Heinrich Zschokke 1771-1848

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Die Rahmenbedingungen waren für Heinrich somit ausgezeichnet, als er am 26. April 1779 in diese Schule eintrat. Es wurde ein Fiasko daraus, das an Pfingsten 1781 zu seinem Ausschluss führte. Es lässt sich kaum eine Schulkarriere vorstellen, die bei so guten Voraussetzungen – pädagogischen und fachlichen der Schule und intellektuellen des Schülers – einen schlechteren Verlauf hätte nehmen können. Sie scheint ein einziges grosses Missverständnis gewesen zu sein; alles lief schief. Für Heinrich war die Schule ein Martyrium, für die Lehrer war Heinrich ein Ärgernis und der Schule drohte ein Reputationsverlust. In seiner «Selbstschau» erinnerte sich Zschokke mit Bitterkeit an die beiden verlorenen Jahre.

«Ich ward in die unterste der Klassen gesetzt. Allein mir Unglücklichen, dem noch die dürftigsten Vorkenntnisse fehlten, blieb aller Unterricht dunkel. Ich saß da, von langer Weile geplagt. Mich ihrer zu entschlagen, überließ ich mich dem sanften Zuge angenehmer Träumereien; zeichnete ungeschlachte Riesen und Ungeheuer aufs Papier; sah in den geometrischen Figuren, welche uns der Lehrer auf die schwarze Wandtafel abbildete, Irrgärten, Thürme und fantastische Brücken. Für kleine Gegengefälligkeiten ließ ich mir von einem Mitschüler die Schulaufgaben lösen, um Strafen und Vorwürfen zu entgehn.»101

Heinrich scheint beim Schuleintritt von Latein und Französisch nichts verstanden zu haben und ein Jahr später nicht viel mehr. Wie es mit den andern Fächern stand, wissen wir nicht.

Direktor Rötger gab 1783 den Lehrern, Eltern und Schülern mit seiner «Ausführlichen Nachricht von dem Pädagogium am Kloster Unser Lieben Frauen in Magdeburg», eine Anleitung, wie seine Schule funktionieren sollte. Darin schrieb er in seiner etwas skurrilen Orthografie:

«In den Unterricht bei uns kan jeder aufgenommen werden, der mit Fertigkeit teutsch und lateinisch lesen, etwas ihm Vorgesagtes ohne mühsame Zusammensuchung zu Papier bringen kan, und die lateinischen Paradigmen der Deklinazionen und regulairen Konjugazionen wenigstens mechanisch und mit nothdürftiger Fertigkeit ins Gedächtniß gefaßt hat; und von dem es mir nicht wahrscheinlich sein muß, daß er in Absicht der Sitlichkeit ein Verderber unserer andern Schüler sein mögte.»102

Vom Eintrittsalter hänge das nicht ab, schrieb Rötger weiter; man habe schon 8-Jährige aufgenommen, «die uns gar nicht lästig wurden».103 Er empfehle aber, Schüler nicht unter zehn oder zwölf Jahren anzumelden, da sie schon einigermassen erzogen sein müssten. Beidem, den erforderlichen Lateinkenntnissen und einer Erziehung, war Heinrich bisher nur ungenügend teilhaftig geworden. Er wurde mit seinen acht Jahren der Schule durchaus lästig.

Nach Zschokkes «Selbstschau» müsste man annehmen, dass er sich keiner Eignungsprüfung unterziehen musste. Im Lehrkörper war man sich nicht einig, ob an die Anfänger überhaupt schulische Bedingungen gestellt werden sollten. Auf die Frage Rötgers an einer Schulkonferenz, «was für Fähigkeiten und Käntniße der mitbringen müße, welcher in unsrer Quarta aufgenommen zu seyn wünschte», antwortete ein Lehrer: «Aber warum will mann nicht ieden, der lesen kann aufnehmen? Es war, wo ich nicht irre, der Zweck der Einrichtung dieser Klaße, auch die ersten Anfänger aufzunehmen.»104 Selbst wenn Heinrich also eine Prüfung ablegte, die für jeden Neuen Pflicht war, hiess das nur, dass er überall in die unterste Stufe kam, und nicht, dass man ihn zurückstellte.

