht hatten? Labten sie sich bereits an dem warmen Blut des bedauernswerten, naiven Opfers? Von wegen kirchliches Engagement! Was die Leute heutzutage alles glaubten. Er hatte keinerlei Empfindungen für den armen Teufel. Er wusste nur, dass dieser Mensch ihm im Wege stand, für das was er vorhatte. Was noch vor ihm lag. Er kannte Kunos Vergangenheit. Nicht nur von dessen Erzählungen. Deswegen hatte er ihn ja ausgesucht. Ein idealer Testfall für seine kleinen Killer. Ein nützlicher dazu. Wer macht sich schon Gedanken um den Tod eines Obdachlosen? Ihm fiel sein kleines Liedchen wieder ein. Es gefiel ihm sehr, und er begann erneut leise vor sich hin zu singen, bis er siebzehn Minuten später den Ford Focus in seine Garage fuhr:

à Hört zu, ihr kleinen Zecken,

Den Rotweinbruder sollt ihr stechen.

Auch Schmarotzer ich nicht leiden kann,

Drum kommt der Typ als nächster dran.

Der Alte kommt dann ganz zum Schluss,

Auf jeden Fall auch sterben muss.

Die Süchtige sowieso verdirbt,

An Lungenkrebs von selber stirbt.

Till Stemmann schlummerte dem Montagmorgen entgegen. Spanien war mit einem 4:0-Sieg über Italien zum zweiten Mal hintereinander Fußballeuropameister geworden. Kuno Seitz schnarchte unter der Brücke des Europakanals, und der Regen prasselte immer noch ohne Unterlass schwer hernieder. Donner und Blitze hatten sich zwischenzeitlich allerdings weiter nach Osten verzogen. Die mittelfränkische Welt schlief noch. Zwei winzige Kreaturen ruhten allerdings nicht, sie waren sehr aktiv in dieser regenreichen, schwülen Nacht. Mit ihren acht rot-gelb geringelten Beinen hatten sie sich zwischenzeitlich fest in die Haut ihres Opfers verkrallt. Unmittelbar nach ihrer Freilassung hatten sie sich auf die Suche nach einem geeigneten Futterplatz begeben. Mit Geduld und Ausdauer suchten sie nach einer dünnhäutigen, feuchten und gut durchbluteten Stelle. Einer von Till Stemmanns Lieblingen saß gut getarnt im Schamhaarbereich des schnarchenden Obdachlosen. Nachdem die Zecke in das offene Hosentürchen geschubst wurde, begab sie sich sofort auf Nahrungssuche. Ihr Weg, der sie in die Unterhose ihres Opfers führte, war kurz und ohne Hindernisse. Als sie sich für einen endgültigen Platz entschieden hatte, riss sie mit ihren scherenartigen Mundwerkzeugen die Haut auf und sonderte mit ihrem Speichel zeitgleich ein Sekret ab, welches die Einstichstelle sofort betäubte. Bald nachdem das Insekt mit seiner Blutmahlzeit begonnen hatte, lösten sich auch die ersten Nairoviren aus dem Darm der Zecke und machten sich über deren Speicheldrüse auf den Weg in die Blutbahnen des schlafenden Kuno Seitz. Mit ihrem Stechrüssel hatte die Zecke eine winzige Grube in das Gewebe gestochen, welche sofort mit Blut voll lief. Endlich! Sie begann zu saugen, und sie hatte vorgesorgt, dass sie richtig satt werden würde. Ihr Speichel enthielt Stoffe, welche verhinderten, dass das Blut ihres Opfers gerann und die Einstichstelle sich entzündete. Nach zwanzig Minuten hatte sie bereits genug Zement, eine Art Klebstoff produziert, der sie fest mit der Haut des Schlafenden verband. Ununterbrochen saugte sie in der winzigen, blutunterlaufenen Gewebegrube. Ihr Hinterleib schwoll an und wurde im größer. Eifrig filterte sie die festen Bestandteile des Blutes heraus, welche sie zum Überleben so dringend benötigte. Überschüssige Flüssigkeit gab sie über ihren Stechapparat an das Opfer zurück. Mit ihr strömten weitere Nairoviren in die Blutbahnen von Kuno Seitz.

Fünf Minuten später als die erste Zecke begann auch die zweite mit dem Blutsaugen. Beide würden nicht aufhören, bis sie sich richtig vollgesogen hatten.

Der Obdachlose merkte von alledem nichts. Er schlief seinen Rausch aus. Es hatte genug geregnet. Auch die dicken Wolken verzogen sich in Richtung Osten. Die Nacht war lau und dämpfig. Drückend schwül. Zwei Stunden später kündigte sich aus dem Dunst der dahin schwindenden Regenwolken das erste, fahle Tageslicht an. Das Gewitter hatte keine wirkliche Abkühlung gebracht. Über den Wipfeln der hohen, schlanken Lärchen stiegen Wasserdämpfe in den montäglichen Morgenhimmel.