Heinrich Zschokke 1771-1848

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Heinrich verstand sich gut mit Capsius – den zweiten Lehrer erwähnte er nicht –, das heisst, er merkte rasch, worauf es bei ihm ankam. Es erwies sich von Vorteil, dass er an dieser Schule noch einmal frisch einsetzen konnte, niemand seine Vergangenheit, seine Lügen und Mogeleien kannte und der Schulstoff noch einmal von vorne begann. Niemand lachte ihn wegen seiner Manieren aus, keiner fühlte sich besser als er. Die Friedrichsschule hatte eine gemischte Zusammensetzung; es gab unter ihnen Söhne einfacher Handwerker, Strumpfwirker und Tuchmacher, deren Umgang Heinrich ja vertraut war. Als Ex-Gymnasiast umgab ihn sicherlich ein gewisser Nimbus, und in manchen Fächern mochte er einen Vorsprung besessen und sich gewählter ausgedrückt haben.

Latein wurde in der Quarta offenbar nicht gelehrt, jedoch in der Tertia, aber auch dort nur fakultativ. Französisch, Deutsch und Religion waren die Hauptfächer, während das Fach Mathematik marginal blieb und Geschichte, Geografie und Naturwissenschaften ein einziges Fach bildeten. Dafür wurden kaufmännische Kenntnisse vermittelt.162 Ein Schüler fiel besonders auf, weil er sich in wohlgeformten lateinischen Sätzen auszudrücken vermochte. Auf diese Weise hatte er die Gunst von Capsius erworben und erhielt die Erlaubnis, wenn er in Latein darum bat, während des Unterrichts hinauszugehen, wenn «Seiltänzer, Soldaten, die durch die Spießruthen liefen, Bären und Affen» in der Stadt waren.163

Dieses Privileg reizte Heinrich mehr als alle Meritentafeln und öffentlichen Belobigungen der Basedowschen Pädagogik. Sein Ehrgeiz wurde geweckt, es dem Kameraden gleich zu tun, und obschon er vom Latein dispensiert war, liess er sich von dem Vorzugsschüler in die Geheimnisse dieser Sprache einweihen und büffelte beharrlich Grammatik und Vokabeln, bis er sich sattelfest genug fühlte, um dem Lehrer damit zu imponieren.

«Vater Capsius, ob meiner plötzlichen Gelahrtheit erstaunt, prüfte mich anfangs zweifelnd; lobte mich dann; verkündete, aus mir werde etwas werden; und proklamirte mich feierlich, als seinen zweiten Lateiner mit allen und jeden einem solchen gebührenden Privilegien.»164

So war nun auch die Schmach behoben, der ewige Sitzenbleiber und zum Lernen zu dumm zu sein. Es erstaunt nicht, dass Capsius von allen Lehrern, die Heinrich unterrichteten, trotz seiner gelinde gesagt primitiven Erziehungsmethode von ihm am meisten gelobt wurde.

Ausser diesen Anekdoten erfahren wir nichts über Heinrichs Verweilen an der Friedrichsschule, nur dass er fleissig lernte. Auch hierin besass er ein Motiv, das mit der Schule wenig zu tun hatte. In Lemmes Haus arbeitete ein alter Invalider namens Krapp oder Krappe, der den Knaben – Heinrich Schocke, Gottlieb Lemme und Antoine Henri Faucher (Stiefsohn von Heinrichs jüngster Schwester) – die Abenteuer von Robinson Crusoe, von Albert Julius (aus Johann Gottfried Schnabels Roman «Die Felsenburg»)165 und von Robert Pierot166 so erzählte, als habe er selber sie erlebt.167 Als Krapp der Stoff ausging, war Heinrichs Durst nach Abenteuer-, Reise- und Seefahrergeschichten geweckt. Er fasste den Entschluss, selber Reisender zu werden, und um Unannehmlichkeiten zu vermeiden, wenn es ihn in fremde Länder verschlug, sich möglichst viel Wissen und Kenntnisse über die Welt, die Sprachen und Sitten der Völker anzueignen.168 Er tat genau das, woran Rötger seine Zöglinge hindern wollte: Er frequentierte Leihbibliotheken und las Reisebücher und Romane, die ihn immer stärker in ihren Bann zogen. Es war eskapistische Literatur, und zeitlebens erholte sich Zschokke beim Schreiben und Lesen von Abenteuergeschichten; als gestandener Mann las er mit Vorliebe die Romane von Walter Scott und James Fenimore Cooper, während ihn die «hohe Literatur» der Klassik und Romantik kalt liess und Goethe und Jean Paul ihn zum Gähnen brachten.169

