Heinrich Zschokke 1771-1848

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Zschokke interessierte sich für Menschenansammlungen, denn trotz aller Geheimbundromane war er überzeugt, dass in Frankreich die Revolution vom Volk ausgegangen war und nicht von Drahtziehern. Freilich musste eine geistige Elite die Idee der Befreiung aufnehmen und sie in die richtigen sittlichen Bahnen lenken, damit sie nicht verunglückte. Diese Elite suchte er in Paris vergebens. Fasziniert, wie Elias Canetti 130 Jahre später, spürte er die Macht der Volksmasse, von der selbst der Intellektuelle, der sich hineinbegab, aufgesogen wurde.

«Man gewöhnt sich ungemein leicht daran, in großen, von Empfindung und Einbildungskraft getriebnen Versammlungen, an die Relativität der Ehre und Schande, der Tugend und des Lasters zu glauben, man hält es nirgends für sichrer zu gehen, als da wo viele Hunderte wandeln; man überläßt sich gutwillig, mit einem gewissen Gefühl von Sicherheit und allgemeiner auf uns bezogner Liebe, dem großen Strom der allgemeinen Empfindungen und Handlungsart. Ist es einmahl erst dahin gekommen, hat sich einmahl eine Schwärmerey der Menge bemächtigt, welche, wenn auch nur auf scheinbar edeln Gründen gestützt, einhergeht: so ist alles gewonnen, oder vielmehr alles für die Sache der Vernunft verloren, und der Tod selbst wird den Begeisterten ein schönes, wünschenswürdiges Gut.»188

Als Zschokke dies schrieb, beabsichtigte er noch, den Sommer in Paris zu verbringen, sich dann von Le Havre oder Calais nach Hamburg einzuschiffen, im Winter Magdeburg, Berlin und Frankfurt (Oder) aufzusuchen, um im Frühling 1797 wieder in die Schweiz zu gehen, «wo ich künftig meinem alten Lieblingsplan gemäs wohnen, leben und sterben will». Er habe bereits Anstalten getroffen, «ein Paar Alpstösse» zu kaufen; «dort will ich das Leben des einsamen Landmanns und Gelehrten leben; ich heurathe mir ein hübsches, reiches Mädchen, zeuge Kinder, erfülle meinen Beruf, bin der Menschheit nüzlich, und eile dereinst, wenn Gott will, zu meinen Vätern». Dies, schloss er in einem Brief an Gottlieb Lemme, sei in wenigen Zeilen sein ganzer künftiger Lebenslauf.189

Selbstverständlich ist das nicht wörtlich zu nehmen; Ironie scheint aus dem verkürzten Lebensplan zu blitzen, selbst wenn man in Zschokkes Briefen selten Selbstironie feststellen kann. Oder meinte er im Ernst, Hirt auf der Sandalp zu werden, um nach geheimem Rezept Schabziger zu produzieren? Und wie wollte er ein braves Mädchen aus Ennenda verlocken, ihn dorthin zu begleiten und gemeinsam Kühe zu melken? Das war Schwärmerei, bar jedes realistischen Hintergrunds.

Was der Brief jedoch signalisiert: Es stand ein Umbruch bevor. Zschokke hatte einen Punkt erreicht, wo es für ihn nicht mehr vorwärts ging. Der Aufenthalt in Paris hatte ihn ernüchtert, ihm den Glauben an die heilsame Revolution genommen. Das Treiben in Paris stiess ihn ab: Statt einer hochherzigen republikanischen Gesinnung, von der er im antiken Athen oder Rom, etwa bei Plutarch, gelesen hatte,190 fand er «einen grossen Jahrmarkt»,191 Oberflächlichkeit und eitles Gebaren, «das selbstsüchtige, irre, wankelsinnige Treiben der Menge».192

Auf der Suche nach der Zukunft der Menschheit, dem Gültigen und Wahren, hatte ihn die Politik ebenso enttäuscht wie zuvor die Religion und die Philosophie. Es blieb anscheinend nur noch die Hoffnung auf ein Glück im Kleinen, die private Idylle. In «Eine Selbstschau» formuliert er seine damalige Situation so: «Fünf und zwanzig alt, und noch ohne Beruf und Gewerbe! Statt dessen planloses Umherfahren in der Welt. Es muß ändern! [...] Nur erst einen festen Wohnsitz gewählt, gleichviel wo? und einen Beruf, gleichviel welchen!»193 Statt das geplante Vierteljahr in Paris zu verbringen, brach er seinen Aufenthalt ab und war schon im Mai wieder in der Schweiz.194

