Buch lesen: «Fritz Bauer und das Versagen der Justiz»
Werner Renz
Fritz Bauer und das Versagen der Justiz
Von der »Tragödie« der bundesdeutschen Verfahren gegen nationalsozialistische Gewaltverbrecher schreibt Fritz Bauer im März 1966 in einem Brief an seinen Freund Thomas Harlan. Die bundesdeutsche Strafjustiz kannte ausschließlich Haupttäter wie Hitler, Himmler, Heydrich etc. und wenige Mittäter. In der rechtlichen Aburteilung der an den Menschheitsverbrechen des Holocaust Beteiligten erkannten die Gerichte meist auf bloße Gehilfenschaft.
Werner Renz legt hier Bauers Vorstellungen vom Sinn und Zweck der NS-Prozesse dar und analysiert die Vorgeschichte und den Verlauf des Frankfurter Auschwitz-Prozesses (1963–1965).
Werner Renz, Germanistik- und Philosophie-Studium an der Goethe-Universität in Frankfurt a.M., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fritz Bauer Institut in der Abteilung Archiv und Bibliothek, Redakteur der EINSICHT. Bulletin des Fritz Bauer Instituts. Seine Arbeitsschwerpunkte sind: Geschichte der Frankfurter Auschwitz-Prozesse, Geschichte des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau. Zahlreiche Veröffentlichungen dazu.
Werner Renz
Fritz Bauer und das Versagen der Justiz
Nazi-Prozesse und ihre »Tragödie«
CEP Europäische Verlagsanstalt
Renz, Werner:
Fritz Bauer und das Versagen der Justiz. Nazi-Prozesse und ihre »Tragödie«
© e-book Ausgabe CEP Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2015
Coverabbildung: © Fritz Bauer Institut
Signet: Dorothee Wallner nach Caspar Neher »Europa« (1945)
ISBN 978-3-86393-532-0
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Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Fritz Bauer zum Zweck der NS-Prozesse
Der 1. Frankfurter Auschwitz-Prozess. Zwei Vorgeschichten
Auschwitz als Augenscheinsobjekt: Ortstermin in Auschwitz
Auschwitz und die deutsche Strafjustiz
Stimmen der Opfer und der Täter. Der Tonbandmitschnitt
Deutsche Erinnerungskultur: Täterexkulpation und Opfergedenken
Fritz Bauers skeptische Bilanz zu den NS-Prozessen
»Gerechtigkeit erhöhet ein Volk.« Auschwitz-Prozess und Springer-Presse
Fritz Bauer im Dokumentar- und Spielfilm
Anhang
Erstveröffentlichungsnachweis
Personenregister
EINLEITUNG
»Sie sollten den Leuten klar machen, die in mir einen Protagonisten einer Vergangenheitsbewältigung sehen, daß es mir noch keine Sekunde um die Vergangenheit ging, sondern um Gegenwart und Zukunft.«1
Von der »Tragödie« der bundesdeutschen Verfahren gegen nationalsozialistische Gewaltverbrecher schrieb Fritz Bauer (1903–1968) im März 1966 in einem Brief an seinen Freund Thomas Harlan.2 Bauer blickte voller Resignation und Bitterkeit insbesondere auf Prozesse zurück, die vor dem Frankfurter Landgericht verhandelt worden waren. Da war zum einen das skandalöse Urteil im Verfahren gegen die beiden Mitarbeiter Adolf Eichmanns, Hermann Krumey und Otto Hunsche, die im Sommer 1944 zusammen mit dem »Spediteur des Todes« 438.000 Juden aus Ungarn nach Auschwitz deportiert hatten.3 Da war zum anderen der spektakuläre Auschwitz-Prozess mit der Verurteilung von zehn Angeklagten nur wegen Beihilfe und nicht wegen Mittäterschaft zum Mord.4
Warum sprach Bauer im Rückblick auf die NS-Prozesse von ihrer »Tragödie«? Hatten die Verfahren nicht geleistet, worum es ihm vorrangig und erklärtermaßen ging?
Umfassende politische Aufklärung durch zweifelsfreie Tatsachenfeststellungen der Schwurgerichte sowie die in der Beweisaufnahme zu Gehör gebrachten Stimmen der überlebenden Opfer waren unstrittig wichtigste Ergebnisse der NS-Prozesse. Doch hatten die Strafgerichte das Tun und Lassen der Angeklagten tatangemessen qualifiziert? Hatten sie die strafrechtliche Verantwortung der NS-Verbrecher überzeugend gewürdigt?