Dabei war der Schulleitung durchaus bewusst, dass die angemeldeten Schüler sehr unterschiedliche Vorkenntnisse mit sich brachten. Deshalb wurde 1778 noch eine Vorbereitungsklasse (Quinta) eingeschaltet, welche die bisherigen vier Hauptklassen (Quarta bis Prima) ergänzte. Man stellte dafür einen neuen Lehrer ein, den Kandidaten der Theologie Johann Ferdinand Laue.105 Möglicherweise wurde Heinrich dieser Vorbereitungsklasse zugeteilt. Eine Erwähnung Zschokkes finden wir aber erst ein Jahr später als Schüler der Quarta. Er selber entsann sich, an der Klosterschule hauptsächlich Unterricht von Laue empfangen zu haben.106 Da Laue die Fächer Geografie und Geschichte auch in der Quarta unterrichtete, könnte er zwar auch in die Quarta eingetreten sein; der Besuch der Quinta ist bei seinen mangelhaften Kenntnissen aber wahrscheinlicher.

Wollte Heinrich von der Quinta aufsteigen, so musste er bestimmte Leistungen in Latein erbringen, die Rötgers so umschrieb: «[...] ein Schüler kan aus derselben nicht eher versezt werden, bis er sich einen ziemlichen Vorrath von Wörtern der lateinischen Sprache, die am häufigsten vorkommen, gesamlet, die regulairen Flexionen der Verben sich bis zur Fertigkeit geläufig gemacht, und leichte Sprachsätze auseinander wikkeln und konstruiren kan.»107

Zschokke behauptete, er sei mangelnder Leistungen wegen aus der Schule geworfen worden. Nachdem er sich lange durchgemogelt habe, sei er bei einer öffentlichen Prüfung vor der gesamten Lehrerschaft aufgeflogen. «Ich hatte in Jahr und Tag nichts gelernt; und ward, wie billig, um der berühmten Schulanstalt kein Vorwurf zu werden, wegen Mangel an Geistesfähigkeit, aus ihr verwiesen.»108

Es gelang Heinrich offenbar, den Lehrer, also Laue, hinters Licht zu führen: «Ich, der noch nicht französisch lesen konnte, lernte, mit kräftigem Gedächtniß, ganze Seiten französisch auswendig, die ich mir deutsch geschrieben hatte, und die Übersetzung dazu.»109 Nach dieser Selbsteinschätzung ist es merkwürdig, dass er binnen eines Jahrs von der Quinta in die Quarta versetzt wurde, es sei denn, er hätte es fertiggebracht, Laue auch in Latein so zu täuschen, dass seine Unwissenheit verborgen blieb.

Im Dezember 1780 wurde erstmals nach vielen Jahren wieder eine öffentliche Prüfung abgehalten und von da an jedes Vierteljahr.110 Hier wurde «dem Schüler Gelegenheit gegeben zu zeigen, ob und wieviel er von dem, was er lernen konte, wirklich gefaßt und behalten, oder nicht».111 Heinrichs Mogelei kam an den Tag. Seine Blamage erinnert an jene von Tom Sawyer in Mark Twains Roman, der, statt Bibelstellen auswendig zu lernen, von seinen Mitschülern Gutscheine eintauscht und an der Preisübergabe vor der ganzen Kirchgemeinde bei der einfachsten Frage versagt.

Zwar erfolgte der Schulausschluss Heinrichs nicht «wegen natürlicher Stupidität»112 oder, wie an anderer Stelle zu lesen ist, weil er «unfähig zur Erlernung höherer Wissenschaft erklärt» wurde,113 in Zschokkes Erinnerung aber wird die Verbindung zwischen schwacher Schulleistung und seiner Relegation in dieser Weise bestanden haben. Wie wäre er sonst dazu gekommen, die Schande einzugestehen, wegen Dummheit von der Schule gewiesen worden zu sein?

Carl Günther äusserte als erster Zweifel an diesem Konnex, weil die Schulordnung keine Wegweisung wegen Unfähigkeit kannte, und er beruft sich auf Behrendsens Notizen, wonach eine eigenmächtige Reise nach Böhmen die wahre Ursache dafür gewesen sei.114 Wenn ein Schüler in einem Fach nicht genügte, blieb er einfach sitzen; hinausgeworfen wurde er nicht. Uwe Förster führt Schüler an, die bis zu siebzehn Semester im Pädagogium verbrachten.115 Wenn einem Schüler die Zeit zu lang wurde, ging er noch vor der Prima ab, ohne dass dies seinen Universitätseintritt behinderte. Erst 1789 wurde dafür in Preussen zwingend eine Reifeprüfung verlangt.