Carl Günther, der in seiner Dissertation Zschokkes Spuren nach Paris folgt, sieht als Ursache für seine Krise ein privates Erlebnis, das ihn «unerwartet und schwer traf»:195 Gottlieb Lemme teilte ihm mit, dass Friederike (Rikchen) Ziegener, seine Verlobte, verheiratet sei. In Zschokkes Reaktion lässt sich eine Erschütterung darüber nicht finden; eher Ärger, weil ihm Lemme vorwarf, Mitschuld an der Entlobung zu tragen, weil er die junge Frau vernachlässigt habe.196 Aber seine Gefühle für die Tochter seines Vormunds waren schon längst erkaltet; sein Herz schlug für Hannchen Schulz, die Chirurgentochter in Frankfurt (Oder), von der er in der Schweiz noch immer lebhaft träumte,197 auch wenn sie längst mit einem Justizrat verheiratet war.

Im Übrigen hatte sich Rikchen im Frühling 1796 verlobt; sie heiratete erst im Februar 1797 den Magdeburger Weinhändler Schubert. Wenn Zschokke sich an ihrer Verlobung gestört hätte, wäre noch Zeit gewesen, ihr dies zu schreiben und ältere Ansprüche geltend zu machen. Aber er war offenbar erleichtert, dass sie nicht länger auf ihn wartete, und seine späteren Briefe an die Magdeburger Verwandten drücken höchstens Bedauern über ihre unglücklich verlaufene Ehe aus.

Inmitten des bunten Treibens der Grossstadt wurde Zschokke in eine tiefe Krise gestürzt, wie einst in Frankfurt (Oder) von Todessehnsucht und Lebensüberdruss übermannt. In einem Gedicht liess er seinem Abscheu vor den Pariser «Mord- und Wollustfesten» freien Lauf, beweinte seine Verbannung aus dem Paradies, beschwor die unerreichbare Schweiz mit ihren Bergen und der «Heerden Glockenton» und schloss:

Löschte doch ein Todesschlummer

Aus mir der Erinnrung Licht;

Denn dieß Sehnen, diesen Kummer,

Ich ertrag’ ihn länger nicht.

Immer blick’ ich dort hinüber,

Immer leb’ ich dort mich ein;

Hier wird’s Stund’ um Stunde trüber;

Stund’ um Stunde wächst die Pein.198

Solche Gedichte sind am ehesten Indikatoren für Zschokkes damaligen Seelenzustand, und es ist verwunderlich, dass Carl Günther sie für seine Interpretation nicht benutzte.

Zschokke zog sich damals in Paris von den Menschen zurück und besuchte fast nur noch den Louvre und Graf Schlabrendorf.199 Seine Verzweiflung war durch persönliche und weltanschauliche Erschütterungen geprägt. Ob Oelsners Verhalten dabei eine Rolle spielte, ist nicht zu belegen, denn Zschokke kam auf ihr gespanntes Verhältnis nie zu sprechen. Er fühlte sich auf jeden Fall unverstanden und isoliert, zumal Oelsner Zschokkes Hypochondrie mit Hochmut verwechselte und ein vernichtendes Urteil über ihn aussprach, als sich die beiden Ende April, keine drei Wochen nach ihrer Ankunft, von einander trennten.

«Zschokke hat mich und Paris von einem Pädanten befreyt, der mir das Leben sauer machte. Sie hatten wohl recht als Sie mir gleich anfangs sagten, dass der junge Mann viel zu viel Eigendünkel besizze um sich zustuzzen zu lassen. Der doktorale Ton womit er unreife und verworne[!] Begriffe in langweilige Phrasen kleidet, ist eben so ermüdend als lächerlich. Philosophischer Kopf ist er durchaus nicht, Anlage zum Artisten und Dichter besizt er, aber kan doch nur durch das interessiren, was man sich für die Zukunft von ihm verspricht, als durch das was er leistet. Er hat hier Niemanden gefallen. Steifheit und Bitterkeit der Empfindung drükken sich in allen seinen Minen und Geberden aus, und jedwedem ist aufgefallen dass sich in ihm mit dem Ausdruk des guten Herzens die sichtbaren Merkmale des Neides und Grolls verbinden so oft andre mehr Sensation machen als er, welches nicht selten der Fall ist. Dieser Umstand mag nicht wenig beygetragen haben, ihm den Aufenthalt von Paris zu verleiden. Er hat nichts nach seinem Geschmakke, ja die Künste hie zu lande, das Schauspiel zB ganz unter seiner Erwartung gefunden, und ist heute früh wiederum von hier abgereist. Sie werden das Vergnügen haben, ihn bald in der Schweiz zu sehn. Ich wünsche ihm eine glükliche Reise, und will mir vor Pädanten gewarnt seyn lassen. Nicht genug dass dergleichen Leute gar nicht liebenswürdig sind, so verhindern sie noch andern es zu seyn. Ihre Eigenliebe macht sie zu Despoten. Sie können nicht leiden dass etwas von ihnen unabhängig, oder ihnen gar überlegen sey.»200