Er war mit seiner Vorliebe für diese Art von Lektüre durchaus kein Einzelfall; die Trivialliteratur hatte den Büchermarkt erobert; Abenteuer- und Reisebücher lösten die theologischen und moralischen Schriften an Beliebtheit ab, gerade bei jungen Menschen, die in kein starres System von Familie und Kirche mehr eingebunden waren und sich selbst überlassen blieben. Rüdiger Safranski schreibt dazu:

«‹Sich selbst überlassen› bedeutet für einen Bürgersohn des ausgehenden 18. Jahrhunderts in der Regel: den Büchern überlassen. In dem lesehungrigen und schreibwütigen Zeitalter beginnen die herkömmlichen Erziehungsmächte Elternhaus und Schule an Autorität einzubüßen. Die junge Generation geht auf Entdeckungsfahrt in die sich grenzenlos öffnende Welt der Literatur. Die Familien [...] können der Anziehungskraft dieser neuen Welt nichts entgegensetzen; ebensowenig wie die Schulen, in denen ein Bildungskanon gepflegt wird, den die junge Generation als hoffnungslos verstaubt empfindet.»170

Mit zwölf legte Heinrich ein Tagebuch an, «welches nach wenigen Jahren, wie ich hoffte, an unglaublichen Begebenheiten überreich werden sollte».171 Es war nur eine Frage der Zeit, bis er selber beginnen würde, Geschichten zu schreiben. Eigentlich war die Weiche schon gestellt: Statt selber zu reisen wie Fritz, statt noch einmal zur Diamantensuche an den Oberlauf der Elbe aufzubrechen, fanden die spannendsten Reisen in seinem Kopf statt. Das Tagebuch verfehlte den Zweck, Abenteuer aufzuzeichnen – dazu passierte Heinrich in Magdeburg zu wenig Aufregendes –, führte aber «zu genauer Selbstbeobachtung», einer Aufnahme des Innenlebens.172 Hier wird neben Schummels Romanbegeisterung der zweite bedeutsame Einfluss seiner Kindheit sichtbar: der Pietismus des Vaters. Heinrich wurde in jener Zeit Katechismusschüler und musste den sonntäglichen Gottesdienst besuchen.

Seiner religiösen Entwicklung räumte Zschokke in «Eine Selbstschau» viel Platz ein, und nirgends so stark wie hier entsteht der Eindruck des nachträglich Konstruierten. Heinrich suchte in dieser Phase seines Lebens einen persönlichen Gott, einen Gott der Zwiesprache, von dem er sich Geborgenheit und Liebe erhoffte, die er im Leben entbehrte, einen Gott, der ihm den Vater ersetzte oder ihn über seinen Verlust hinwegtröstete. «Ich hielt Unterredungen mit Gott, und auf meine Bitten antwortete ich, in seinem Namen, selber.»173 Er dachte, mit einem himmlischen Wesen müsse man in Versen verkehren, und so entstanden seine ersten poetischen Versuche, die sich an Kirchenliedern und an den Dichtungen des Pietisten Barthold Heinrich Brockes174 orientierten. Dies war seine private Welt, von der die Lemmes keine Ahnung hatten und wofür sie wohl auch kein Verständnis gehegt hätten.

Der Zwang, in die Kirche gehen zu müssen, ohne innerlich dafür bereit zu sein, führte zu Zschokkes Forderung: «Der erste Tempelbesuch eines jungen Menschen sollte ihm nur bei hinlänglicher Verstandesreife gestattet und sein erster religiöser Festtag seyn.»175 Bei seinen Kindern setzte er dieses Prinzip konsequent durch: Ihre religiöse Erziehung geschah zu Hause durch die Eltern, und ihr erster Kirchgang war verbunden mit dem ersten Empfang des Abendmahls, also mit der Konfirmation.

Im Religionsunterricht, der ihn auf die Konfirmation vorbereiten sollte, lernte Heinrich «Katechismus, Bibelstellen und Gebete in Prosa und Versen in Fülle» auswendig, konnte aber nichts damit anfangen. «Sie lagen, wie todter Wörterkram, im Gedächtniß aufgespeichert.»176 Umgekehrt erhielt er keine Antwort auf die Fragen, die ihn beschäftigten und denen er 1796 seine philosophische Reise «Salomonische Nächte» widmete: Wer bin ich? Warum und für wen und für welchen Zweck lebe ich?177 Dabei verstieg er sich eine Zeitlang zu gefährlichen Ansichten:

