Heinrich Zschokke 1771-1848

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Zur Gesittungsstufe der Barbarei gehörte auch der Aberglaube, dass ein Meteor die Zornrute Gottes sei, was erst später, im Verlauf der Verstandesbildung und Aufklärung hinterfragt werden könne. In einem gerafften Zeitablauf hatten sich Zschokkes Vater und die einfachen Leute, Handwerker, Soldaten und Arbeiter im Nordwesten der Stadt Magdeburgs um 1775 demnach noch auf der Stufe des Barbarentums befunden. Zschokkes eigener Weg, wie ihn jedes Kind durchlaufen musste, erfolgte als Befreiung aus dem dumpfen Zustand des Aberglaubens und der Ängste zur Freiheit des Denkens, aus der Dunkelheit zum Licht.

Wie von selbst stellt sich in der «Selbstschau» eine Übereinstimmung zwischen dem eigenen Erleben und dem kulturellen Zustand der Stadt ein: Magdeburg zwischen 1771 und 1780 passt sich der Befindlichkeit des Knaben an, als eine abergläubische, halb archaische Welt, die von irrationalen Kräften bestimmt ist. Dies wird dem Leser vor Augen geführt, indem Magdeburg aus der Sicht des kleinen Heinrich geschildert wird. Dabei musste Zschokke seine Phantasie zu Hilfe nehmen, da er sich nicht hauptsächlich auf selber Erlebtes, geschweige denn auf seine Gefühle von damals bezog. Dennoch gelang es ihm, seiner «Selbstschau» einen hohen Grad von Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft zu verleihen. Er war ein Meister solcher Suggestion, wobei seine Vorgehensweise neben ihrer Stringenz und Kohärenz noch den Vorteil hatte, die psychische Verfassung eines Kindes zu verdeutlichen. Mit dem realen Magdeburg jener Zeit und dem regen Kulturleben der Stadt hatte das nicht viel gemein.51

Dem Biografen obliegt es, Zschokkes philosophisch-imaginative Wahrheit durch die Wirklichkeit, soweit rekonstruierbar, zu ersetzen. Erst wenn er andere Quellen und Darstellungen beizieht und damit vergleicht, stösst er auf Lücken, die es zu füllen, und auf Widersprüchlichkeiten, die es zu bereinigen gilt. Eine dieser Lücken besteht darin, dass Zschokke im Alter kaum noch frühe Ereignisse und Eindrücke abrufen konnte, selbst wenn er gewollt hätte. Einiges schien ihm für den Zweck seiner «Selbstschau» unnützer Ballast.

Als 7-Jähriger, berichtete Emil Zschokke, sei Heinrich von seinem Vater aus dem Schlaf gerissen worden und habe über den Häusern im Süden die Röte eines nahen Brandes gesehen. Dies habe «einen [...] unverwischlichen Eindruck» auf ihn gemacht.52 Obschon Zschokke dieses Erlebnis seinen Söhnen selber erzählte, liess er es aus den eben genannten Gründen aus der Lebensgeschichte weg.

Ein nächtlicher Brand in der Altstadt war aber für die Bürger von Magdeburg gewiss bedrohlicher als die Sichtung eines Kometen. Ein solches Feuer konnte leicht um sich greifen und in dem Gassengewirr mit seinen Fachwerkhäusern die Bewohner eines ganzen Quartiers gefährden. Mehr als einmal wurde Magdeburg von schweren Feuersbrünsten heimgesucht; am verheerendsten waren jene vom 10. Mai 1631, die fast die ganze Innenstadt zerstörten. Im Namen der katholischen Liga hatte Graf von Tilly während des Dreissigjährigen Kriegs das lutherische Magdeburg erobert. Ob die Brände, die sich über die ganze Stadt ausbreiteten, damals absichtlich gelegt wurden, ist nicht restlos geklärt.53 Ihnen fielen neun Zehntel der Häuser zum Opfer; von den über 33 000 Bewohnern blieben nicht einmal 500 in der Stadt.

Seither achtete man darauf, Feuerspritzen bereit zu halten und teilte die Altstadt in neun Bürgerviertel ein. Die gesamte waffenfähige Bürgerschaft war verpflichtet, bei einem militärischen Angriff oder im Brandfall Dienst zu tun und die Stadt zu verteidigen. Da diese Bürgerwehr bei Feierlichkeiten und Umzügen mit ihren Fahnen und mit Musik in Erscheinung trat und man sich jedes Jahr im Mai die Katastrophe von 1631 ins Gedächtnis rief, liess Zschokke dieses Thema sicherlich nicht unberührt.