Hier machte Oelsner seinem Ärger über einen Menschen Luft, mit dem er nicht zurecht kam, in den er sich nicht einfühlen konnte oder wollte und den er, nach anfänglicher Sympathie, geradezu hasste. Es ist müssig, andere Motive hinter der Abwertung Zschokkes zu suchen. Die beiden Männer waren in ihren Denkweisen zu verschieden, um sich zu verstehen, obgleich sie sich in ihrem publizistischen Schaffen – den schnell hingeworfenen Eindrücken und verallgemeinernden Behauptungen, der Überzeugung von der Richtigkeit des eigenen Urteils – so sehr ähnelten, dass man ihre Zeitschriftenbeiträge zuweilen kaum auseinanderhalten kann.201 Aber vielleicht lag genau darin der Konfliktstoff: Jeder war von sich überzeugt, nur er vermöge die politische Lage in Frankreich richtig einzuschätzen.

Oelsner hatte wohl erwartet, der Jüngere, mit der politischen Situation und der Pariser Szene noch unvertraut, würde seinen Wissensvorsprung anerkennen, ihm zuhören, vielleicht auch beipflichten, jedenfalls von ihm lernen, sich zurückhalten und als Fragender auftreten, statt alles anzuzweifeln und ihn zu belehren. Das Pedantische bestand für Oelsner vermutlich darin, dass Zschokke bei seinem Lieblingsthema, der politischen Philosophie, kompromisslos war und in Paris kaum etwas Lobenswertes fand, das seiner strengen Sicht, seinem Bedürfnis, dort «ein wahrhaft freies, hochmenschliches Staatsleben zu finden»,202 standhielt.

Die gegenseitige Gereiztheit hing sicher auch mit Zschokkes Seelenzustand zusammen, die ihm das Leben freudlos und düster erscheinen liess, und mit der damit einhergehenden Sprödigkeit und Schroffheit. Er beging zudem den Fauxpas, sich über Oelsners besten Freund, Abbé Sieyès, den politischen Mentor und vorbehaltlos Verehrten, geringschätzig zu äussern.203

 

Statt an Oelsner hielt sich Zschokke gegen Ende seines Pariser Aufenthalts also an Schlabrendorf, der ihm ein aufmerksamer Zuhörer, Seelentröster und Lebensberater wurde. Dass der Graf so gelassen inmitten des politischen Getümmels stand, dass er Zeit für ihn hatte, Bildung besass und, ausgerüstet mit einem glänzenden Gedächtnis und einem scharfen Verstand, scheinbar über alles Bescheid wusste, dass er uneigennützig und anspruchslos war, all dies nahm Zschokke für ihn ein. Der neue Freund wurde Zschokkes Stütze in einer schwierigen Zeit, eine Leitfigur, die er sich in der «Selbstschau» einige Male in Erinnerung rief.204 Schlabrendorf liess sich von Zschokkes Enttäuschung über die Pariser Mondäne nicht beeindrucken; er machte sich «über den irren Träumer lustig, der den Zwiespalt zwischen seinem Urbilde und dem Leben weder schlichten, noch ertragen konnte».205

«Er nannte mich gern seinen Philosophe Pleureur; denn er hatte die Zerrissenheit meines Innern wahrgenommen, und kannte die geheime Wunde so gut, als hätt’ er selber ihr Weh empfunden. Er wußte sie in seinen Plaudereien, wie zufällig, mit so großer Sicherheit, und so zarter Berührung, zu treffen, wie der gewandteste Arzt; aber jedes heilende Wort schien von ihm ganz absichtslos hingeworfen.»206

Diese Art der Überlegenheit und geistigen Führung nahm Zschokke hier gern an. Er akzeptierte sie eher als den in seinen Augen allzu geschliffenen und biegsamen Oelsner, vermutlich auch, weil Schlabrendorf so viel älter und gesetzter wirkte, ein Lebenskünstler, Weltweiser. Zum Abschied gab Schlabrendorf Zschokke eine Empfehlung auf den Weg: «Werthester Freund, empfangen Sie mit der Einlage nochmals meinen innigsten Reisesegen. Möchte er Aeskulapische Kräfte besizen. Cetera a te sumes.» Den Inhalt der Arznei kennen wir nicht, aber das Zitat war eine Stelle aus einem Brief Ovids von seiner Verbannung ans Schwarze Meer, die beginnt mit: «Mögen die Götter dir (viele) Jahre geben», und endet: «Das Übrige musst du selber leisten.»