«Zuweilen glaubt’ ich, die Welt sey ungefähr, wie ein Uhrwerk, dergleichen ich schon gesehn hatte, worin sich die Figuren bewegen müssen, ohne es zu wissen und zu wollen. Fragt’ ich darüber bejahrtere Personen, bekam ich entweder ungnädige, oder unbefriedigende Antworten. ‹Der liebe Gott hat das von Ewigkeit einmal so eingerichtet, du Dummkopf!› war der gewöhnliche Bescheid. Da dacht’ ich eine geraume Zeit, die ganze Welt sey ein weites Marionettentheater, auf welchem sich Gott, zu seiner Unterhaltung, der Thiere und Menschen, statt der Puppen, bediene. Diese Vorstellung bildete sich zuletzt in die seltsame Grille aus: ich sey mit Gott allein in der Welt, und sein Kind; er wolle mich aber noch erziehn, eh’ ich zu ihm in seinen Himmel komme. Darum habe er das wunderbare Theater für mich gebaut, auf welchem sich Menschen- und Thiergestalten nur bewegen, wann ich zu ihnen komme, und reglos sind, wenn ich sie nicht sehe. Indessen stelle Gott die Figuren in der Geschwindigkeit wieder anders, um mich damit zu überraschen.»178

Die Vorstellung, dass nur Gott und er selber existierten, während die restliche Welt aus lauter Marionetten bestehe, habe einige Wochen angehalten, schrieb Zschokke. Es war der Höhepunkt des Versuchs, sich gegen das schmerzliche Gefühl des Ausgestossenseins zu wehren. Die Schilderung in «Eine Selbstschau» und vor allem in den «Salomonischen Nächten», die seine innere Einsamkeit rückhaltlos preisgibt, erinnert an Anton Reiser und dessen seelische Nöte als Kind.

In der Tat wurde Zschokke stark von Karl Philipp Moritz’ Seelenerfahrungskunde und vor allem von der Seelenkrankheitskunde geprägt.179 Die Selbstbeobachtung und Selbstüberprüfung, die von seinem pietistischen Hintergrund angeregt wurde, erhielt durch Moritz einen wissenschaftlichen Aspekt. Indem die Herausgeber des «Magazins zur Erfahrungsseelenkunde», das den Nebentitel «Gnothi Sauton», Erkenne dich selbst, trug,180 die Leser ermunterten, ihre eigenen oder von Dritten erfahrene Beispiele seelischer Erschütterung und Zerrüttung mitzuteilen, lösten sie ein breites Interesse an psychischen und psychopathologischen Vorgängen aus. Dass sich Zschokke an dieser Zeitschrift nicht beteiligte, ist wohl hauptsächlich dem Umstand zuzuschreiben, dass nur bis 1792 Leserbeiträge aufgenommen wurden.181

 

Das zitierte Erlebnis ist zeitlich schwer einzuordnen. Einige Indizien lassen vermuten, es sei im letzten Jahr am Pädagogium des Klosters Unser Lieben Frauen passiert, als sich Heinrich der Verachtung der Lehrer und dem Spott der Mitschüler ausgesetzt sah, im Alter von neun bis zehn Jahren also. Eingeordnet ist die Schilderung in «Eine Selbstschau» aber nach den beiden Anekdoten um Lehrer Capsius, als er bei seiner Schwester Lemme wohnte. In den «Salomonischen Nächten», wo er den gleichen Seelenzustand, den er als Paroxysmus (Anfall) bezeichnete, ein erstes Mal beschrieb, setzte er die Zeit noch später an, mit ungefähr 14 Jahren.182 Da befand er sich aber bereits nicht mehr bei seiner Schwester und ging nicht mehr auf die Friedrichsschule.

Als Kontrapunkt zum Paroxysmus setzte Zschokke in «Eine Selbstschau» die Begegnung mit der Tochter seines Vormunds, Friederike Ziegener (1774 bis nach 1840).183 Ziegeners wohnten ebenfalls in der Dreiengelgasse, und Zschokke beschrieb Friederike oder Rikchen, wie er sie meist nannte, als «kleines, fröhliches Mädchen», «ein sehr schönes Kind», das in der warmen Jahreszeit im Freien mit ihm spielte, aber im Winter zu Hause und unsichtbar blieb.184 Womöglich hatte Heinrich sie schon kennen gelernt, als er noch in seinem Elternhaus wohnte; schliesslich waren die beiden Väter ja befreundet. Es bleibt bei dieser einzigen Erwähnung Friederikes im Zusammenhang mit ihrer Spielkameradschaft, die etwa zwei Jahre gedauert haben dürfte und auch mit Enttäuschungen verbunden war. Wenn er sie im Frühling nach langer Abwesenheit wieder zu Gesicht bekam, wurde aus dem Engel in überirdischer Schönheit, den er sich den Winter durch imaginiert hatte, ein «kleines, artiges Mädchen in seiner ganzen Gewöhnlichkeit».185