Heinrich, der eingestandenermassen während des Unterrichts mehr träumte als lernte, wurde von drei Fächern besonders gefesselt: von Geografie und Geschichte, die gemeinsam unterrichtet wurden, und von Französisch. Bei letzterem reizten ihn nicht die Sprache, sondern die Erzählungen von 1001 Nacht. In Geografie und Geschichte konnte er seiner Einbildungskraft freien Lauf lassen. Auf Landkarten reisten die Schüler der Quinta rund um die Welt und quer durch Europa und Deutschland; «zur Ermunterung der Aufmerksamkeit und zur Belohnung des Fleißes» wurden ihnen von Zeit zu Zeit «einzelne sehr merkwürdige und zugleich sehr interessante, vorzüglich Moralbefördernde Begebenheiten aus der Geschichte, oder auch besondere geographische Merkwürdigkeiten, Volkssitten und dergleichen» erzählt.116 Was konnte es für Heinrich und seine Mitschüler Schöneres geben, als sich solche Geschichten erzählen zu lassen? Wenn nur Latein nicht gewesen wäre!

Der Lateinlehrer war zugleich Hauptlehrer der Klasse und für die Einschätzung der Schüler zuständig, da er dank den meisten Stundenzahlen am ehesten mit ihnen vertraut war. Sein Urteil bestimmte, ob ein Schüler am Ende des Semesters vorrückte oder sitzen blieb. Jede Stufe wurde in zwei Ordnungen unterteilt, so dass ein Schüler zuerst von der Unter- in die Oberquinta aufrücken musste, bevor er in die Unterquarta kam. Zwar konnte ein Schüler in jedem Fach aufsteigen, wenn er die Leistungen erbrachte, aber nur Latein bestimmte den Rang. Als Rötger Probst wurde, wollte er dies abschaffen und eine Versetzung nach der Gesamtleistung einführen. Er habe aber einsehen müssen, «daß die Sache zuviel Schwürigkeiten, und zu wenig Nutzen» bringe, und alles beim Alten gelassen.117

Seit 1780 wurden in der Quinta und Quarta monatliche Zensuren vergeben und in Tabellen eingetragen.118 Ebenfalls 1780 wurden vierteljährliche «Konduitenlisten» eingeführt, in denen der Hauptlehrer Betragen und Fleiss jedes Schülers und seine Entwicklung gegenüber dem Vorquartal festhielt. Diese Beurteilungen wurden in der Schulkonferenz besprochen und hernach den Schülern unter vier Augen mitgeteilt.119 Rötger wollte dadurch den Charakter eines Schülers kennen lernen und mit ihm mit «Vater- und Freundes-Ernst» reden.120 «Einflössung guter, den Fleiß und das Verhalten des Schülers lenkender, und sein Herz für Tugend und Religion erwärmender Grundsätze ist und bleibt bei aller Erziehung durchaus Hauptsache.»121

 

Schüler, die sich auszeichneten, wurden an einem schwarzen Brett belobigt. Auch andere Anreize sollten den Ehrgeiz anspornen oder von Fehlverhalten abschrecken. Dazu stellte Rötger in 118 Schulgesetzen Richtlinien zusammen, die, genauso wie die abgestuften Strafen und Belohnungen, den Lehrern, Schülern und Eltern bekannt gegeben wurden, so dass alle wussten, wie man sich zu verhalten hatte und welche Konsequenzen zu erwarten waren, falls man gegen die Regeln verstiess.122

Ob Rötgers Regeln umgesetzt wurden, wäre näher zu untersuchen. Er formulierte pädagogische Ziele, ohne sich der Illusion hinzugeben, dass man sie auch erreichte, denn «Ideale sind für diese Welt nicht».123 Der Erfolg seiner Pädagogik, die auf Charakterbildung abzielte, sei aber deutlich sichtbar, denn der Schulfleiss gehöre seither zum herrschenden Schulton, und man müsse einzelne Schüler sogar bremsen, damit sie nicht übertrieben.124 Was Körperstrafen betrifft, so hat Uwe Förster gezeigt, dass sie auch unter Rötger noch ausgeübt wurden.125

Während die Zensurtabellen vor 1817 fehlen, sind die Konduitenlisten noch da. Die Quarta wurde seit Februar 1780 von Johann Friedrich Wilhelm Koch (1759–1831) geführt, der zuvor an der Domschule, einem anderen Magdeburger Gymnasium, unterrichtet hatte. Er war ein enorm vielseitiger Lehrer, gab Latein, Griechisch, Hebräisch, Mathematik, Physik, Religion und Singübungen und betreute die Schulbibliothek. Für Rötger, der seine fachlichen und pädagogischen Qualitäten schätzte, wurde er bald unentbehrlich; Koch wurde 1785 in den Klosterkonvent aufgenommen, zum Rektor des Pädagogiums ernannt und 1792 dritter Prediger an der St. Johannis-Kirche.126