POLITISCHES MANIFEST

Auch wenn sich Zschokke von der Metaphysik losgesagt hatte und sich in Paris mit Abscheu von der Tagespolitik und den Menschen abwandte, bedeutete dies noch lange nicht, dass er endgültig in Resignation versank und verstummte, ganz im Gegenteil. Er rechtfertigte sich und seine Kritik, indem er seine eigenen politischen Prinzipien darstellte. Der Aufsatz «Metapolitische Ideen» war die Frucht langen Nachdenkens und wurde sein staatsphilosophisches Credo für die kommenden vierzig Jahre.207

Wie aus einem Brief Zschokkes an Usteri hervorgeht, gab er seine «Metapolitischen Ideen» Oelsner noch zur Durchsicht,208 was belegt, dass sie in Paris entstanden oder wenigstens begonnen wurden. Ausgehend von der dreifachen Natur des Menschen – einer sinnlichen, einer sittlichen und einer geistigen –, die alle auf ihre Erfüllung drängten, postulierte Zschokke, hätten die Menschen sich gesellschaftlich verbunden, um ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen. Der Staat habe einzig den Zweck, ihnen dazu zu verhelfen. Nicht in der Beschränkung, wie der englische Staatsphilosoph Hobbes meinte, sondern in der Entfaltung der individuellen Freiheit liege die Aufgabe des Staats, und wenn er dies nicht oder ungenügend tue, habe das Volk das Recht, seine Beamten abzusetzen und die Staatsform zu ändern.

Viel Raum verwandte Zschokke auf die Kriterien eines zeitgemässen Staatswesens, ohne sich festzulegen, ob eine Monarchie oder eine Republik dazu geeigneter sei. Er bestritt aber das Recht einer einzelnen Volksgruppe – gemeint ist der Adel – auf Privilegien, die er als unnatürlich und barbarisch bezeichnete, forderte Glaubens- und Denkfreiheit, Gewaltenteilung, ohne die keine vernünftige Staatsführung möglich sei, Mitentscheidung des Volks in wichtigen Fragen und das Recht jedes Bürgers, auszuwandern und eine andere Nationalität anzunehmen, wann immer ihm dies beliebe. Gewalttätige Revolutionen seien eine Folge gesellschaftlicher Fehlentwicklungen, staatlicher Fehler, mangelnden Volksunterrichts und ungenügender Aufklärung. Die Vollendung der menschlichen Gesellschaft bestehe in der höchsten Stufe der Kultur, in einer Herrschaft der Vernunft, die aber noch lange nicht erreicht sei.209

Freie Menschen trügen ihren Zweck in sich selbst, sie dürften nicht Eigentum eines andern sein, über das etwa ein Fürst verfügen könne; «selbst das Kind, sobald es zur Welt erschienen ist, hört auf der Mutter Leibeigenthum zu seyn, indem der neue Weltbürger jezt, als Selbstzweck, betrachtet werden muß».210 Dieses Manifest der persönlichen Subjektivität und Souveränität wurde in der späteren Fassung der «Metapolitischen Ideen» zusammengefasst und geschärft: «Kein Volk kann von einem Andern, als Eigenthum, geerbt, verschenkt oder verkauft werden. Denn Menschen sind keine Sachen, können also kein Eigenthum sein.»211

Das Nachdenken über den Staat, so Zschokke, solle auf Vernunft, nicht auf Erfahrung gründen. Um Staatsfragen richtig zu beurteilen, brauche es nur gesunden Menschenverstand. Zschokke entwarf die Vision einer Gesellschaft, in welcher der Staat dem Menschen die ihm angeborene Freiheit gewährt und ihn zur Freiheit erzieht. Der zweite Teil seines Aufsatzes war diesem Thema gewidmet. Das Auseinanderfallen von Vernunft und Praxis, die «Barbarei des 18. Jahrhunderts», liess ihn an der Gegenwart leiden. In seinem jugendlichen Drang nach Wahrheit und Gerechtigkeit war er nicht willens, Konzessionen einzugehen, sich der Realität zu fügen, wenn seine Vernunft etwas anderes als richtig erkannt hatte. Dass er damit bei Oelsner und im nachrevolutionären Frankreich, wo sich eine neue Oberschicht formierte, die wenig mit den Ideen und Idealen der Französischen Revolution zu tun hatte, auf Unverständnis, ja Ablehnung stiess, ist begreiflich.