Die bundesdeutsche Strafjustiz kannte als »Haupttäter« und »Taturheber« nur Hitler, Himmler und Heydrich etc. und nur wenige weitere Täter und Mittäter. Diese hatten entweder eigenmächtig und befehlslos getötet oder sich im Konsens mit der verbrecherischen Staatsführung die befohlenen Taten zu eigen gemacht, sie als eigene gewollt.
In den bundesdeutschen NS-Prozessen wurden von den rund 6600 verurteilten Angeklagten nur circa 170 als Mörder qualifiziert und zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt.5
Unter den abertausenden Mitwirkenden an der Shoah6 waren der nachsichtigen Justiz die bloßen Gehilfen geradezu Legion. In der rechtlichen Würdigung der Tatbeteiligung an dem Menschheitsverbrechen, das wir heute Shoah nennen, erkannten die Gerichte meist nur auf Gehilfenschaft. Das Personal der Vernichtungslager, die Angehörigen von Erschießungskommandos (Einsatzgruppen), die Mitarbeiter von Gestapostellen, die Juden in Ghettos und Todeslager deportierten, hatten nach Auffassung der deutschen Strafrichter die befohlene Tat, die Judenvernichtung, nur als fremde Tat fördern und unterstützen und nicht als eigene begehen wollen.
Bauer hatte sich Ende der 1950er Jahre, als er voller Energie in Hessen NS-Verfahren in Gang brachte, von den Prozessen viel erhofft. Sie sollten den Deutschen »Schule« und »Lehre« sein und »Lektionen« erteilen. Die Bundesdeutschen im Wirtschaftswunderland erwiesen sich freilich als ungelehrige Schüler. Die Prozesse erzielten nicht die volkspädagogische Wirkung, die Bauer um einer besseren Zukunft willen erwartet hatte.
Bereits im schwedischen Exil befasste sich der deutsche Patriot Bauer mit der Frage der justiziellen Ahndung der NS-Verbrechen und veröffentlichte 1944/1945 sein Buch Die Kriegsverbrecher vor Gericht gleich in drei Sprachen, auf Schwedisch, Dänisch und Deutsch.7 In einem Beitrag für die von ihm und Willy Brandt herausgegebene Exilzeitung Sozialistische Tribüne vom Februar 1945 erörterte Bauer die notwendige »Abrechnung mit den Kriegsverbrechern« und sprach sich im Namen der »deutschen Opposition« für eine »durchgreifende Revolution gegen Kriegsanstifter, Kriegsverbrecher und Verbrecher am deutschen Volke«8 aus. Mit Revolution meinte er eine auf »revolutionäres Recht« gestützte Aburteilung der NS-Verbrecher, das heißt, mit Hilfe eines Rechts, das erst rückwirkend zu schaffen sei. Auf der Grundlage des geltenden Rechts war nach Bauer die geforderte »Abrechnung« nicht möglich. So heißt es: »Die nazistische Revolution muss durch eine antinazistische Gegenrevolution beseitigt werden. Die Antinazisten können einen Mittelweg beschreiten, indem sie revolutionäre Gesetze und Revolutionstribunale mit rückwirkender Kraft schaffen, aber auch dieser Weg ist nicht der des geltenden Rechts, sondern der Weg revolutionären Rechts. Bestimmt sich das Volk zu ihm, werden wir nicht nur den Alliierten viele Schwierigkeiten abnehmen. Wir werden auch die Glaubwürdigkeit und Effektivität eines neuen Deutschland beweisen.«9
Anders als Bauer sich erhofft hatte, haben die Alliierten und nicht die Deutschen Nürnberg veranstaltet. Es gab keine »Antinazisten« als politisch starke und einflussreiche Kraft, weder im Exil noch im besetzten Deutschland, die gegenüber den Alliierten eine juristische Selbstreinigung hätten durchsetzen können. Bauer war diese Entwicklung keineswegs recht. In einem Artikel über den Nürnberger Prozess meinte er: »Deutsche Antinazisten bedauern, dass die Verurteilung der nazistischen Verbrechen durch alliierte und nicht durch deutsche Gerichte erfolgt. […] Sie bedauern es, weil deutsche Gerichte Gelegenheit gehabt hätten, klar und deutlich der Weltöffentlichkeit zu zeigen, dass das neue Deutschland wieder ein Rechtsstaat geworden ist, der mit der rechtlosen Vergangenheit bricht und die nazistischen Vorstellungen, Macht sei Recht, verflucht.«10
Die Ahndung der NS-Verbrechen haben in den ersten drei Jahren nach Kriegsende die »Sieger« den Deutschen wohlweislich abgenommen. Vor deutschen Gerichten hat es wohl Prozesse zum Teil auf der Grundlage des zur Tatzeit geltenden Rechts, zum Teil auf den von den Alliierten rückwirkend geschaffenen Gesetzen (Kontrollratsgesetz Nr. 10) gegeben. Denunziationsdelikte, Verbrechen im November 1938 und sogenannte Endphasenverbrechen wurden zumeist verhandelt. Die deutsche Gerichtsbarkeit beschränkte sich freilich auf Verbrechen von Deutschen an Deutschen und an Staatenlosen. In den 1950er Jahren ging die Zahl der deutschen Verfahren stark zurück. Eine »Zeit der Stille« trat ein. Die NS-Vergangenheit erschien Politik, Justiz und Öffentlichkeit weitgehend als erledigt.11 1960 konstatierte Bauer in einem Aufsatz über die »ungesühnte Nazijustiz«, die fällige »geistige Revolution der Deutschen«12 sei ausgeblieben.