Kochs Urteil in der Konduitenlisten vom Sommer 1780 über Heinrich war vernichtend: «Schokke kann ich kein erträglich Prognostikon stellen, denn hier konkurriren schlechter Kopf und Faulheit. Seine Sitten sind Sitten eines Bauers.»127 Heinrich musste erkennen, dass es mit der Schonung und Nachsicht vorbei war, die er bei Lehrer Laue genossen hatte. Koch war nicht geneigt, ungenügende Leistung oder Unaufmerksamkeit im Unterricht zu übersehen. Auch über einen zweiten Schüler urteilte er hart: «Walstorffs ganzes Seyn ist ein Komplexus von unerträglicher Dummheit und stinkender Faulheit, strafbarer Bosheit und Tükke.» Andere Schüler erhielten erfreulichere Qualifikationen, etwa: «Lemme und Lehmann verdienen wegen ihres Fleißes und Betragens Aufmunterung, nur ist dieser noch zu sehr Kind.»128

Lemme war niemand anderes als Heinrichs Neffe Gottlieb, Sohn seiner Schwester Dorothea. Er war nicht für eine wissenschaftliche Laufbahn bestimmt, sondern wurde Tuchmacher wie sein Vater, stellte sich aber besser auf die Schule ein als Heinrich. Während Koch über Heinrich Schocke im Herbst 1780 feststellte, es habe sich nichts zum Positiven verändert, schrieb er in der Beurteilungen zu Gottlieb Lemme: «Lemmen hat mir durch seinen Fleiß und Geseztheit viel Freude gemacht.»129 Auf Kochs Vorschlag hin wurde Gottlieb Lemme in die Tertia versetzt, nach Weihnachten folgten ihm Lehmann und Friedrich Schultze nach, während Heinrich und die vier anderen sitzen blieben und sich die Klasse um zwei neue Schüler vermehrte, die aus der Tertia abstiegen.130

An Ostern 1781 trat ein zweiter Neffe Heinrichs in seine Klasse ein, Fritz Schocke, Sohn seines Bruders Andreas. Fritz war, wie es scheint, noch weniger für die Quarta vorbereitet als Heinrich. Zu ihm notierte der neue Hauptlehrer nach dem ersten Quartal 1781: «Schocke II. Lernt gut. ist aber noch nicht weit. Kann fast gar nicht lesen.» Zu Heinrich lautete sein Kommentar: «Schocke. Ein Spott seiner Mitschüler. Es fehlt ihm immer an allem, hilft auch kein Erinnern, ist sonst aufmerksam. antwortet auch.» Der neue Lehrer, dessen Namen wir nicht kennen, empfand, anders als der strenge Koch, Mitleid für Heinrich, der sich nicht nur das Wohlwollen seiner Lehrer verscherzt hatte, sondern auch noch von seinen Kameraden ausgelacht wurde.

Der nächste Eintrag zu den beiden Schockes findet sich nicht mehr in der Konduitenliste, sondern im Protokoll der Schulkonferenz vom 21. Juni 1781: «Der Stadt Schüler Bekmann wird seiner bisher verübten Diebstäle wegen relegirt, und die beiden Stadt Schüler Schokke erhalten ihrer Liederlichkeit wegen das consilium abeundi. Bekman bekommt noch vorher vor der ganzen Schule den Stock, auch werden die beiden Stadt Schüler Richard und Berghauer mit dieser Strafe, iedoch ohne Relegation belegt.»131

Selbst wenn wir nichts Genaueres wüssten, müssten wir uns fragen, ob hier nur die Schüler versagt hatten oder nicht auch die Lehrer. Man rekrutierte sie aus Absolventen der Theologie frisch von der Universität; sie betrachteten den Lehrerberuf oft nur als Sprungbrett auf dem Weg zu einer einträglichen Pfarrstelle. Dies war eine in Deutschland übliche Praxis, wie Jean Paul sehr schön an seinem Egidius Zebedäus Fixlein, Konrektor des Gymnasiums von Flachsenfinger, erzählt.132 Der Lehrerstand war schlecht angesehen und kärglich bezahlt. Wie wollte man unter diesen Umständen erwarten, dass sich die angehenden Pfarrherren an der Schule voll engagierten? Pädagogisches Interesse oder Können wurden nicht einmal vorausgesetzt.