Heinrichs erwachtes Interesse an der Schule und seine Fortschritte in Latein führten dazu, dass für ihn wieder ein richtiges Gymnasium ins Auge gefasst wurde. Ausschlaggebend für die Wahl sei ein «Beschluß der über ihn wachenden Behörden» gewesen.186 Der Schulwechsel fiel damit zusammen, dass Heinrich es bei seiner Schwester nicht mehr aushielt. Er sei mehr als «Kostgänger und Dienstbursche, denn als Bruder» behandelt worden, klagte er.187 Die Lemmes hatten ihm in einem Hintergebäude eine Kammer ohne Heizung und Licht zugewiesen. Dort verbrachte Heinrich die meiste Zeit mit Lesen, Malen und Dichten. Er hätte sich vermutlich auch im Wohnzimmer bei den anderen aufhalten können, aber das wollte er offenbar nicht.

Man habe seinen schulischen und privaten Beschäftigungen kein Verständnis entgegengebracht, klagte er weiter. So habe man ihm Manuskripte seiner schriftlichen Arbeiten und Übersetzungen weggenommen, um Geld darin einzupacken. Zum Glück habe man seinen poetischen Briefwechsel mit dem Geist seines Vaters nicht entdeckt. «Insgesammt wackere Kaufleute und Handwerker, ohne größere Bildung, als zu ihrem Gewerbe genügte, waren sie eben nicht geeignet, den unruhigen Geist des kleinen Schwärmers auf richtigern Weg zu leiten.»188 Zwei Welten standen sich gegenüber: die kaufmännische und die gelehrte und poetische. Ob Zschokke den Lemmes gerecht wird, lässt sich im Nachhinein kaum mehr feststellen, da wir wie bei ihrer Beurteilung nur seine eigene Aussage besitzen. Immerhin schickten die Lemmes ihren Sohn Gottlieb ja ebenfalls aufs Gymnasium. Vielleicht stehen sie an dieser Stelle für den Kaufmannssinn und Krämergeist der Magdeburger schlechthin.

Heinrich war ein zorniger, rebellischer Jugendlicher geworden, voller Groll auf die Welt und mit einem empfindlichen Gerechtigkeitssinn. Als man ihn dabei ertappte, wie er eine ausgehöhlte Rübe mit einer Kerze als Lampe benutzte, um in der Dämmerung lesen zu können, wurde sie konfisziert. Vermutlich spielte eine nicht unwesentliche Rolle, dass er durch eine unvorsichtige Hantierung das Haus hätte in Brand stecken können. Der Streit eskalierte zu gegenseitigen Beschuldigungen und Drohungen. Anderntags habe er sich bei seinem Vormund beschwert und verlangt, dass man ihn seinem Kostgeld entsprechend besser behandle. Ziegener habe ihn abblitzen lassen, worauf er sich an die oberste Instanz, das städtische Vormundschaftsamt, wandte, an dessen Präsidenten, Bürgermeister Stieghan.189 Der habe ihn angehört, ihm dann freundlich auf die Schulter geklopft und versprochen: «Geh, es soll besser werden.» Daraus schöpfte er neue Hoffnung. «Es wird wieder besser werden!», war ein Satz, den er später für sich gern wiederholte, wenn Unglück und Verzweiflung über ihn hereinbrechen wollten.190

Die alte Tante Lemme – gemeint war die Ehefrau von Gottlieb Lemme, Anna Maria Lemme-Eulenberg (gest. nach 1841) –, so schrieb Zschokkes jüngster Sohn Olivier, habe nach der Lektüre dieses Teils von «Eine Selbstschau» heisse Tränen vergossen und gemeint, «es habe sich Papa darin zu hart gegen ihre verstorbene Schwiegermutter ausgesprochen».191 Heinrich trug mit seiner Haltung sicherlich zur angespannten Stimmung im Haus bei. Wie wenig kindliche Wertschätzung und Verständnis er der immerhin fast 22 Jahre älteren Schwester entgegenbrachte, zeigt eine Anekdote, die seine Söhne unter dem Titel «Blumenhaldner Naivitäten» veröffentlichten:

«Zur Zeit, als Papa noch bey seiner Schwester Lemme in Magdeburg an die Kost gieng, kam zu derselben eine arme Frau, welche sie bittend und mit Thränen angieng, ihr doch den Zins eines gewißen Kapitals zu erlaßen. Da aber Tante Lemme wie natürlich nicht darein willigen konnte, wurde Papa durch die Thränen und inständigen Bitten der armen Frau einentheils gerührt, und anderntheils durch die Hartnäkigkeit der Schwester empört, und voller Ärger sagte er zu ihr: ‹warum willst du diese Schuld der armen Frau nicht erlaßen, betest du nicht alle Tage, vergieb uns unsre Schulden, wie auch wir vergeben unsern Schuldnern?›»192

Wenige Tage nach seinem Gespräch mit Stieghan sei er von Lemmes weggekommen, «einem betagten Lehrer der Altstädter Schule» in Pension gegeben worden und dann ins Altstadtgymnasium übergetreten. Er war zwölf Jahre alt. Falls diese Zeitangabe Zschokkes stimmt,193 fand der Wechsel in die neue Schule im Winter 1783/84 statt; er hätte demnach anderthalb Jahre bei seiner Schwester gewohnt und die Friedrichsschule besucht. Nach den «Lebensgeschichtlichen Umrissen» handelte es sich bei dem «betagten Lehrer» um Johann Georg Christoph Neide (1756–1836), seit 1778 Lehrer und Subkonrektor am Altstadtgymnasium, 1784 Prorektor und 1792 Rektor. Aber selbst einem Knaben konnte Neide mit seinen 27 Jahren nicht als betagt erscheinen. Carl Günther glaubte diesen Widerspruch lösen zu können, indem er nach einem älteren Lehrer suchte und auf August Wilhelm Ferber (1741–1784) stiess, der seit 1772 am Altstadtgymnasium unterrichtete. Das einzige Indiz aber ist Ferbers Alter und Todesjahr, denn Zschokke schrieb, er sei nach «bald erfolgtem Tode» seines Pensionsgebers zum emeritierten Rektor der Schule, Elias Caspar Reichard (1714–1791), gekommen.194

Eine weitere Version erzählte Zschokke seinen Söhnen, die sie im «Blumenhaldner» veröffentlichten. Danach kam Heinrich zu einem Herrn Schulze, der zwar nicht unterrichtete, aber durch seine Pedanterie und andere Gewohnheiten gleichwohl wie ein Lehrer wirkte. Als Witwer lebte er mit seinen beiden Kindern Lotte und Fritz und einer Haushälterin in grösster Sparsamkeit. Schulze habe Heinrich wegen seines Schulfleisses bei sich aufgenommen, da er sich einen Ansporn für seinen faulen Sohn Fritz erhoffte. «Er ergriff darum auch gerne jeden günstigen Anlaß, diesem Vorwürfe wegen seines Leichtsinnes und geringen Fleißes zu machen, um ihm dann den kleinen und viel jüngeren Zschokke zum Vorbild aufzustellen.»195

Zschokke berichtete seinen Söhnen von seinem Aufenthalt bei Schulze als Auftakt zu einer Episode, in der sich die kleinbürgerliche Idylle, die sich in dem einzigen Wohn- und Esszimmer abspielte, jäh in eine häusliche Katastrophe verwandelte. Alle waren um den alten Ofen versammelt, wo die Haushälterin ihren Brei kochte. Nach seiner Gewohnheit sass Schulze in der Dunkelheit im Lehnstuhl und schmauchte eine lange, tönerne Pfeife. Heinrich rückte näher an den Ofen, um beim Schein der verglimmenden Kohlen Schillers «Fiesco von Genua» zu lesen. Weil der unbeschäftigte Fritz ihn plagte und zwickte, stiess Heinrich aus Versehen mit dem Fuss gegen das Ofenbein; das wacklige Gebilde kippte, der Topf mit dem Brei ging in Stücke und Vater Schulze zerbrach beim Aufspringen seine Pfeife. Man bezichtigte sich gegenseitig, bis die Schuld an der Haushälterin hängen blieb, «wiewohl sie mit Thränen ihre Unschuld, und die Vortrefflichkeit des verschütteten Brei’s betheuerte».

Im «Blumenhaldner» wird diese Anekdote als amüsante Geschichte behandelt, was sie im Nachhinein gewiss war. Wenn sie aber stimmte, dann erlebte Heinrich bei Schulze noch einmal, dass man ihn bei seinen Studien und beim Lesen störte und ihm das erforderliche Licht missgönnte. Aus diesem Grund dürfte sein Aufenthalt dort nur von kurzer Dauer gewesen sein. Ob er von da noch zu Prorektor Neide kam, wie er in den «Lebensgeschichtlichen Umrissen» behauptete und wie es im «Blumenhaldner» steht,196 oder bereits von Rektor Reichard aufgenommen wurde, muss unentschieden bleiben. Weil Zschokke von ihm als einem emeritierten Rektor schrieb, fand sein Einzug in Reichards Haus, falls wenigstens diese Aussage richtig ist, frühestens im Oktober 1784 statt.