Als Bauer seit Frühjahr 1956 in Hessen den rechtspolitischen Freiraum durch die von Georg August Zinn geführte Landesregierung erhielt, verstärkt NS-Verbrecher zu verfolgen und Ermittlungsverfahren einzuleiten, mussten die Staatsanwaltschaften und die Schwurgerichte mit dem Strafgesetzbuch (StGB) von 1871 hantieren. Bauer wusste nur allzu gut, dass das StGB kein geeignetes Instrument war, die NS-Verbrechen zu ahnden. Er hoffte, wie er wiederholt betonte, auf die rechtsschöpferische Kraft einer Gerechtigkeit anstrebenden Justiz. Daraus ist aber nichts geworden. Die Schwurgerichte wandten das gute alte Recht an, das als Individualstrafrecht wenig tauglich war, die kollektiv begangenen Massenverbrechen tatangemessen zu judizieren.
Mithin musste Bauer angesichts des Widerstands sowohl an den neun hessischen Landgerichten als auch am Bundesgerichtshof mit seinem Vorhaben, die NS-Verbrechen umfassend ahnden zu lassen, scheitern. Dabei ging es Bauer nicht um Schuldsühne, um Tatvergeltung. Seine Anstrengung, die NS-Täter vor Gericht zu bringen, resultierte vielmehr aus seinem Bestreben, auch mit Hilfe von Strafprozessen Sachaufklärung zu betreiben und die »historische Wahrheit« über die NS-Verbrechen »kund und zu wissen zu tun«.13
Bauer hatte die Hoffnung, mit Hilfe von Verfahren gegen NS-Verbrecher den Deutschen das Spiegelbild ihres eigenen Handelns in den Jahren 1933 bis 1945 vor Augen führen zu lassen. In einem Prozess der Selbsterkenntnis sollten sie zu dem Ergebnis gelangen, dass sie hätten Nein sagen, sich dem Regime, seinen Untaten, seinen verbrecherischen Befehlen, verweigern müssen.
Wenn Bauer erwartete, dass die NS-Prozesse den Deutschen eine »Unterrichtsstunde« erteilten, ihnen ein Lehrstück seien, bei ihnen Lernprozesse in Gang setzten, so deshalb, weil er den Glauben hatte, die Deutschen um einer besseren Zukunft willen zu engagierten Demokraten erziehen zu können, zu Menschen somit, die unsere in der Verfassung festgeschriebenen Grundwerte achten und die universell gültigen Menschenrechte verteidigen.
Bauer, der sich nach 1945 eindeutig zu Nürnberg bekannt hatte, die Ablehnung der alliierten Gesetzgebung durch Politik und Justiz Anfang der 1950er Jahre als nunmehr bestallter Justizjurist freilich nicht weiter thematisieren konnte, sprach sich – mit Gustav Radbruch14 – erst Mitte der 1960er Jahre explizit wieder für die Rechtsgrundlagen der Nürnberger Prozesse aus.