Das Kloster Unser Lieben Frauen hatte Patronatsstellen an verschiedenen Kirchen zu vergeben,133 und die meisten Lehrer hofften, möglichst rasch dorthin zu kommen. Zuvor mussten sie sich einige Jahre als Lehrer bewähren und dann in den noch schlechter bezahlten Status eines Konventualen aufsteigen.134 Dort mussten sie abwarten, bis eine Pfarrei frei wurde, die dann nach dem Anciennitätsprinzip besetzt wurde. Wohlweislich war es den Konventualen – ein Überbleibsel der alten Klosterzeit – untersagt zu heiraten, da sie ja doch keine Familien hätten ernähren können. So musste Schummel die Schule verlassen, als er Vater wurde, nicht aus sittlichen Gründen, sondern wegen des Eheverbots. Probst Rötger war der einzige verheiratete Konventuale am Pädagogium.

Durch einen Zufall sind wir genau informiert, weshalb die beiden Schocke von der Schule mussten. Das Kloster Unser Lieben Frauen legte eine Akte mit der Überschrift «Wider den Tuchmacher Schock zu Magdeburg» an,135 wo der Fall aufgerollt wurde. Nachdem Heinrich und Fritz weggewiesen wurden, weigerte sich Andreas Schocke nämlich, das aufgelaufene Schulgeld zu bezahlen, mit der Begründung, die Schule habe nicht genügend auf die beiden Knaben aufgepasst. Eigentlich müsse sie ihn, Andreas Schocke, für seine Umtriebe entschädigen. Der Rektor reagierte empört auf das «impertinente und injuriöse Billet» und übergab die Angelegenheit dem Gericht, das einen Termin einberief und mit Schocke und dem Rektor einen Vergleich schloss.

Aus dieser Akte geht hervor, dass Heinrich «in Betracht daß er eine Waise und arm ist» statt der üblichen zwölf Taler Schulgeld pro Jahr nur acht gezahlt hatte und dass ihm auch am Eintritts- oder Federgeld zwei Taler erlassen worden waren. Andreas Schocke konnte nachträglich auch das Schulgeld für seinen Sohn Fritz herunterhandeln. Mit dem Vergleich wurden die Affäre und das Intermezzo mit den beiden Schockes für das Pädagogium aus der Welt geschafft.

Aus den Akten ersehen wir auch den Tatbestand: Heinrich und Fritz waren eine Woche vor Pfingsten 1781 unentschuldigt der Schule fernblieben. Mitschüler hatten den Lehrern erzählt, die beiden Schocke würden die jährliche Revue besuchen, eine Truppeninspektion durch Friedrich den Grossen mit Manövern, Schiessübungen und Parade, die vom 25. bis 28. Mai in der Nähe von Magdeburg stattfand.136 Es war ein Riesenspektakel, der viele Schaulustige anzog. Schon zuvor war die Stadt in Aufregung: Es gab umfangreiche militärische Verschiebungen, damit Magdeburg während der Manöver von Truppen nicht entblösst war.

Da die Schocke-Kinder öfters zu Hause blieben und erst nachträglich eine schriftliche Entschuldigung brachten, nahm man an, es würde wieder so sein. Wenige Tage nach Ende der Truppenübungen begannen die Pfingstferien, die eine gute Woche dauerten. Als die beiden Schüler nach Wiederbeginn der Schule immer noch fehlten, erfuhren die Lehrer, die beiden seien verschwunden und würden von den Eltern gesucht. Sie wurden schliesslich in Dessau aufgegriffen.

Darauf «wurden sie nach gefaßtem Conferenz-Schluße, da sie ohnedem ungezogene junge Leute waren, von unsrer Schule excludiret», wie der Rektor sich ausdrückte.137 Behrendsen fügt das Motiv für ihr Davonlaufen hinzu: Im Geografieunterricht hätten sie vernommen, in Böhmen lägen an den Flussufern Diamanten herum, und sich rasch entschlossen auf den Weg dorthin gemacht.138 Da sie aus der Landkarte wussten, dass Böhmen irgendwo in südöstlicher Richtung lag, wanderten sie einfach der Elbe entlang aufwärts.