Wenn er es darauf angelegt hätte, ein farbiges Panorama seiner Zeit und der Stadt zu zeichnen, hätte Zschokke aus dem Alltag des sechsten Viertels viel zu berichten gewusst. In allernächster Nähe des Elternhauses, an der Braunen Hirsch Strasse, die damals noch Kleine Schrotdorfer Strasse hiess, befand sich die Steingut-, Porzellan-, Fayencefabrik von Guischard mit (um die Jahrhundertwende) über hundert Arbeitern.54 Es ist kaum vorstellbar, dass einen Knaben das Treiben in und um diese Fabrik nicht interessierte, wie überhaupt die Geräusche und Gerüche dieser Stadt, das Laden und Entladen der Kähne an der Elbe, das Rattern von Kutschen und Wagen, die kirchlichen und weltlichen Feste, das Militär mit seinem Drill, den Pferden, der Musik, den Paraden und dem Auspeitschen fehlbarer Soldaten bleibend auf ihn gewirkt haben müssen.

Militär marschierte durch die Strassen und exerzierte auf dem Domplatz; es war ein ständiges Kommen und Gehen. Die häufigsten Nachrichten in der «Magdeburgischen Zeitung» zu städtischen Belangen handelten von Truppenverschiebungen, von Beförderung oder Abberufung von Offizieren und von den Besuchen hoher Persönlichkeiten. Selbstverständlich beeindruckten Zschokke die Soldaten in ihren Uniformen, das blankpolierte Metall, das glänzende Leder, ihre Waffen und Pferde. Er war von militärischen Formationen, vom Exerzieren und Defilieren ein Leben lang fasziniert.

Dabei ist eine sehr frühe Erinnerung erwähnenswert, die Zschokke seinen Söhnen mitteilte, ebenfalls ohne dass er sie in die «Selbstschau» hätte einfliessen lassen: «Papa sieht als kleiner Knabe in Magdeburg den König Friedrich den Großen bei einer Revue. Der Rok des Königs streifte an das Röklein Papas.»55 In seiner Erzählung «Der Feldweibel von der Potsdamer Garde» (1823) schilderte er den Einzug des Königs mit seinem Gefolge in Magdeburg durch das Krökentor, die zahlreichen Schaulustigen am Breiten Weg und die Schuljugend, die auf Brettergerüsten und Sandsteinplatten vor der in Renovation befindlichen Katharinenkirche turnten, um alles mitzubekommen.56 Diese Szenerie trägt autobiografische Züge; sie stand den Söhnen plastisch vor Augen, als sie 1826 nachsahen, ob die Steine und Bretter, auf denen ihr Vater als Kind herumkletterte, noch immer vor der Kirche lagerten.57

Vater Schocke kümmerte sich nicht darum, was sein Sohn den Tag hindurch trieb, und da sich Heinrich am liebsten im Freien aufhielt, wurde er zu einem der zahlreichen herumlungernden Jungen in seinem Viertel, die sich austobten und in ihrem Spiel nur beeinträchtigen liessen und davon stoben, wenn ein Gendarm auftauchte. Sein Vater wird ihm wohl befohlen haben, sich nicht zu weit von zu Hause wegzubewegen, denn oft hielt er sich im Innenhof auf, kletterte auf Bäume und über Dächer (die meisten Häuser waren nur zweistöckig) oder spielte in der Umgebung mit anderen Buben Krieg. Ausgerüstet mit hölzernen Säbeln lieferten sie sich Schlachten, bei denen auch Scheiben zu Bruch gingen.58

Das Militär war in Magdeburg allgegenwärtig, Preussen oft in Kriege verwickelt – es wäre seltsam gewesen, wenn die Knaben nicht Soldaten gespielt hätten; das Kriegsspiel diente dem Hineinwachsen in die Männerwelt. Er, Heinrich, sei zu ihrem Feldherrn ernannt worden, schrieb er in der «Selbstschau».59 Dies liess sich wohl nur zum Teil darauf zurückführen, dass er die Arbeiter- und Soldatenkinder in den umliegenden Häusern und aus den Baracken der nahe gelegenen Kasernenstrasse mit Holzwaffen versorgte. Er muss besonders wild und wagemutig gewesen sein und sich gegen andere durchgesetzt haben. Ausser mit ihren hölzernen Schwertern spielten die Knaben mit Spielzeugsoldaten. Beim alten Birnbaum hinter seinem Elternhaus sei diese kleine Armee «mit Trommel & Trompetenschall jedesmal unter den morschen Wurzeln vergraben worden, um am dritten Tag wieder aufzuerstehn».60