In seinem posthum veröffentlichten Beitrag für die Radbruch-Gedächtnisschrift heißt es: »Das Kontrollratsgesetz [Nr. 10] gab der deutschen Rechtspflege eine Chance, einer Zeit revolutionären Unrechts, die Radbruch dämonisch und apokalyptisch nannte, durch revolutionäres Recht Herr zu werden. Das Kontrollratsgesetz und Radbruchs Stellungnahme zu ihm stießen auf Kritik und Ablehnung besonders durch den Bundesgerichtshof. Er weigerte sich, es anzuwenden. Man wünschte keine Revolution, nicht einmal in Gesetzesform und mit den Mitteln der Rechtspflege.«15
Bauers Radbruch-Aufsatz ist unter Rekurs auf seine Nürnberg-Texte zu lesen. 1968 bezog er sich angesichts des Fehlschlags, den die NS-Prozesse seiner Ansicht nach weitgehend bedeuteten, auf sein radikales Denken nach Auschwitz, auf seine 1945/46 veröffentlichten Auffassungen, die freilich in der Bundesrepublik eingedenk der personellen Kontinuitäten in Politik und Justiz und der allgemeinen politischen Situation zu Beginn des Kalten Krieges nie eine Chance gehabt hatten.
Die deutscherseits geforderte Entlassung der »Kriegsverurteilten« aus alliierter Haft, die Ablehnung der Nürnberger Rechtsgrundsätze, das Beharren auf der Anwendung des Rechts zur Tatzeit, das grassierende Gnadenfieber mit Beginn der Ost-West-Konfrontation, die Reintegration der Beamten des NS-Unrechtsstaats durch das »131er-Gesetz«, die bereitwillig vorgenommene Auslegung des »Überleitungsvertrags« von 1955 mit ihren verheerenden Konsequenzen für die Belangung derjenigen, gegen die alliierte Stellen wegen »Kriegsverbrechen« bereits Verfahren durchgeführt hatten, die Straffreiheitsgesetze von 1949 und 1954, die Verjährung von Totschlag 1960 – all diese von Politik und Justiz zu verantwortenden Entwicklungen sah und beklagte Bauer.
Nach dem Auschwitz-Prozess dachte er anders als nach Auschwitz. Hatte er um 1945 noch die Hoffnung auf Ein- und Umkehr der Deutschen, musste er sich Mitte der 1960er Jahre eingestehen, dass »die Scheu des deutschen Bürgers […], mit den gebieterisch fordernden Lehren der Prozesse«16 sich zu konfrontieren, stärker war als alle Bereitschaft, die Vergangenheit zu »bewältigen«. Dennoch hielt Bauer, nunmehr eher verzweifelt als hoffnungsvoll, an seinem »Erziehungsidealismus«, an seinem Glauben an eine »neue Pädagogik der Menschlichkeit«17 fest. Im Nachwort zur Buchausgabe seines berühmten, 1960 in Mainz gehaltenen Vortrags »Die Wurzeln nationalsozialistischen Handelns«, meinte er: »Die Zukunft ist zu gestalten, sie fällt uns nicht als Frucht ethischer Selbstverantwortung in den Schoß. Unsere politischen und sozialen Kräfte, unser Wille zur Utopie ist zu realisieren.«18
Zeitlebens gab Bauer nicht auf und arbeitete rastlos und unermüdlich für ein besseres Deutschland. Sein Zukunftsglaube, sein Optimismus blieben aber immer fragil. Mit Blick auf die Deutschen zitierte er wiederholt aus Friedrich Hölderlins Hyperion oder Der Eremit in Griechenland (1797/99). Hyperion schreibt über die Deutschen an seinen Freund Bellarmin: »Es ist ein hartes Wort und dennoch sag ichs, weil es Wahrheit ist: ich kann kein Volk mir denken, das zerrißner wäre, wie die Deutschen. Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen – ist das nicht, wie ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und alle Glieder zerstückelt untereinander liegen, indessen das vergoßne Lebensblut im Sande zerrinnt?«19
Bauer zitierte die Passage nicht vollständig in seinem Mainzer Vortrag, merkte aber zu dem über die Deutschen bitter klagende Dichter an, er habe gelitten und sei zerbrochen.20
Betrachtet man Bauer in seiner Gesamtheit, in seiner amtlichen Funktion, in seiner publizistischen Aktivitäten und in seinen privaten Verlautbarungen, ist man versucht, von ihm Ähnliches zu sagen. Seinem öffentlichen Optimismus kontrastierte sein privater Pessimismus. Im Gespräch mit Gerhard Zwerenz redete er von den »heiligen Irrtümern«21 der Emigranten, die nach wenigen Jahren Bundesrepublik recht verzweifelt feststellen mussten, wie ihre Hoffnungen zerstoben.