Vermutlich war ihr Entschluss nicht ganz so spontan gefallen. Immerhin hatten sie für ihr Verschwinden eine Zeit gewählt, zu der ihre Abwesenheit in der Schule nicht gleich auffallen würde; es hatte ja fast drei Wochen gedauert, bis die Lehrer sich nach ihnen erkundigten. Daraus kann man auch schliessen, dass sie ihr Wegbleiben nur als einen Ausflug betrachteten und im Triumph und mit Taschen voll von Diamanten zurückkehren wollten, bevor man ihr Fernbleiben entdeckte. Dass sie von den Verwandten vermisst und gesucht würden, mussten sie hinnehmen. Aber dass sie deswegen gleich aus dem Pädagogium geworfen würden, hatten sie wohl nicht erwartet, denn unentschuldigtes Fernbleiben wurde normalerweise nur mit Karzer bestraft.

Im Februar davor hatte sich ein ähnlicher Fall zugetragen, der wochenlang Schulgespräch war und Heinrich und Fritz vielleicht zu ihrem Vorhaben inspiriert hatte. Ein Schüler namens Gossler war davongelaufen und von Bauern aus Fähliz halberfroren und -verhungert zurückgebracht worden. Der Rektor heizte den Karzer schon ein, aber von Mitleid übermannt sah er davon ab, ihn einzusperren, bevor er wieder bei Kräften war.139

Drei Schüler mit Namen Gossler, vermutlich Söhne des Kriegs- und Domänenrats Christoph Friedrich Gossler, Grosshändler und Woll- und Seidenhalbzeugmanufaktur-Unternehmer, besuchten damals gleichzeitig das Pädagogium des Klosters Unser Lieben Frauen. Zwei waren Musterschüler in den oberen Klassen, und die Lehrer waren des Lobes voll über sie. Einzig der jüngste, der geflohen war, in die Tertia ging und nur Gossler der Dritte genannt wurde, galt als flatterhaft und unbeständig.140 Er war zerknirscht und machte glaubhaft, nicht die Schule, sondern das abweisende Verhalten seines Vaters habe ihn zu seinem Weglaufen veranlasst.

Gosslers Fall war also völlig anders gelagert als derjenige der beiden Schockes, die aus purer Abenteuerlust davonzogen, zu einer angenehmen Jahreszeit und vermutlich mit genügend Proviant ausgestattet. Ob sie nur bis Dessau gekommen waren – in Luftlinie etwas über 50 Kilometer – oder umgekehrten, als sie entdeckten, dass der Weg weiter war als gedacht, wissen wir nicht; einziger Zeuge für das Ziel ihrer Reise und den Abholort war Behrendsen, der das Ganze anekdotisch erzählte. Zschokke selber erwähnt den Vorfall nicht. Vom Rektor erfahren wir im Entwurf eines empörten Briefs an Schocke noch, dass Fritz, schon bevor er in die Schule eingetreten war, Heinrich «zu dem nämlichen Exzeß zu verführen suchte, zu dem sich derselbe endlich von ihm verleiten ließ».

Andreas Schocke hatte mit seinem Vorwurf, die Schule beaufsichtige ihre Schüler nur ungenügend, einen empfindlichen Punkt berührt. Zwar hatte sie in der Tat keine Aufsicht über die Freizeit ihrer Stadtschüler, wie der Rektor sich verteidigte, andererseits dauerte der Unterricht von 7 bis 10 Uhr (im Winter von 8 bis 11 Uhr), am Nachmittag von 2 bis 5 Uhr, und der Rest war schulfrei; die Externen mussten in dieser Zeit die Schulräume verlassen.141 Was konnte man anderes erwarten, als dass einige von ihnen herumstrolchten und Schabernack trieben?

Gottlieb Lemme, der etwas gesitteter war als die beiden anderen, erinnerte sich mit Vergnügen an Streiche mit seinem Cousin Fritz und Onkel Heinrich: etwa wie sie über den Fürstenwall spazierten und durch die Kamine der unterhalb gelegenen Häuser den Leuten Steine in den Kochtopf schmissen. Auch das Klettern auf den Sandsteinblöcken vor der St. Katharinenkirche kommt hier vor.142 Die drei Buben hingen eng aneinander; Heinrich schrieb an Lemme, als er im Mai 1795 Fritz in Leipzig aufsuchte, vom «alten Trifolium» (Kleeblatt), das er gerne wieder einmal beisammen sehen möchte.143

 

Fritz blieb unternehmungs- und reiselustig und kam später doch noch nach Böhmen; er wurde Kaufmann und gründete 1801 mit einem Freund in Reichenberg (dem heutigen Liberec) eine Schönfärberei, die er bis 1807 betrieb; zuvor machte er einen Ausflug nach Konstantinopel.144 Heinrich schenkte ihm für die Reise durch den wilden Balkan einen Sarras (Säbel) mit Koppel, Vater Andreas ein Paar Pistolen.145