Auf diesem Plan der Stadt Magdeburg von G. Henner (um 1790) sind die Bürgerviertel der Altstadt und die wichtigsten Gebäude eingezeichnet. Die Hauptstrasse war der von Norden nach Süden verlaufende Breite Weg (hier von rechts nach links), von dem ein Gassengewirr abging. Die Schrotdorfer Strasse, wo Heinrich Zschokke die ersten sieben Jahre verbrachte, lag im Nordwesten. Das Schrotdorfertor im Westen der Altstadt, in das die Schrotdorfer Strasse mündete, wurde Teil des Festungswalls vor der Bastion Magdeburg, ganz oben auf dem Plan.

Man merkt es der Anekdote an, wie gern Zschokke sich diese Szene ins Gedächtnis rief. Noch als Erwachsener beschäftigte er sich oft mit der Welt des Militärs, spielte Schlachten auf der Landkarte nach und beschrieb Kriege ausführlich in Büchern und Zeitschriften. Besonders Napoleons Heldentaten hatten es ihm angetan.61 Soll man dies als ein Erbe seiner Magdeburger Kindheit betrachten? Als ihm die Aargauer Regierung 1818 einen Offiziersrang im kantonalen Generalstab anbot, lehnte er ab, als er erfuhr, dass er nur zum Major und nicht zum Oberstleutnant ernannt werden sollte.62 So blieb er Zivilist, der nie einen Tag Militärdienst tat und, zu seinem Glück, Schlachten und Kriege bis auf die Zeit zwischen 1798 und 1800 in der Schweiz nur von seinem Schreibtisch aus verfolgte. Aber einmal wenigstens, als Kind, war er ein General gewesen.

Bei allen Erinnerungslücken mass Zschokke zwei Dingen in «Eine Selbstschau» besondere Bedeutung bei: dem frühen Besuch der Schule und der Kirche. Im Alter von fünf Jahren habe ihn sein Vater in eine Schule gesteckt, ohne sich darum zu scheren, ob sie für ihn taugte oder nicht.63 Von diesen Trivialschulen gab es in Magdeburg eine grössere Zahl; eine davon war im Besitz der Stadt: die Altstadtschule an der Schulstrasse, nur zwei Strassen vom Elternhaus entfernt. Sie befand sich in einem ehemaligen Franziskanerkloster und war in einem erbärmlichen Zustand. Zwei der Schulzimmer lagen halb unter der Erde, waren feucht und dunkel, mit halbblinden Fenstern und kaum heizbar.64

 

Ob Zschokke diese Schule besuchte, wissen wir nicht; dass ihm aber auf einer von den Kirchgemeinden betriebenen Parochialschulen oder in einer der vielen Winkelschulen Besseres widerfahren wäre, ist nicht anzunehmen. Die Privatschulen im Magdeburg «waren meist in Hinterhäusern untergebracht, dunkel und, wenn der Betrieb gut ging, furchtbar überfüllt; von Schulhof, Lehrmitteln usw. war natürlich keine Rede».65 Die Lehrer wurden schlecht besoldet, ihre Qualifikation war ungenügend, der regelmässige Schulbesuch wurde nicht kontrolliert; Hauptsache, das Schulgeld ging ein. Jedermann konnte eine solche Schule eröffnen.66 In die Schulstuben wurden bis zu 100 Kinder im Alter von drei bis vierzehn Jahren gepfercht; was und wie unterrichtet wurde, blieb besser ungefragt. Der Magistrat erfüllte seine Aufsichtspflicht nur schlecht;67 die Übelstände waren längst bekannt, aber es vergingen noch über dreissig Jahre, bis man ernsthaft daran ging, das Primarschulwesen zu verbessern.68

Zschokke schrieb über die Schule nur, dass er sie als Plage- und Zwangsanstalt empfand.69 Ob er sich ihrem Zugriff entzog, indem er den Unterricht schwänzte, oder lust- und teilnahmslos die Stunden absass – seine erste Begegnung mit der Schule war auf jeden Fall unerfreulich. Sein Vater habe ihn fleissig zum Schulbesuch angehalten, schrieb Zschokke, ob mit Erfolg oder nicht liess er offen; er dürfte schon damals nicht besonders willfährig gewesen sein. Der zwei Jahre ältere Neffe Gottlieb Lemme half ihm beim Buchstabieren und Lesen.70 Der Vater habe ihn auch zur Predigt mitgenommen und von ihm verlangt, dass er Gebete hersage, deren Inhalt er nicht begriff.71 So also sahen Gottfried Schockes Mittel aus, seinen jüngsten Sohn zu einem braven Bürger und guten Christen zu erziehen.