Wenn Zschokke an der Diskrepanz zwischen Ideal und Realität in Frankreich nicht zerbrechen wollte, dann musste er Platz machen. Er hatte genug von Paris gesehen, um festzustellen: Hier war nicht die von Kant postulierte praktische Vernunft am Werk. Die einer Revolution inhärente Kraft, das Los der Menschen zu verbessern, es an Idealen auszurichten, war in Streitigkeiten und Machtkämpfen entartet. In einer Rückblende aus dem Jahr 1799 beschrieb Zschokke seine jugendliche Hoffnung auf die Französische Revolution und die jähe Ernüchterung.212 Vielleicht verfestigte sich damals der schon früher geäusserte Gedanke, dass es nicht viel tauge, gegen die Trägheit der Menschen und die Politik der Herrschenden anzurennen – beides konnte dem Kritiker gefährlich werden und seine Existenz vernichten –, sondern dass man bei der Aufklärung und Erziehung ansetzen musste.

In einem zweiten Aufsatz, schon im Herbst 1795 in Zürich konzipiert, den Zschokke ebenfalls noch Oelsner gezeigt hatte und im Juni 1796 in Bern zu Ende brachte,213 wird dieser neue Standpunkt deutlich. Er trägt den Titel: «Deutschlands Kultur oder Briefe eines französischen Officiers während seiner Kriegsgefangenschaft zu M ... Aus dem Original übersetzt.»214 Der (erfundene) französische Offizier äussert sich kritisch über die Politik und Kultur in Deutschland, vor allem in Preussen, und rechnet mit den Fürsten ab, die sich auf den Adel stützten, statt auf das Volk, deren Mittler «die Klasse der Schriftsteller» sei. Die deutschen Schriftsteller, behauptete Zschokke, bildeten eine vielköpfige demokratische und freie Republik, «worinn die ewigen Wahrheiten der Vernunft, allen Thronen, allen Hierarchen, allen Anarchisten zum Trotz, mit gewaltiger Hand emporgehalten werden».215

«Sie sind es, welche die Bildung und Erziehung des Volks fast ganz allein auf sich genommen haben; sie sind es welche die Nation, zertrennt durch das Intresse der Fürsten, wieder vereinen durch das Intresse der Vernunft; sie sind es, welche ohne Furcht vor Fürsten und Mönchen dem Bürger die Binden des religiösen Aberglaubens von den Augen ziehn, und mit seinen Pflichten ihn auch seine grossen Rechte kennen lehren; sie sind es, welche durch die immer weiterschreitende Ausbildung des Volks, die Fürsten zwingen vernünftigere Gesetzgebungen zu erschaffen, angemessen dem Geist der Nation, dem Geist des Zeitalters; sie sind es, durch welche mittelbar die Obrigkeiten selbst zum reinern Bürgersinn, zur Menschlichkeit erzogen werden; sie sind es, durch welche Germanien einst, ohne gewaltsame Revolutionen, zur vollkommnen Freiheit eingeführt werden wird.»216

Worauf Zschokke seine These von den deutschen Schriftstellern gründete, ist schleierhaft. Jedenfalls korrespondierte die hier postulierte Bedeutung nicht mit dem geringen Ansehen und Einfluss, den sie – wenige Vertreter ausgenommen – in Politik und Kabinetten besassen. Die (bürgerliche) Erziehung solle sich auf die Fürstenkinder ausdehnen, meinte Zschokke in seinem Aufsatz. «Dieses ist die Propedeutik zur Regierungskunst.»217 Vor allem aber müsse sie beim «gemeinen Bürger und dem Landmann» ansetzen. Hier besitze Deutschland gegenüber Frankreich einen Vorsprung, und dabei komme Rudolph Zacharias Becker ein besonderes Verdienst zu:

«Er kleidete in das Gewand einer unterhaltenden Dorfgeschichte die nothwendigsten, dem Landmanne wissenswürdigsten ökonomischen, moralischen, und physikalischen Lehren, stimmte sich mit ausserordentlichem Glück in den deutschen Volkston hinab, und veranstaltete, daß mit Unterstützungen der Regierungen und Gutsbesitzer sein Buch überall ausgebreitet wurde. Ich halte seine Schrift für ein Meisterstück, und seine That für eine der edelsten, welche jemahls unter den vielen tausend deutschen Schriftstellern und Gelehrten ausgeübt wurden.»218

Auch wenn dieses Lob von Beckers «Noth- und Hülfsbüchlein für den Landmann», dessen Druck Zschokke 1788 als junger Mitarbeiter beim Buchhändler Bärensprung in Schwerin ja mitverfolgt hatte, angeblich von einem französischen Offizier kam, entsprach es Zschokkes Auffassung. Er lobte ferner Basedow, Campe und Salzmann, die an der Verbesserung von Erziehungsanstalten gewirkt hätten, und bedauerte, dass auf den Universitäten noch der zwecklose, scholastische Schlendrian der vorigen Jahrhunderte herrsche. Künftige Landpfarrer würden mit dem Erlernen «der hebräischen Sprache, mit der Polemik und wustvollen Dogmatik» gequält, statt sie «zum guten Redner, zum hellen Philosophen, zum gründlichen Moralisten» auszubilden, und Juristen sollten «statt des Schwalles römischer Rechte und Gesetze, statt der durch neuere, bessere Gesetzgebungen überflüßig gemachten Pandekten, Novellen und Institutionen der vorigen Jahrhunderte [...] zum philosophischen, menschenfreundlichen Richter, Gesetzgeber und Gesetzlehrer» gebildet werden.219

Durch den Mund eines Franzosen rechnete Zschokke in seinem Essay, der von ferne an Montesquieus «Lettres persanes» erinnert, mit der deutschen Kleinstaaterei ab, prangerte den Lebenswandel deutscher Fürsten an, stellte den preussischen König Friedrich Wilhelm II. als liebenswürdigen Menschen, aber schlecht beratenen Staatslenker hin und geisselte jene Schriftsteller, die ihre Aufgabe als Erzieher nicht wahrnähmen. Damit distanzierte er sich von seinem eigenen dichterischen Schaffen, von den Trivialromanen und vielen seiner Dramen.220 Um des Spektakels willen würden sie den Lesern falsche Vorbilder setzten.

Man hat den Eindruck, dass Zschokke in Paris und in den Monaten danach, die er wieder in Bern verbrachte, Bilanz zog, persönlich und politisch. Sollte er in der Schweiz bleiben oder nach Preussen zurückkehren? Es hing davon ab, wo er eine ihm gemässe Wirkungsstätte fand, wo er sich seinen Möglichkeiten und Wünschen gemäss am besten verwirklichen konnte. Die Schlüsselaussage seiner «Metapolitischen Ideen» lautet:

«Vaterland heißt der Staat, in welchem man mit dem Gefühl der Freiheit, und derjenigen Zufriedenheit lebt, die man im Kreise einer freundlichen Familie, unter der Belehrung und Obhut eines liebenden Vaters (des Gesezzes) empfindet. – Da wo man gezwungen nicht für sich und das Heil der Gesellschaft, sondern für das Heil und Gelüst der regierenden Klasse wohnt, ist ein Herrenland. – Unser Geburtsland ist nicht immer unser Vaterland.»221

Zschokke brannte Brücken hinter sich ab, mehr symbolisch zwar, da er in seinen beiden politischen Aufsätzen ja anonym blieb, aber das Bekenntnis zu einer neuen Ausrichtung seines Staatsbürger- und Schriftstellertums ist eindeutig. Ästhetisch abgehobene Werke hervorzubringen, um Publikumsgunst zu ringen, Ruhm bei Kritikern und Erfolg bei den Lesern einzuheimsen, schienen ihm jetzt das falsche Ziel für einen Mann, der sich als Mitglied einer Schriftstellerrepublik, als Teil einer geistigen Elite betrachtete, der sich um die Heranbildung eines neuen Menschengeschlechts bemühen wollte.