Es war nicht ungewöhnlich, dass Schuldirektoren und sogar Universitätsprofessoren Schüler oder Studenten in Pension nahmen, um ihr Gehalt aufzubessern. Reichard hätte es eigentlich nicht nötig gehabt. 1765 gab er ein Einkommen von 477 Talern an und verdiente damit mehr als die fünf Konventualen des Pädagogiums des Klosters Unser Lieben Frauen zusammen – aber was wissen wir schon über seine Auslagen? 1769 erhielt er wegen seiner Schwerhörigkeit einen Gehilfen mit dem Titel eines Subrektors und einem Gehalt von 200 Talern, 1774 wurde sein Pensum auf neun Stunden reduziert. Er gab fortan den Primanern Universalgeschichte, unterrichtete Latein nach Vergils «Aeneis» und den Briefen des jüngeren Plinius, korrigierte die lateinischen Übungen und führte im Übrigen das Leben eines Privatgelehrten. Am 1. Oktober 1784 wurde er unter Überlassung seiner Emolumente (Gebühren) von 311 Talern nebst freier Wohnung pensioniert; er starb am 18. September 1791.197

Wiederum erfahren wir von Zschokkes Aufenthalt im Altstädter Gymnasium nur einige Anekdoten und dass er «in eine der obern Klaßen» eintrat198 und bis zur Prima aufstieg. Wir erhalten keine Informationen über die Lehrer und den Unterricht, und diesmal helfen uns auch Akten nicht weiter. Das Schularchiv scheint nicht mehr zu bestehen, und wir sind vorab auf ältere Darstellungen der Schulgeschichte angewiesen.

Wie schon zu Melanchthons Zeiten standen das Trivium und der altsprachliche Unterricht auch hier an vorderster Stelle. 1759 wurden als fakultative Fächer Französisch und Mathematik in den Lehrplan aufgenommen.199 Der Schule fehlte ein Reformator wie Hüffer (an der Friedrichsschule) oder Rötger und Schummel (am Pädagogium des Klosters Unser Lieben Frauen). Wäre ein solcher aufgetreten, dann hätte er «einen harten Strauß zu bestehen» gehabt gegen das «Ungeheuer, Autorität des Alterthums», und sich, wie Joachim Christoph Friedrich Schulz spottete, mit dem Einwand der Reformgegner herumschlagen müssen:

«‹Wir sind doch auch auf dieser Schule gewesen, und keine Dummköpfe geblieben!› Diese Antwort würde sich jedem Verbesserer in Riesengröße entgegenstellen, und um so gewaltiger widersetzen, da er nicht sagen darf: ‹Es könnte doch wohl seyn, Wohlweise Herren, daß Sie ein wenig klüger geworden wären, wenn Sie auf einer bessern Schule studiert hätten.›»200

Reichard kümmerte sich in den letzten Jahren kaum mehr um das Schicksal seiner Schule, und da auch die Stadt Magdeburg mit ihrem Aufsichtsorgan, dem Scholarchat, die Reorganisation verschlief oder behinderte, musste Johann Georg Christoph Neide, Reichards Nachfolger, 1798 einen harten Schnitt vornehmen und das Gymnasium in eine höhere Bürgerschule umwandeln.201

SCHRIFTSTELLERISCHE AMBITIONEN

Dank Capsius hatte Heinrich seine Scheu vor dem Latein überwunden und konnte, wie es scheint, im Unterricht fortan gut mithalten. Er lernte mit Eifer, zeichnete sich bei den Prüfungen aus und wurde zu einem Musterschüler, wenn nicht gar zum Liebling seiner Lehrer. Die Kenntnisse, die ihm am Altstädter Gymnasium nicht oder unzureichend vermittelt wurden, vor allem in den Naturwissenschaften, in Geschichte und Geografie, musste er sich autodidaktisch erarbeiten. Dazu standen ihm die Bibliothek Reichards und Aufzeichnungen des 1782 gestorbenen Lehrers Johann Andreas Lütger202 zur Verfügung. Elias Caspar Reichard gewährte ihm Zutritt «in sein gelehrtes Sanctuarium». Der Anblick habe ihn überwältigt: «Dies war ein weites, halbdunkles, mit wohlgefüllten Büchergestellen umzogenes Zimmer. Hier saß inmitten desselben der harthörige Greis, vom Morgen bis zum Abend am langen, mit Folianten und Oktavbänden belasteten Tische, und ersetzte, durch Beschäftigung mit Gedanken verstorbener Männer, den Verlust des Verkehrs mit Lebenden.»203

 

Reichard arbeitete am zweiten Band seiner «Vermischten Beiträge zur Beförderung einer nähern Einsicht in das gesamte Geisterreich», die «zur Verminderung und Tilgung des Unglaubens und Aberglaubens» beitragen sollten. Der erste Band war 1781 erschienen,204 der zweite, der die Bekämpfung des Unglaubens nicht mehr im Titel trug, kam 1788 heraus,205 und Heinrich durfte sich rühmen, daran mitgewirkt zu haben.