Luthers Leitspruch, den er seinem Sohn auf den Lebensweg gab, «Christum lieb haben, ist beßer denn alles Wissen», deutet auf eine pietistische Haltung hin, wie sie, von Halle ausstrahlend, in Magdeburg vor 1800 weit verbreitet war. Pfarrer Georg Andreas Weise an der St. Katharinenkirche war ein Vertreter dieses bekenntnishaften persönlichen Glaubens. Er interpretierte die Bibel sehr lebhaft und regte die Phantasie des kleinen Heinrich an, in dessen Phantasie fortan geflügelte Engel und «der rauhhaarige Teufel, mit Lahmfuß, Pferdehuf und langem Schwanz» herumspukten.72

Es ist offensichtlich, dass Gottfried Schocke seinem Sohn keine grosse Aufmerksamkeit schenkte. Zschokke blieb dabei, dass er ihm ein liebevoller Vater gewesen sei, gerade dort, wo die Vernachlässigung am deutlichsten hervortritt: «Der zärtliche Vater strafte wirkliche Unarten seines Lieblings selten; überließ die Erziehung des Wildfangs vertrauensvoll dem Zufall, und so ward dieser ein lebenslustiger Springinsfeld, oder besser gesagt, ein Gassenjunge der Stadt, im strengsten Sinn des Worts.»73 Diese vorteilhafte Würdigung des Vaters ist bemerkenswert, da Zschokke als erwachsener Mann ganz andere Erziehungsprinzipien vertrat und es ihm nie eingefallen wäre, seinen Söhnen nur einen Bruchteil von dem durchgehen zu lassen, was er sich bei seinem Vater leisten konnte.

Sein Vater habe ihn für eine wissenschaftliche Laufbahn vorgesehen, behauptete Zschokke.74 Das wusste er höchstens vom Hörensagen, denn aus den Vorkehrungen, die Gottfried Schocke traf, kann dies nicht abgeleitet werden. Dass er seinen minderjährigen Kindern den Glockengiesser Christian Gotthold Ziegener (1731–1812) als Vormund bestimmte,75 seinen Freund und Altersgenossen, ein treues Mitglied der Kirchgemeinde und so bildungsfern wie nur möglich, weist in eine andere Richtung.

Der Vater kränkelte über längere Zeit; sein Tod «an Auszehrung» am 17. April 1779 kam für Heinrich dennoch überraschend; er war für ihn unbegreiflich, schrecklich, traumatisch. Der Vater sei der erste Leichnam gewesen, den er gesehen habe, erzählte er fünfzig Jahre später. Er sei die ganze Nacht wach geblieben und habe geglaubt, es werde nie mehr tagen. Die Angst und das Alleinsein erlebte er hier noch einmal und viel intensiver als beim Auftauchen des Kometen. Sein Vater trat nun nie mehr in sein Zimmer, um ihn zu wecken oder mit ihm zu beten; nie mehr nahm ihn jemand auf den Schoss, um ihn zu liebkosen.

Allerdings, fügte Zschokke hinzu, habe er nicht lange geweint: «Die Sonne kehrte wieder. Die Feierlichkeiten des Begräbnisses unter Chorgesängen und Geläute sämmtlicher Glocken der Katharinenkirche, daneben neue Trauerkleider und großes Leichengepränge, zerstreuten die Betrübniße des 8-jährigen Knaben bald.»76 Desto überwältigender wurde sein Schmerz, als er älter wurde und den Vater bewusst vermisste. Mit achtzehn Jahren schrieb Zschokke in der Fremde sein langes Gedicht «Wallfahrt zum Grabe des Vaters»77 und kehrte in Gedanken noch einmal nach Hause zurück; zehn Jahre habe er dem Vater nachgeseufzt und nachgeweint:

«O Menschenkinder, wer von euch

Solch einen Vater schon verlor,

Solch einen Vater zu verlieren hat:

Er weine mit.»