 

Wenn Zschokke, wie wir festgestellt haben, in Paris in eine Krise stürzte, so sah er seine neue Verpflichtung als Schriftsteller, ein Anwalt der Aufklärung und Bildung zu sein, um seinem Leben einen neuen Sinn zu geben. Er überlegte sich offenbar, unmittelbarer zu wirken und vom Dichter von Unterhaltungsliteratur und schöngeistigen Essays zum politischen oder pädagogischen Publizisten zu werden. Er wollte, woran er glaubte und als Wahrheit erkannte, nicht nur in einem Roman («Stephan Bathori»; «Die schwarzen Brüder») oder in einem Trauerspiel ausdrücken, obwohl er diese Option weiterhin offen hielt, um die Menschen in ihrem Gemüt zu erreichen. Noch wandte er sich fast ausschliesslich an ein gehobenes Publikum. Bis zum Volkspädagogen und Zeitungsschreiber für das Landvolk vergingen noch einige Jahre. Bis dahin (was er noch nicht ahnen konnte), würde er seine erzieherischen Pläne an Kindern und Jugendlichen reifen lassen.

QUER DURCH DIE ALPEN NACH CHUR

Zschokke fasste seine «Metapolitischen Ideen» mit grosser Sorgfalt ab, mit Leidenschaft und Beredtheit auch «Deutschlands Kultur oder Briefe eines französischen Officiers ...», die mit 125 Seiten eher ein kleines Buch, denn einen Aufsatz ausmachten.222 Gemessen daran wirken die beiden Reiseberichte aus Frankreich hastig hingeschrieben und kurz, als habe ihm das Interesse und die Zeit an einer gut ausgearbeiteten und detailreichen Schilderung gefehlt.

In Bern beendete er den zweiten Band der «Wallfahrt nach Paris», ohne die Reise nach Paris hinzuzufügen, gab Gessner, falls dies nicht schon vorher geschehen war, die «Salomonischen Nächte», die ebenfalls ein Fragment blieben. Die geplante und im Buchhandel angekündigte Fortsetzung erschien nie. Es scheint, dass Zschokke alles Vergangene abschliessen wollte, bevor er die nächste Etappe in Angriff nahm. In diesem Jahr wurde auch sein Drama «Julius von Sassen» veröffentlicht.223 Dazu hatte Zschokke von Anfang an ablehnende Gefühle, auch wenn, oder vielleicht gerade weil es ein bühnenmässiger Erfolg wurde.224 Aber er brauchte das Geld, und so schlecht war das Stück, ein Aufguss von «Kabale und Liebe» und «Don Carlos», auch wieder nicht

Er machte einige Ausflüge ins Berner Oberland und in die Alpen, an den Genfersee und nach Savoyen, die ihren schriftlichen Niederschlag nur in Briefen fanden. Usteri schrieb er von einer Gletscherreise im Juli. Sicherlich war ein Grund für diese Wanderungen, dass Zschokke neben dem Erlebnis schöner Landschaften die Schwermut und seine Enttäuschung von Paris kurieren und mit sich ins Reine kommen wollte. Vielleicht sah er sich dabei gelegentlich nach den «Paar Alpstössen» um, die er zu erwerben trachtete, und stellte fest, dass dies in der Schweiz nicht so einfach war wie die Pacht oder der Kauf eines Landguts in Vorpommern.

Aus wenigen Andeutungen können wir schliessen, dass Zschokke in Bern wieder Gesellschaften besuchte und neue Bekanntschaften schloss. Aber wir wissen nicht einmal bestimmt, ob er bei der Familie Sprüngli wohnte oder den «Falken» vorzog, wie er, in Verzerrung der Chronologie, in «Eine Selbstschau» behauptete.225 Die verschiedenen Fassungen seiner Erinnerungen geben wie so oft widersprüchliche Auskunft.

Ende Juli 1796 packte er jedenfalls seine Sachen und reiste den Alpen entlang in die Innerschweiz und nach Graubünden. Von dort dachte er, sich nach Süden zu wenden.226 Interessant ist, wie er in der Zeitschrift «Prometheus» aus der Distanz von 30 Jahren seinen damaligen Gemütszustand schildert. Er habe seine jugendliche Frische und Freudigkeit wieder gefunden, nachdem er eingesehen habe, dass seine «heiligen Urbilder», in der Wirklichkeit keine Entsprechung fanden. «Es ist der Zustand von heiterer Seelenruhe, welcher sich einstellt, wenn sich das Auge müde geweint hat.» Er sah aber keinen Grund, seine Ideale zu revidieren, denn er wusste, dass er im Recht war, und nahm es hin, «gleichsam Fremdling in dieser Welt» zu sein.227

Die Reiseroute führte ihn nach Chur, wohin er sein Gepäck als Fracht vorausgeschickt hatte. Er selber ging zu Fuss. Wieder versuchte er Empfehlungsschreiben zu erhalten, zunächst bei Freunden in Bern, dann in Zürich. Einen einzigen Bezugspunkt besass er in Chur: den in Deutschland bekannten Dichter Gaudenz von Salis-Seewis (1762–1834). Eine zweite Adresse hatte ihm in Bern der Gymnasiarch (erster Lehrer am Gymnasium) Michael Wagner (1756–1812) mitgegeben: das Seminar Reichenau.