Reichard benutzte Nachrichten und Erzählungen von «Zaubereyen, Hexereyen, Geistererscheinungen, Geisterbeschwörungen, Ahndungen, Träumen, teuflischen Besitzungen, Wunderkuren, Prophezeyungen» und «theologische, juristische, medicinische und philosophische Abhandlungen über dergleichen Materien», die er exzerpierte und vollständig oder in Auszügen abdruckte und mit kritischen Kommentaren versah, um der Menschheit «Wahrheit in Begriffen, Licht im Verstande, Tugend im Herzen, Ruhe und Zuversicht in der Seele und ein vernünftigeres, Gott gefälligeres Christenthum» zu geben.206 Zschokke argwöhnte, dass Reichard vor dem Aberglauben, den er bekämpfte, selber nicht gefeit gewesen sei. «Man stäubet nicht leicht etwas aus, ohne dabei selbst etwas staubig zu werden.»207 In Zschokkes Erstlingsroman «Geister und Geisterseher oder Leben und frühes Ende eines Nekromantisten», dessen Hauptperson stark autobiografische Züge trägt, kommt Reichard ebenfalls vor.208

Die Zeit der Konfirmation nahte. Seine religiöse Unterweisung erhielt Heinrich von Georg Andreas Weise (1737–1792), den er schon beim Kirchgang mit dem Vater kennen gelernt hatte, dem zweitem Pfarrer an der St. Katharinenkirche, einem lieben, frommen, zum Pietismus neigenden Mann.209 Jetzt war Heinrich empfänglicher für die «rednerische Inbrunst im Vortrage» und die «Glut seiner Andacht im Gebet».210 Im Leben Jesu, von der Welt verkannt und verstossen, erkannte Heinrich sein eigenes Schicksal; in den Sündern, die Weise zur Umkehr aufforderte, sich selbst.

«Selten verließ ich das Pfarrhaus ohne wundgeweinte Augen; ohne Schmerzen der Reue über meine Vergehen. Jede kindliche Eulenspiegelei und Übereilung trug jetzt die Gestalt einer unverzeihbaren Sünde. In meinem Stübchen jammert’ ich in wiederholten Gebeten auf den Knieen um Barmherzigkeit und Gnade, und legte unter heißen Thränen die Gelübde der Besserung ab. Christus ward fortan mein Gedanke, mein Vorbild, meine Liebe, mein Leben.»211

Die Konfirmation, von der er ein Wunder erwartete, einen Fingerzeig Gottes, enttäuschte ihn masslos; das Zeremoniell, das respektlose Benehmen der Konfirmanden, der Ablauf hatten nichts mit dem religiösen Feuer zu tun, das in ihm brannte und durch mystisch-religiöse Schriften genährt wurde.212 Er hatte den Heiland zu seinem alleinigen Herzensfreund gewählt, aber das Leben behinderte die so sehnsüchtig erwartete Innigkeit im einfachen Glauben. Beim Abendmahl erwartete er während der Kommunion eine unmittelbare Berührung durch Gott, die ausblieb. Stattdessen lenkten die Schule, die Bücher und das Studium Heinrichs Schritte in eine andere Richtung. Sein Bildungshunger gewann immer mehr an Gewicht.

In Zschokkes Nachlass befinden sich zwei Bände in einem Schuber mit der Goldschrift: «Joh. Heinr. Dan. Zschokke’s Schularbeiten aus den Jahren 1784–1787. in Magdeburg. 1. 2. Theil.»213 Sie sind nicht im Unterricht, sondern in seiner Freizeit entstanden und zeigen, wofür der 13- bis 16-Jährige sich interessierte: historische, theologische, naturwissenschaftliche, philosophische Bücher, Biografien und Reisebeschreibungen.