Zwei Vollwaisen waren zu versorgen: die 13-jährige Christiana und der 8-jährige Heinrich; die beiden Geschwister wurden getrennt. Wer das Mädchen aufnahm, ist nicht bekannt; vielleicht eine ihrer Schwestern, Dorothea Lemme oder Friederica Nitze, oder eine Schwester der Mutter. Mit 15 Jahren wurde sie mit dem 22 Jahre älteren Wundarzt und Chirurgen Johann Paul Faucher (1743–1794) verheiratet, einem Witwer und Mitglied der französisch-reformierten Gemeinde, der aus erster Ehe einen Sohn mitbrachte. Dieser Ehe entsprossen zwei Kinder; sie verlief glücklich, sieht man davon ab, dass Faucher früh starb. Heinrich empfand eine starke Zuneigung zu Christiana, seinem Schwager und den beiden Kindern Johanna (Hannchen) und Jean Pierre (Hänschen).78 Es ist bedauerlich, dass Zschokkes Briefe an Faucher nicht mehr vorhanden sind, da sie wertvolle Informationen aus seiner Studienzeit enthielten.79

Der Breite Weg (die Hauptstrasse Magdeburgs) mit dem Krökentor im Norden und den Türmen der Katharinenkirche rechts, wo das kirchliche Leben der Familie Schocke stattfand und Vater Schocke auf dem Friedhof begraben wurde. Gegenüber der Kirche zweigte die Schrotdorfer Strasse vom Breiten Weg ab. Lithografie von 1844.

Heinrich kam zu seinem Bruder Andreas Schocke, der an der Elbe unter dem Knochenhauerufer wohnte. Das hiess für ihn, die Umgebung zu wechseln, die Freunde zu verlieren und auf Militärspiele zu verzichten.

Am 8. Mai 1779 fand die Eröffnung des Testaments statt, das Vater Gottfried Schocke einen Monat vor seinem Tod vor vier amtlichen Zeugen (Mitglieder des Rats und des Gerichts) mündlich zu Protokoll gegeben hatte.80 Alle fünf überlebenden Kinder wurden gleichmässig bedacht; den beiden jüngsten standen zunächst jene 700 Taler zu, die den drei älteren bei ihrer Verheiratung, Wohnungsgründung und zu ihrer Ausstattung verabreicht worden waren. Wenn es stimmt, wie sein Schwager Andreas Gottfried Behrendsen einmal schrieb, dass Heinrich 1200 Taler erhielt,81 so lässt sich daraus das Vermögen des Vaters errechnen, das bei seinem Tod 3900 Taler betrug, wovon 2500 das eigentliche Erbe waren. Das war nicht viel für eine über 40-jährige Berufslaufbahn. Selbst wenn man den Erbvorbezug der drei älteren Geschwister dazuschlägt, kann von einem ansehnlichen Vermögen, das sich der Vater mit Heereslieferungen erworben haben soll, keine Rede sein.82 Heinrichs 1200 Taler wurden angelegt; von den Zinsen von 60 Talern sollte sein Lebensunterhalt bestritten werden, während das Kapital bis zu seiner Mündigkeit unantastbar blieb. Darüber wachten sein Vormund und der Magistrat von Magdeburg als Vormundschaftsbehörde. Leider sind diese Akten im Stadt- und Landeshauptarchiv nicht mehr greifbar.

Andreas Schocke hätte vom Alter her Heinrichs Vater sein können. Sein ältester Sohn Johann Gottfried Friedrich (29. 7. 1772 bis wahrscheinlich 1811), genannt Fritz, war nur ein Jahr jünger als Heinrich. Obwohl die beiden Knaben die nächsten Jahre gemeinsam verbrachten, sogar eine Zeitlang zusammen zur Schule gingen, erfährt man darüber nichts. Auch Andreas’ Frau, Marie Dorothea Elisabeth Schocke (1752–1819), eine geborene Trittel, und ihre Töchter Dorothea (1774 bis nach 1824) und Elisabetha (1781 bis nach 1850) werden in «Eine Selbstschau» mit keinem Wort erwähnt. Frau Schocke war schwanger mit ihrem zweiten Sohn Heinrich Wilhelm Gottlieb (1779–1782), als Heinrich ins Haus kam. Von den fünf Töchtern überlebten nur die beiden genannten Mädchen ihre Eltern. Wenn Zschokke sich später bei seinem Neffen Gottlieb Lemme gelegentlich nach den Schockes erkundigte, dann nur nach Andreas und Fritz. Es war, als habe er die weiblichen Familienmitglieder ausgeblendet, keinerlei Zuneigung für sie empfunden. Die einzige Verwandte in Magdeburg, der Heinrich zärtliche Gefühle entgegenbrachte, war seine jüngste Schwester Christiana.