Ausser Fritz, Heinrich und dem Dichter Joachim Christoph Friedrich Schulz schlug ein weiterer ehemaliger Mitschüler eine abenteuerliche Laufbahn ein: Carl Friedrich August Grosse (1768–1847) besuchte von 1779 bis 1786 das Pädagogium und wurde im Schulkonferenz-Protokoll vom 19. Juli 1780 zu den hoffnungsvollsten Scholaren gezählt. Er studierte wie sein Vater Medizin, gab das Studium aber auf, bereiste eine Zeitlang Spanien und Italien, legte sich die Titel Marquis von Grosse, Graf von Vargas, stolbergischer Hof- und Forstrat und Ritter des Malteserordens zu und gelangte dann nach Dänemark, wo er sich mit den norwegischen Berg- und Hüttenwerken befasste, Kammerherr wurde und sich mit dem späteren König Christian VIII. befreundete.146 Daneben schrieb er Erzählungen und Romane. Sein bekanntestes und noch heute hie und da zitiertes Werk ist der Schauer- und Geheimbundroman «Der Genius» (1791–1795), der Zschokkes Romane «Die schwarzen Brüder» und «Männer der Finsterniß» beeinflusste. Grosse wird als «Romantiker der Trivialliteratur» bezeichnet.147 Wie Schulz und Zschokke war auch er ein «Opfer» von Lehrer Schummels Leidenschaft für Theater und Belletristik.

Wie ein Stossseufzer tönt es, wenn Rötger 1783 über das Pädagogium unter Schummels Einfluss nachdachte:

«Noch vor wenigen Jahren hatt eine Sündfluth von Lektüre fast allen wahren Fleiß, fast alles eigentliche Studiren weggeschwemt. Beschäftigt waren unsre Schüler auch damahls, aber sie pränumerirten in unsern Leihebibliotheken, nahmen da Bücher entweder ganz ohne, oder doch wenigstens bloß nach eigner Wahl, die denn oft schlecht genug ausfallen mußte, und ist irgendetwas verderbliche Schulpest, so ist es dies. Jezt ist ja diese Epidemie Gotlob fast ganz nun ausgerottet, wenigstens gar nicht mehr Epidemie. Zwar lesen unsre Schüler noch auch teutsche Bücher, und werden dazu gar sehr aufgemuntert, aber es ist das nicht Sucht mehr, der Aufseher regulirt selbst die Auswahl der Bücher und nicht die zum eigentlichen Studiren bestimten Stunden, sondern nur Stunden, die den Nebenbeschäftigungen gewidmet sind [...].»148

Selbst Joachim Christoph Friedrich Schulz schloss in seinen «Kleinen Wanderungen durch Teutschland in Briefen an den Doctor K.*» sein Lob auf Schummel mit einer Kritik (oder war es ironisch gemeint?) auf die «Epidemie» des Romanelesens, das in den Schulen grassiert habe:

«Indessen hatte dies den Schaden, daß einige Schüler die eigentliche Gelehrsamkeit versäumten und leidige Belletristen wurden. Ein Paar davon sind auch als Schriftsteller zur Genüge bekannt geworden. Es ist lobenswürdig, daß der jetzige Director einen großen Theil dieses bellettristischen Unwesens abgestellt hat.»149

Johann Friedrich Wilhelm Koch, der gestrenge Lehrer Heinrichs, in dieser Sache ganz Rötgers Meinung und kein Freund der Schummelschen Pädagogik, schrieb in das Zeugnis eines Schülers: «Klen mag noch izt lieber einen deutschen Roman oder ein Schauspiel leßen, als sich viel zu Nachdenken erfordernden Geschäften versteigen. Sonst ist seine Bescheidenheit, Stille und Artigkeit rühmlich, er qualifiziert sich bis izt nur zu einem empfindelnden Romanschreiber.»150 Dass das Pädagogium des Klosters Unser Lieben Frauen zu einer Brutstätte für Romanschreiber wurde, mag etwas übertrieben sein, aber die Häufung von Dichtern aus der Ära Schummel ist auffällig.