Der erste Band wurde im November 1784 abgeschlossen, entstand in Heinrichs erstem Jahr am Altstädter Gymnasium, man sucht aber vergeblich nach einem inneren Zusammenhang. Vielleicht las Zschokke einfach, was in Reichards reichhaltiger Bibliothek herumlag. Wie kommt es denn aber, dass die Handschrift in diesen Aufzeichnungen nicht von Zschokke stammt, obwohl an zwei Stellen auf ihn als Verfasser hingewiesen wird, so schon auf dem Titelblatt: «Von meinen verschiedenen Auszügen. Erster Theil. Joh. Heinr. Dan. Schocke Magdeburg d 11. Nov. 1784.»? Man wäre geneigt, eine falsche Zuschreibung anzunehmen, hätte Zschokke nicht persönlich 1846 einem Besucher die beiden Bände als sein Werk präsentiert.214

Der zweite Band, laut Datum im November 1787 fertig gestellt, ist in der hinteren Hälfte in der Mehrheit in Zschokkes eckiger Handschrift beschrieben und hat ausser den Seereisen von James Cook vorwiegend geschichtliche und literaturgeschichtliche Themen zum Inhalt. Hier wenigstens lässt sich ein Schwerpunkt feststellen: Charakteristika von Schriftstellern wie Molière, Shakespeare, John Dryden und Ludwig Christoph Heinrich Hölty, dem Mitbegründer des Göttinger Hainbunds.

Heinrich las während seiner Zeit am Altstädter Gymnasium nach eigenen Angaben «ohne Wahl und Ordnung, was Zufall, oder Neugier, mir in die Hand führte; Dichter, Astronomen, Chroniken, Philosophen, Reisebeschreibungen, Kirchenhistorien u. s. w.»215 Er habe damals den Entschluss gefasst, Gelehrter oder Polyhistor zu werden, und sich Reichard zum Vorbild genommen.216 Die Unterhaltungsromane aus der Leihbücherei wurden also durch wissenschaftliche Werke abgelöst oder mindestens ergänzt, aber da diese Lektüre unsystematisch blieb, war auch das Wissen nur oberflächlich. In den «Lebensgeschichtlichen Umrissen» gab er selbstkritisch zu:

«Diese ungeregelte Vielthätigkeit des Geistes, vereint mit wahlloser Liebe alles dessen, was ihm wissenswürdig schien, ging aus jener Zeit in die spätern Jahre über; und es ist schwer zu entscheiden, ob er dadurch mehr verloren, als gewonnen habe. Wenn er einerseits der Gefahr oberflächlicher Vielwisserei nicht entrann, gewann anderseits eine Mannigfaltigkeit und Unbefangenheit der Ansicht und des Urtheils, deren sich einseitigere Ausbildung selten freut.»217

Wäre Zschokke Wissenschafter geworden, so hätte er keine grossen Stricke zerrissen; seine Phantasie, die Lebhaftigkeit seines Geistes, das Bestreben, Theorien zu veranschaulichen und anderen zu erklären, machten ihn zum Schriftsteller und Pädagogen und nicht zum Gelehrten. Dies zeigte sich auch auf einem zweiten Feld. Elias Caspar Reichard setzte ihn für Kärrnerdienste an seinem Buch «Wider den Aberglauben» ein. Er habe, schrieb Zschokke später, Übersetzungen und Auszüge aus alten Schmäuchern angefertigt. Manches sei wörtlich in Reichards Kompendium eingeflossen.218

Ein einziger Beitrag lässt sich mit ziemlicher Sicherheit Zschokke zuordnen, zumal er mit «Z.» gekennzeichnet ist. Es ist die Erzählung «Meps»,219 die sich auf einen vorangegangenen Aufsatz «Etwas von Gespenstern und von der Furcht vor Gespenstern» bezieht und den Vermerk trägt: «Ein Pendant zur vorherstehenden Abhandlung». Offenkundig war es kein Bericht über einen wirklichen Vorfall, sondern eine eigens für die «Beiträge» erfundene Erzählung und fiel als solche aus dem Rahmen. Vom Aufbau, Inhalt und Stil, auch von den Dialogen und den Redewendungen her, ist es ein typisches Produkt Zschokkes; etwas grell, noch nicht sehr raffiniert, die Schreibe eines 15- oder 16-Jährigen, die vorab durch Witz überzeugt, durch das schauerliche Element und eine Spannung, die auf den Höhepunkt zutreibt, bevor sie, genau wie der Spuk, den sie beschreibt, in sich zusammenfällt. «Meps» ist die erste bekannte Prosaschrift Zschokkes. Reichard übernahm sie augenscheinlich ohne Änderung in sein Buch. Er pflegte ohnehin nicht viel abzuändern, doch hier spürte er wohl in der kleinen Arbeit seines Schülers das Frische, die Lust am Spielerischen und den aufklärerischen Effekt.