Carl Günther weist darauf hin, dass in Zschokkes gegen hundert Erzählungen und Romanen «Matronenfiguren» fehlen,83 was stimmt, wenn man diesen Begriff mit mütterlichen, warmherzigen Frauen übersetzt. Aber auch liebevolle Väter, anhängliche Geschwister und glückliche Kindheiten kommen darin nicht vor, und ein harmonisches Familienleben findet sich eigentlich nur in den Landhauserzählungen «Der Eros» (1821) und «Bilder aus dem häuslichen Leben» (1845–1846), denen Szenen aus Zschokkes Leben in Aarau zugrunde liegen.

Von seinem Bruder Andreas erlebte Heinrich keine Zärtlichkeit, keine körperliche Nähe. Vielleicht war er es aber auch selber, der den älteren Bruder und dessen Frau zurückwies. Durch den Tod des Vaters hatte er eine tiefe Kränkung erlebt; jetzt wollte er sich nicht mehr auf eine emotionale Bindung einlassen. Folgt man Zschokkes Ausführungen, so nahm Andreas sich energisch seiner Erziehung an. Zunächst wandte er seine Aufmerksamkeit dem Äusseren zu, liess ihn elegant einkleiden und ihm einen Lockenkopf frisieren. «So sollt’ ich nun den alten Menschen ganz ausziehn und ein neuer werden, zierlich und manierlich.»84 Auch geistig und seelisch suchte er den Charakter des Gassenjungen zu verfeinern. Um Heinrichs Sinn für das Edle und Schöne zu begeistern, las er mit ihm das Gedicht «Frühling» des empfindsamen Dichters Ewald von Kleist, seinen Gang in der Natur, der ganz im Zeichen von Klopstocks Oden stand. Das schlug bei Heinrich ebenso wenig an wie die Bemühungen, ihm den Vater zu ersetzen und ihn in die Familie zu integrieren.

Andreas war «von nicht gemeinen Talenten», gebildet und belesen. Obschon er Tuchmacher wie sein Vater war, glaubte er, dass das Leben sich nicht im Ausüben eines Handwerks erschöpfen könne. Er spielte Flöte, liebte einen gepflegten Umgang, auch etwas Luxus, und leistete sich, was Heinrich beeindruckte, ein Ankleidezimmer mit gebohnertem Fussboden, Wandgetäfer und vergoldeten Leisten.85 Das stand in scharfem Kontrast zu der kargen Behausung an der Schrotdorfer Strasse, die Heinrich wohl nur deshalb noch ehrte, weil er sie mit seinem Vater in Verbindung brachte.

Er habe sich in seiner neuen Umgebung unbehaglich gefühlt, Kleists Gedicht zu vornehm und fad gefunden und sich geärgert, dass seine Kleidung so leicht schmutzig wurde und zerriss. Man habe es unziemend gefunden, wenn er sich draussen herumtrieb, also habe er sich meist im Haus aufgehalten, sei stundenlang träumend vor einem Buch gesessen, ohne darin zu lesen, und habe «aufmerksam das gesellige Leben der Enten und Hühner, die Schliche der Katzen, die Irrfahrten einer Stubenfliege»86 beobachtet.

Zschokke behauptete, dass ihm damals die feine Lebensart verhasst wurde und er begonnen habe, den Unterschied zwischen Seidenrock und Zwillichkittel, Bauernhaus und Palast, Stallknecht und Prinz in Frage zu stellen.87 Diese Erkenntnis kann ihm kaum bei der Familie seines Bruder ereilt haben, wohl aber im Gymnasium Unser Lieben Frauen, wo er mit Adligen, Fabrikanten- oder Beamtensöhnen zusammensass und man ihn spüren liess, wie arm und unbeholfen er war.

Der Vater hatte ihn bis auf die religiösen Exerzitien nicht weiter behelligt, der Bruder jedoch wollte ihn nicht mehr entschlüpfen lassen; er «striegelte und biegelte» ihn, um ihn «ein wenig liebenswürdiger zu machen».88 Diese Absicht konnte Heinrich ihm nicht vorwerfen, wohl aber, dass er sich anmasste, über ihn zu bestimmen. Nur weil der Vater tot war, wollte er es dem älteren Bruder nicht gestatten, über ihn zu verfügen. Also verweigerte er sich allen Erziehungsmassnahmen und Drillversuchen, selbst als Andreas Schocke ein Klavier besorgte und einen Lehrer, der ihn daran unterrichten sollte. Es entstand ein Kräftemessen zwischen dem Lehrer und seinem Schüler, bis der Lehrer kapitulierte. «All seine Anstrengung war umsonst, mir Notenwerth, Takt und Pause begreiflich zu machen.»89