Bauer war ein überaus moderner Mensch, der die neuesten Ergebnisse der Wissenschaften rezipierte und die avancierte Kunst liebte. Er war aber auch zutiefst traditionell, präferierte Goethe im Fernsehen statt Krimis, hielt die Darstellung vorbildlichen Verhaltens für ein probates Erziehungsmittel, sprach sich für die Präsentation des nachahmenswerten Guten aus. Bauer verschrieb sich selbsttherapeutisch einem »Erziehungsidealismus«22, um nicht alle Lebenskraft zu verlieren. Seine Entscheidung, aus der Emigration zurückgekehrt zu sein, stellte er fortwährend in Frage. Die Bundesrepublik unter Konrad Adenauer, Ludwig Erhard und Kurt Georg Kiesinger, bessere Zeiten erlebte er leider nicht mehr, war ihm ein Graus. Er sah das Land auf dem Weg »nach rechts« und fürchtete eine »negative Utopie«.23
Gesundheitlich schwer angeschlagen war Bauer uneins mit sich selbst. Er beantragte eine Verlängerung seiner Dienstzeit bis ins Jahr 1971 und sprach zugleich davon, vorzeitig aus seinem Amt auszuscheiden und möglicherweise nach Israel umzusiedeln.24 Weder auf den Feldern der Strafrechts- und Strafvollzugsreform gab es nach Bauer die notwendigen Fortschritte. Auch auf dem Gebiet der justiziellen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit hatten nach Bauer Politik und Justiz versagt. Zurecht ist mit Blick auf den Lüneburger Gröning-Prozess festgestellt worden, dass »die schweren Versäumnisse bei der Strafverfolgung der Nazi-Verbrechen […] ein ewiger Makel der Nachkriegsjustiz«25 bleiben.
Vergeblich hat Bauer in der Justiz sein Bestes versucht und die Anstrengung unternommen, den Deutschen die »Pflicht zum Ungehorsam«26 und zum »Nein gegenüber staatlichem Unrecht«27 zu lehren. Seine Saat ist zu seinen Lebzeiten nicht mehr aufgegangen.
1 Fritz Bauer an Melitta Wiedemann im Jahr 1964, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, Jg. 19 (August 1968), H. 8, S. 492.
2 Werner Renz (Hrsg.), »Von Gott und der Welt verlassen«. Fritz Bauers Briefe an Thomas Harlan. Mit Einführungen und Anmerkungen von Werner Renz und Jean-Pierre Stephan, Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2015, S. 134.
3 Das Krumey-Hunsche-Urteil wurde vom BGH aufgehoben. In der Neuverhandlung vor dem Landgericht Frankfurt am Main wurde Krumey mit Urteil vom 29.8.1969 zu lebenslangem, Hunsche zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt. Siehe das Urteil in: C. F. Rüter u.a. (Hrsg.), Justiz und NS-Verbrechen, Amsterdam: Amsterdam/München: University Press/K.G. Saur Verlag, Bd. XXXIII, S. 5–64.
4 Siehe das Urteil vom 19./20.8.1965 in: Raphael Gross, Werner Renz (Hrsg.), Der Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963–1965). Kommentierte Quellenedition. Mit Abhandlungen von Sybille Steinbacher und Devin O. Pendas, mit historischen Anmerkungen von Werner Renz und juristischen Erläuterungen von Johannes Schmidt. Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2013, Bd. 2, S. 575–1236. – Das freisprechende Urteil gegen drei »Euthanasie«-Ärzte kam Mitte 1967 noch erschwerend hinzu; siehe das Urteil in: C. F. Rüter u.a. (Hrsg.), Justiz und NS-Verbrechen, Bd. XLVII, S. 232–283.
5 Wilhelm Dreßen, »Juristischer Umgang mit dem Holocaust. Die Entwicklung der Ermittlungsarbeit nach dem Krieg und die Zentrale Stelle zur Aufklärung von NS-Gewaltverbrechen«, in: … und hörten auf, Menschen zu sein: Der Weg nach Auschwitz, im Auftrag des Bundesarchivs hrsg. von Manfred Mayer, Paderborn u.a.: Ferdinand Schöningh Verlag, 2005, S. 103. – Wilhelm (Willi) Dreßen war von 1996 bis 2000 Leiter der Zentralen Stelle in Ludwigsburg.
6 Siehe die Angaben bei Dieter Pohl, Verfolgung und Massenmord in der NS-Zeit 1933–1945, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2003, S. 154 f.