Und Zschokke? Mehrmals kam er auf seine Faszination der Märchen aus 1001 Nacht zu sprechen; «Aladins magische Lampe und seine ebentheuerliche Bewerbung um die schöne Prinzessin Badrulbudur entzückten mich, als Knaben, und, ich läugne es nicht, behagen mir in mancher Stunde noch izt.»151

IM REICH DER PHANTASIE

Heinrich befand sich in einer magischen Phase, die ihm ein Schutzschild gegen die Unbill der Welt bot, auch nachdem sein Verbleib am Pädagogium des Klosters Unser Lieben Frauen beendet war. Er wurde der Obhut seines Bruders Andreas, der als Erzieher versagt hatte, entzogen und der ältesten Schwester Dorothea Lemme übergegeben. Mit diesem Schritt war ein neuer Umzug verbunden: an die Dreiengelgasse, die neben der Schrotdorfer Strasse verlief. Dort genoss er wieder mehr Freiheiten, und auch in der neuen Schule gefiel es ihm besser. Man hatte den Plan aufgegeben, ihn zum Gelehrten zu bilden. «Ich sollte da allenfalls soviel lernen, als nöthig, um Krämer oder Handwerker zu werden.»152

Die Friedrichsschule an der Brandstrasse,153 die aus einer Lateinschule der Pfälzer-Kolonie hervorgegangen war, gehörte den reformierten Gemeinden Magdeburgs: der Deutsch-reformierten, der Wallonischen und der Pfälzer Gemeinde, die auch politisch eine eigene Administration besassen. Ihre Bürger waren Nachkommen jener protestantischen Flüchtlinge, die Kurfürst Friedrich Wilhelm gegen Ende des 17. Jahrhunderts aktiv in sein Herrschaftsgebiet holte. Nach den französischen Hugenotten, die 1686 in Magdeburg einwandert waren und die Französisch-reformierte Kirche gründeten, folgten 1689 Glaubensflüchtlinge aus Wallonien, die sogenannten Wallonisch-Reformierten. Sie waren vom französischen König aus ihrer Zwischenstation Mannheim vertrieben worden. Im gleichen Jahr erreichten auch Flüchtlinge aus der Pfalz die Stadt, welche den Stamm der Deutsch-reformierten Gemeinde bildeten.154 Im Jahr 1703 zählte die hugenottische Kolonie in Magdeburg 1375 Personen; sie war nach der Berliner Kolonie die grösste in Brandenburg-Preußen.155

Die Friedrichsschule hatte vier Klassen, zwei obere für den Gymnasial-, zwei untere für den normalen Unterricht, und wurde von vier ordentlichen Lehrern geführt, einem Rektor, einem Konrektor, einem Subkonrektor und dem Kantor.156 Rektor Hüffer passte die Schule 1780 an die veränderten Bedürfnisse der Glaubensgenossen an. Sie diente fortan für «künftige Gelehrte, Kaufleute, Künstler, Handwerker und nützliche Bürger» und erhielt den Charakter einer Gesamtschule.157

Heinrich Schocke, der ja lutherischen Glaubens war, wurde der untersten Klasse zugeteilt. Sein Lehrer war Friedrich Saladin Capsius, ein älterer Herr in geblümtem Schlafrock und gepuderter Perücke, ein erfahrener Schulmann, seit 1753 auch Kantor der Deutsch-reformierten Gemeinde.158 Er pflegte den traditionellen Unterrichtsstil und hatte einfache, zweckmässige Strafmittel, die für alle sichtbar auf dem Tisch lagen: drei Stöcke unterschiedlicher Länge und Dicke. Daneben lag ein Lasso, das er von seinem Platz aus zielsicher über den Kopf eines fehlbaren Schülers warf und ihn in gerader Linie über alle Bankreihen hinweg zu sich zog, um ihn seiner Strafe zuzuführen.159 Capsius muss sich zeitweise mehr als Dompteur denn als Lehrer vorgekommen sein, wenn in seinem Schulzimmer 50 bis 60 Knaben sassen. Da die Friedrichsschule gegen Ende des 18. Jahrhunderts nur 80 bis 100 Schüler hatte,160 müssen er und sein Mitlehrer Mors, der zugleich Organist an der deutsch-reformierten Kirche war,161 manchmal zwei Klassen gleichzeitig unterrichtet haben. Bei den Schülern sei Capsius beliebt gewesen, behauptete Zschokke, da er ein Gespür für sie hatte, und sie hätten ihm freudig gehorcht. Er wollte die Knaben bändigen, aber nicht demütigen oder brechen. Offenbar gelang es ihm besser als dem intellektuellen Rötger, ihnen klar zu machen, was er wollte und was nicht. Er machte nicht lang Federlesen und brauchte kein Reglement, um nachzuschlagen, welche Strafe für einen Verstoss gegen ein bestimmtes Schulgesetz vorgesehen war.