 

Gleichwohl entflammte in Heinrich eine grosse Liebe und Sehnsucht zur Musik. Wenn sein Bruder die Flöte blies, lauschte er entzückt; wenn die Chorschüler singend durch die Strassen zogen, stand er wie festgewurzelt, und sobald eine neue Melodie ihn anrührte, weinte er ungehemmt. Auch der Wachablösung der Garnison lief er nach, um den Oboisten zuzuhören. «Die geheimnißvolle Gewalt der Töne berauschte mich jedesmal bis zur vollen Selbstvergessung.» Die Musik war eine Welt, in deren Erleben er aufging. Wie seine Phantasie und Träumereien gehörte sie nur ihm allein.

Es ist frappant, dass es Zschokke noch als altem Mann nicht gelang, sein Verhältnis zum Bruder neu zu bewerten. Selbstverständlich waren bei Andreas Liebe und Fürsorge im Spiel, wenn er sich so um ihn kümmerte, auch wenn er vielleicht zu unbeholfen war, ihm seine Zuneigungen direkt zu zeigen. In dem einzigen Brief, den wir aus der Hand von Andreas noch besitzen, tritt die väterliche Sorge und Verantwortung deutlich zum Vorschein, ebenso das Bedürfnis, keine Entfremdung zwischen dem Bruder und der Familie eintreten zu lassen, mochten sie noch so entfernt voneinander wohnen.90 Zschokke hatte die Erlebnisse seiner Kindheit nicht verarbeitet, sondern verdrängt, als er «Eine Selbstschau» schrieb. Positives wusste er kaum zu berichten.

SCHULSORGEN

Andreas Schocke hielt für seinen Bruder nur das Beste für gut genug. Er wollte ihm eine gelehrte Laufbahn, den sozialen Aufstieg ermöglichen, alles, was ihm selber vom Vater oder durch die Umstände versagt worden war. Also meldete er ihn im Pädagogium des Klosters Unser Lieben Frauen an, einem erstklassigen Gymnasium an der Regierungsstrasse.

In Magdeburg gab es fünf ehrwürdige Gymnasien, von denen Heinrich im Verlauf seiner nicht eben erfolgreichen Schulkarriere mit der Mehrzahl in Berührung kam. Drei waren in Klöstern untergebracht. Das älteste, das Altstadtgymnasium, war 1524 im Beisein von Luthers Mitstreiter Melanchthon in einem aufgegebenen Franziskanerkloster eingeweiht worden. Zwei andere waren Internate, die aber auch externe Schüler aus der Stadt aufnahmen. Das Pädagogium am Kloster Berge, das teuerste, wird vom Schulhistoriker Walther Vorbrodt so charakterisiert: «[...] ein vornehmes Landerziehungsheim für Söhne der begüterten und adligen Geschlechter des Herzogtums und der Altmark».91 Der Dichter Christoph Martin Wieland hatte dort drei Jahre verbracht.

Das Pädagogium des Klosters Unser Lieben Frauen war nicht ganz so exklusiv, nicht ganz so teuer; es nahm «die Söhne der Magdeburger wohlhabenden Familien und höheren Beamten auf».92 Die beiden Schulen standen in Konkurrenz zueinander, wobei das Pädagogium des Klosters Unser Lieben Frauen an Boden gewann, seit 1771 die Lehrer Gotthilf Sebastian Rötger (1749–1831) und Johann Gottlieb Schummel (1748–1813) dessen Geschick mitbestimmten. Die beiden Lehrer vertraten die damals modernste Pädagogik, die von Johann Bernhard Basedow (1724–1790) in Dessau entwickelt worden war. Der herkömmliche Unterricht war geprägt von Drill und Auswendiglernen, am Dessauer Philanthropin dagegen setzte man auf Anschaulichkeit und Spiel, auf lustvolles Lernen statt Zwang. Als mächtigen Helfer des Lehrers hatte man den Forschungsgeist des Kindes, seine Neugier, den Drang nach Wissen entdeckt, und hier, bei der Motivierung der Schüler, setzte auch die Pädagogik im Kloster Unser Lieben Frauen an.