7 Fritz Bauer, Krigs-forbrytarna inför domstol. Stockholm: Verlag Natur och Kultur, 1944 (schwedische Ausg.); ders., Krigsforbrydere for domstolen. København: Westermann, 1944 (dänische Ausg.); ders., Die Kriegsverbrecher vor Gericht. Mit einem Nachwort von H. F. Pfenninger. Zürich: Europa Verlag, 1945.
8 Fritz Bauer, »Die Abrechnung mit den Kriegsverbrechern«, in: Sozialistische Tribüne, H. 2, Februar 1945, S. 12.
9 Ebd., S. 13.
10 Fritz Bauer, »›Recht oder Unrecht … mein Vaterland‹«, in: Deutsche Nachrichten, Nr. 24, 24.6.1946, S. 2.
11 Siehe Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München: C. H. Beck Verlag, 1996 und Andreas Eichmüller, Keine Generalamnestie. Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen in der frühen Bundesrepublik, München: Oldenbourg Verlag, 2012.
12 Fritz Bauer, »Die ›ungesühnte Nazijustiz‹«, in: Die Neue Gesellschaft, Jg. 7 (1960), H. 3, S. 189.
13 Fritz Bauer, »Warum Auschwitz-Prozeß?«, in: Konkret, Nr. 3, März 1964, S. 12.
14 Gustav Radbruch, »Zur Diskussion über die Verbrechen gegen die Menschlichkeit», in: Süddeutsche Juristen-Zeitung, Sondernummer, März 1947, Sp. 131–136.
15 Fritz Bauer, »Das ›gesetzliche Unrecht‹ des Nationalsozialismus und die deutsche Strafrechtspflege«, in: Gedächtnisschrift für Gustav Radbruch, 21.11.1878–23.11.1949, hrsg. von Arthur Kaufmann, mit einem Geleitwort von Gustav Heinemann, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Verlag, 1968, S. 302–307, hier: S. 307. Siehe hierzu auch Ilse Staff, »Überlegungen zum Staat als ›Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen‹«, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Jg. 38 (1993), H. 12, S. 1520–1529, hier: S. 1528 f.
16 Fritz Bauer, »Im Namen des Volkes. Die strafrechtliche Bewältigung der Vergangenheit«, in: Helmut Hammerschmidt (Hrsg.), Zwanzig Jahre danach. Eine deutsche Bilanz 1945–1965. München: Kurt Desch Verlag, 1965, S. 310; ebenso in: Fritz Bauer, Die Humanität der Rechtsordnung. Ausgewählte Schriften, hrsg. von Joachim Perels und Irmtrud Wojak, Frankfurt, New York: Campus Verlag, 1998, S. 85.
17 Miloš Vec, »Der Gerichtssaal als Klassenzimmer der Nation«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3.2.2000, Nr. 28, S. 14 (Rezension von Fritz Bauer, Die Humanität der Rechtsordnung. Ausgewählte Schriften, hrsg. von Joachim Perels und Irmtrud Wojak, Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 1998).
18 Fritz Bauer, Die Wurzeln faschistischen und nationalsozialistischen Handelns, Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt, 1965, S. 77.
19 Friedrich Hölderlin, Werke und Briefe, hrsg. von Friedrich Beißner und Jochen Schmidt, Bd. 1, Frankfurt am Main: Insel Verlag, 1969, S. 433.
20 Bauer, Wurzeln faschistischen und nationalsozialistischen Handelns, S. 26.
21 Gerhard Zwerenz, »Gespräche mit Fritz Bauer«, in: Streit-Zeitschrift , H. VI, 2, September 1968, S. 92.
22 Vec, »Gerichtssaal als Klassenzimmer der Nation«, S. 14.
23 Zwerenz, »Gespräche mit Fritz Bauer«, S. 93.
24 In einem kurzen Beitrag zum gestellten Thema »Der Staat und die Intellektuellen« schrieb Bauer mit Blick auf die von der Politik gescholtenen Intellektuellen: »Auszuwandern wäre unverständlich. Auszuhalten ist eine vielleicht unangenehme, aber menschen- und völkerfreundliche Pflicht.« (In: Tribüne. Zeitschrift zum Verständnis des Judentums, Jg. 5 (1966), H. 17, S. 1800)
25 Heiko Maas, »Held und Helfer in Zeiten des Terrors«, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 26.4.2015, Nr. 17, S. 11.
26 Fritz Bauer, »Ungehorsam und Widerstand in Geschichte und Gegenwart«, in: Vorgänge. Eine kulturpolitische Korrespondenz, Jg. 7 (1968), H. 8–9, S. 291.
27 Bauer, »Im Namen des Volkes«¸ S. 314.