Es scheint, dass Zschokke das Emmental und Entlebuch durchwanderte und in Escholzmatt Pfarrer Franz Josef Stalder (1757–1833) aufsuchte, den späteren Begründer der systematischen schweizerischen Dialektforschung, der gerade an einer Beschreibung des Entlebuchs arbeitete. In Luzern traf er den Stadtpfarrer Thaddäus Müller (1763–1826) und Abbé Kaspar Joseph Koch (1742–1805), zwei aufgeschlossene katholische Geistliche, die ihm «bleibende Freunde wurden».228

Das Land um den Vierwaldstättersee, das zwei Jahre darauf im Krieg durch marodierende französische, österreichische und russische Truppen verheert wurde, erschien Zschokke als Paradies des Friedens und des Glücks. Vor allem der See und seine Ufer, «wo Lieblichkeit und Erhabenheit wunderbar durcheinander gewunden hängen, wie Epheu in Eichen», weckten alte romantische Gefühle.229 Fast traute er sich nicht, seiner Freude und seinem Glück durch ein Jauchzen Luft zu verschaffen, aus Furcht, das «Elysium der Seligen», die «festliche Stille» damit zu entweihen.230

In Schwyz besuchte er seinen Freund Aloys Reding, den «Blondin von Bern», den er im Kreis von Brüdern, Schwestern und Schwägerinnen antraf, alle in Eintracht, Liebe und zärtlicher Ehrfurcht um den Hausherrn geschart, den schon greisen Vater Theodor Anton Reding (1726–1799). Zschokke wurde freundlich aufgenommen. «Es schien, als wäre ich ihnen durch ihn schon bekannt gewesen, ein alt befreundeter Gast.»231 Ein weiterer Gast des Redinghauses war Joseph Maria Businger (1764–1836), damals Kaplan in Stans, ein revolutionär denkender katholischer Geistlicher, mit dem sich eine Freundschaft und ein reger, lebenslanger Briefwechsel entspann.

Zschokke blieb einige Tage in Schwyz, wanderte von dort nach Brunnen, fuhr über den See nach Flüelen, an jenen Gegenden vorbei, «wo die drei Tellen – Werner von Staufen, Arnold von Melchthal und Walther Fürst den Eid der schweizerischen Freiheit schworen, oder wo Wilhelm Tell der Gefangne mitten im Sturm Wellen und Winde aus dem Kahne ans Land sprang»,232 und wandte sich durch das Reusstal dem Gotthard zu – eine Gegend, die er im Herbst 1799 in grösster Not und Armut wieder sah. Gegen Abend gelangte er nach Hospenthal und liess sich von einem italienischen Säumer zum Gotthardhospiz bringen. Anderntags stieg er von Uri auf die Oberalp und nach Graubünden:

«Drei Stunden lang wandert ich dort, ohne einen Menschen zu erblikken – aber es waren dennoch drei von den schönern Stunden meines Lebens. – Der Frühling welcher längst die Thäler verlassen hatte, wohnte izt in diesen Höhen. Ich wandelte über die anmuthigsten Wiesen; ich trank reinere Lüfte; ich watete durch aromatische Kräuter, und umkränzte meinen Hut mit Alprosen. Arkadien war wieder um mich; ich lebte in der theokritischen Welt.»233

1844 benutzte er diese Landschaft als grandiose Kulisse für seine Erzählung «Die Rose von Disentis», die 1799 spielt, zur Zeit des österreichisch-französischen Ringens um die Macht in Europa und um die Bündner Alpenpässe. Er stieg mit seinem treuen Begleiter, dem Pudel Mylord, nach Rueras hinab, wanderte ohne Eile durch das Vorderrheintal am Kloster Disentis vorbei, an der geschichtsträchtigen Ortschaft Trun, dem Rütli Graubündens, passierte, ohne zu verweilen, die Brücke beim Schloss Reichenau und kam nach Chur, wo sein Gepäck auf ihn warten sollte. In der «Selbstschau» schrieb er:

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