Schummel besass eine Leidenschaft fürs Theater, hatte mit 15 Jahren den Versuch gewagt, sich einer wandernden Schauspieltruppe anzuschliessen (sein Vater holte ihn wieder zurück), verfasste pädagogische Schriften, satirische Romane und Reisebeschreibungen und tat sich mit Ideen zu einem spielerischen Lernen hervor. Uwe Förster, derzeit wohl bester Kenner der Geschichte der höheren Schulen Magdeburgs, stellt seinen Aufsatz über Schummel unter den Titel «Lernen wie im Spiel».93 Um den Französischunterricht attraktiv zu gestalten, gab er eine auf Kinder zugeschnittene Fassung der Geschichten von 1001 Nacht heraus.94 Er löste sich von dem bei Schülern wenig beliebten Zugang zur fremden Sprache über grammatikalische Regeln und gab ihnen ein Lesebuch in die Hand, «das sie mit recht heißhungriger Begierde verschlängen, und wobey ihnen Mund, Augen und Ohren offenständen». Dies sei wichtig, «wenn Kinder zu einer ihnen noch fremden Sprache Lust bekommen sollen», wurde Schummel in Wielands Zeitschrift «Der teutsche Merkur» zitiert, und der Altmeister in Weimar bedachte das Vorhaben mit Beifall.95

Schummel wertete auch den Deutschunterricht auf und legte Wert auf kreatives und produktives Lernen. Die Schüler wurden angehalten, jede Woche einen Text auszuarbeiten und gemeinsam eine Erzählung zu schreiben: «Auf diese Weise haben wir schon eine ganze Menge Geschichten ausgearbeitet, wahre und erdichtete, lustige und traurige, von Kindern und Erwachsenen; allerhand durcheinander: Und sind dabey so vergnügt gewesen, daß nichts drüber geht.»96 Auch wenn wir nicht wissen, ob Schummels Ideen, die er in seinem dreibändigen Werk «Kinderspiele und Gespräche» niederlegte, am Pädagogium in vollem Umfang verwirklicht wurden, so ist seine Dichterwerkstatt für Gymnasiasten sehr bemerkenswert.

Das Kloster Unser Lieben Frauen mit Marienkirche und Gebäuden entlang der Regierungsstrasse. Hier drückte Zschokke von 1779 bis 1781 die Schulbank. Fotografie von Rudolf Hatzold, um 1929.

Der Schriftsteller Joachim Christoph Friedrich Schulz (1762–1798), der von 1773 bis 1779 diese Schule besuchte, notierte in einem Reisebericht im «Teutschen Merkur» zu Schummels Unterricht: Er «sah soviel als möglich darauf, daß die Schüler nicht unter den alten Autoren und was dahin einschlägt versauerten. Er gab ihnen auch von dem Honigseim der schönen Litteratur zu kosten, suchte ihren Geschmack zu bilden, lehrte sie teutsch schrieben und ihre Gedanken in dieser Sprache nach den besten Mustern vortragen.»97

Rötger und Schummel gingen also daran, den Unterricht kindergerecht zu gestalten und die Schüler zum Denken und Erleben zu befähigen. Die Lehrer sollten, statt vor ihnen zu dozieren, mit ihnen in einen Dialog treten und abstraktes Bücherwissen in eine allgemeinverständliche Sprache übertragen.98 Eines liess sich allerdings nicht reformieren: die Vorherrschaft des Latein. Dies betraf alle höheren Schulen in Magdeburg. Es mutet für eine dem Kommerz gewidmete Stadt eigenartig an, dass nur zaghaft Bürgerschulen entstanden, die ohne die alten Sprachen auskamen. Am Pädagogium des Klosters Unser Lieben Frauen war das Latein besonders ausgeprägt: In der untersten Klasse waren dafür zehn Stunden bestimmt.99

Immerhin kamen attraktivere Fächer wie Geschichte, Geografie und Französisch (drei Stunden für die Anfänger) nicht zu kurz. Einige Jahre nach Zschokkes Weggang führte Rötger in der untersten Klasse sogar eine Zeitungslesestunde ein. Im Dezember 1779 wurde er Probst des Klosters und damit Direktor des Pädagogiums, was bedeutete, dass er, vom Schulunterricht entlastet, seine Reformen vorantreiben und sich ganz den pädagogischen Aufgaben widmen konnte.

Prinzipiell entschied die Leistung in Latein über die Versetzung eines Schülers, aber in jedem Fach wurde er besonders eingestuft.100 Es konnte vorkommen, dass ein Schüler, der die Schule verliess, als Lateiner ein Jahr in der Prima verbracht hatte, aber in Mathematik nur den Stand der Tertia besass. Entsprechend gab es keine festen Klassen, sondern ein Fachlehrersystem, wobei es Rötger wichtig war, dass die Lehrer in ihren Fächern zugleich in höheren und unteren Stufen unterrichteten.