Heinrich Zschokke 1771-1848

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Carl Günthers Zeitfenster ging gegen das Ende des Zweiten Weltkriegs zu. Verschiedene Privatnachlässe aus Deutschland sind seither verschollen, Kirchen-, Stadt- und Staatsarchive teilweise vernichtet und Bücher, Zeitungen und Zeitschriften nicht mehr auffindbar. Besonders schmerzlich ist die Lücke im Stadtarchiv Magdeburg, wo die «Alten Akten» mit den Anfangsbuchstaben A bis O fehlen, oder in der Königlichen Staatsbibliothek Breslau (heute Wrocław), mit deren Vernichtung auch die Dokumente der Universität Frankfurt (Oder) untergingen.

Zum Glück rollte der Magdeburger Genealoge Willi Bluhme in der Zwischenkriegszeit die Familiengeschichte Zschokkes anhand von Bürgermatrikeln und Kirchenbucheintragungen auf,27 so dass wir in Ermangelung der Originalakten einen kleinen eisernen Bestand gesicherter Daten über Zschokkes Vorfahren und Magdeburger Verwandte besitzen. Der Zschokke-Biograf nutzt sie ebenso dankbar wie alles, was Carl Günther vor 95 Jahren fand und in seiner Dissertation auswertete.

Im Übergang zum neuen Jahrtausend hat sich zum Glück ein neues Fenster geöffnet: Von 1990 bis 2000 nahm sich die Zschokke-Briefforschungsstelle in Bayreuth unter der Leitung der Professoren Robert Hinderling und Rémy Charbon und im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und des Schweizerischen Nationalfonds (SNF) des Briefwechsels von Zschokke an, den sie systematisch und weltweit sammelte und damit das Korpus der bekannten Briefe auf über 6000 Einheiten erweiterte. Einige wesentliche Schweizer Bestände, auf die Günther noch nicht zurückgreifen konnte, stehen nun ebenfalls zur Verfügung: das ausgedehnte Archiv des Sauerländer-Verlags (jetzt im Staatsarchiv des Kantons Aargau) und der schriftliche Nachlass der Familie Tscharner im Staatsarchiv des Kantons Graubünden, um nur zwei zu nennen. Ohne sie und zahlreiche Dokumente und Hinweise aus anderen Archiven und Bibliotheken, von Bekannten und Mitgliedern der Familie Zschokke, ohne den Schweizerischen Nationalfonds, der während sechs Jahren die Edition von Teilen des Zschokke-Briefwechsels ermöglichte, und ohne die Unterstützung der Freiwilligen Akademischen Gesellschaft Basel und zahlreicher anderer privater und öffentlicher Geldgeber wäre die Biografie nicht in dieser Reichhaltigkeit möglich gewesen.

Die Gründung der Heinrich-Zschokke-Gesellschaft im Frühjahr 2000 schuf die Voraussetzung, um die Forschungen zu Zschokke weiter voranzutreiben, zu vertiefen und den meisten Spuren nachzugehen. Als Folge davon entstanden in den vergangenen Jahren grössere und kleinere Publikationen, als deren Abschluss diese Zschokke-Biografie zu betrachten ist. Damit ist ein Etappenziel erreicht, aber noch kein Ende; es ist zu wünschen, dass diese Publikation die Zschokke-Forschung auf einer breiteren Basis anregt und vielleicht auch das eine oder andere Ergebnis hinzufügt, neu deutet oder relativiert. Der Verfasser betrachtet seine Biografie als eine Annäherung an sein Thema.


NACHZÜGLER UND WAISENKIND

Am 22. März 1771 um zwei Uhr nachmittags kam an der Schrotdorfer Strasse 2 in Magdeburg ein Sohn zur Welt, Kind des ehrbaren Tuchmachers Johann Gottfried Schocke (1722–1779) und seiner Ehefrau Dorothee Elisabeth Schocke, geborene Jordan (1727–1772). Die «Magdeburgische Zeitung» verzeichnete in jenem März einen frostigen Frühjahrsbeginn.1 Am Gründonnerstag, dem 28. März, wurde er in der St. Katharinenkirche auf den Namen Johann Heinrich Daniel getauft: Johann nach dem Vater und wie drei seiner Brüder; Heinrich nach dem Paten Heinrich Ludowig Brand, einem Kontrolleur bei der königlichen Akzise (Steuerinspektor) und Daniel nach dem zweiten Paten, Tuchscherer Daniel Schächer.2 Aber nur der Name Heinrich, den schon ein kurz nach der Geburt gestorbener Bruder getragen hatte, blieb in Gebrauch.3

Wurde Heinrich, jüngstes von elf Kindern, geliebt, war er ein Wunschkind? Diese Frage stellte sich zu jener Zeit kaum. Eine Familienplanung gab es im Handwerkerstand nicht, und wenn Frauen früh heirateten und alle Geburten überlebten, waren Familien mit zehn, zwölf oder fünfzehn Kindern keine Seltenheit. Die Hälfte der Kinder starb früh, geschwächt durch Mangelernährung, dahingerafft von Epidemien, so dass es für die Eltern von Vorteil war, sich gefühlsmässig nicht stark an sie zu binden. Vier seiner Brüder und zwei seiner Schwestern lernte Heinrich nie kennen; einige hatten die ersten beiden Lebensjahre nicht überstanden. Ein Kind, das sich gesund entwickelte und das Erwachsenenalter erreichte, war im Nordwesten Magdeburgs, wo sich in einem Gewirr von Gassen, in schlecht gebauten, dumpfen, kleinen Häusern mit engen Stuben, die Strumpfwirk- und Webstühle aneinander reihten, fast schon ein Glücksfall. Ein Reisender, vermutlich Arzt aus Berlin, schilderte den elenden Zustand dieser Kinder:

«Es war mir ein äusserst rührender und schrecklicher Anblick, als ich die Schrotdorfer Baracken, wo alles von Kindern wimmelt, und einige Gassen in der Gegend der Hohenpforte, auch in der Neustadt und den anderen Vorstädten durchgieng, und da unter sechse kaum ein Kind von gesunder Gesichtsfarbe und körperlicher Gestalt bemerkte; mehrentheils sahe ich bleiche aufgedunsene Gesichter, dicke ungestaltete Leiber, krumme gebrechliche Füße, mitleidenswürdige Figuren vor mir. Ich nahm Gelegenheit, mit Eltern, denen solche Kinder angehörten, zu sprechen, und hörte da zu meinem grösseren Erstaunen, daß so ein elendes Kind von 6, 8, 10, die sie gehabt hatten, das einzige Ueberbleibsel sey, oder daß sie noch elendere krank liegen hatten.»4

Beide Elternteile starben früh, die Mutter, als Heinrich knapp ein Jahr, der Vater, als er acht Jahre alt war. An seine Mutter hatte Heinrich keinerlei persönliche Erinnerungen, besass auch keine Gegenstände, die mit ihr zu tun hatten. Sie sei eine schöne Frau gewesen, erzählte man ihm, habe ihn sterbend noch in den Arm genommen und geseufzt: «Armer Junge, warum bist du nicht ein Kirschkern, den ich hinabschlingen und mit mir ins Grab nehmen könnte!»5 Heinrich konnte sich nicht bewusst an sie erinnern; in «Eine Selbstschau» liess er sie noch im Kindbett sterben und nicht erst ein Jahr später.

Anders stand er zu seinem Vater; an ihm hingen seine Gefühle wie das Schiff an einem Anker; mit seinem Tod blieben Trostlosigkeit und eine grosse Leere zurück. Als Zschokke seine Lebensgeschichte niederschrieb, war die Erfahrung, früh eine Vollwaise geworden zu sein und niemanden gehabt zu haben, der ihn lieb hatte, immer noch lebhaft und schmerzlich. Heinrichs Welt verdüsterte sich. Neben einer Garnitur silberner Schnallen, einer silbernen Schnupftabaksdose, einem spanischen Rohr mit silbernem Knopf, Dokumenten und etwas Geld, das sein Vormund für ihn verwahrte,6 war ein Ausspruch des Vaters persönliches Vermächtnis – in der prägnanten Diktion Luthers: «Christum lieb haben, ist beßer denn alles Wissen.»7

Eigenartigerweise wusste Zschokke auch von seinem Vater fast nichts, nicht einmal die Lebensdaten. Er sei ein geachteter Tuchmacher gewesen, der es mit Tuchlieferungen für die Armee zu einem ansehnlichen Vermögen gebracht habe, Oberältester seiner Innung oder dergleichen.8 Heinrich sei sein Schosskind gewesen, das er zärtlich geliebt und mit Nachsicht behandelt habe. Er habe ihn am Sonntag in die Kirche mitgenommen und dreimal am Tag laut beten lassen. Heinrich Zschokke hielt sich an diese spärlichen gemeinsamen Erlebnisse und malte sich das Übrige aus. Als der zwei Jahre ältere Neffe Gottlieb Lemme ihm viel später einiges vom Vater erzählte, antwortete er gerührt:

«Dein Gedächtniß ist treuer von jener Zeit, als das meinige. Du hast mir das Bild meines lieben Vaters, unter neuer Gestalt, wie ich sie mir nie zu denken pflegte wiedergegeben. Ich sehe ihn vor mir in deiner Malerei. O ich bitte Dich, sage mir doch alles deßen Du Dich von dem verewigten Guten erinnerst; Alles – ich weiß viel zu wenig von ihm! – Selbst das Dreiek auf den Silberknöpfen seines grünen Cashaquin’s9 ist mir wichtiger, & das Köstlichste was von Antiken in Herkulanum, Theben & Nubien ausgegraben wird.»10

Das Elternhaus wurde zwei Monate nach dem Tod des Vaters geräumt; Arbeitsgeräte und Mobiliar wurden in der «Magdeburgischen Zeitung» ausgeschrieben und versteigert.11 Das Haus ging für 520 Taler an die zweitälteste Tochter Friederica Elisabeth Nitze (1753–1816), eine Bäckersfrau.12 Im Familienrat wurde beschlossen, Heinrich dessen Bruder Johann Andreas Schocke (1747–1812) in Pflege zu geben, der bereits zwei eigene Kinder hatte.

STADT DER TUCHMACHER UND SOLDATEN

Viel wissen auch wir nicht über Zschokkes Vater. Er wurde als Johann Gottfried Tzschucke am 20. Oktober 1722 in Oschatz, einer sächsischen Kleinstadt östlich von Leipzig geboren, als ältester Sohn einer Tuchmacherfamilie.13 Schon der Oschatzer Stammvater Andreas Tzschucke (1627–1714), der aus dem sächsischen Rosswein eingewandert war und 1648 die Tochter und Enkelin eines angesehenen Oschatzer Berufskollegen heiratete, übte diesen Beruf aus. Der Berufszweig stand in Oschatz in Blüte: 1787 zählte man 62 Webstühle, auf denen jährlich 2000 Stück Tuch verarbeitet wurden,14 und noch 1815 bildeten die Tuchmacher die zahlenmässig stärkste Handwerkerzunft; sie war mit 126 Meistern fast doppelt so gross wie die nächst folgende der Schuhmacher.15

Die Schreibweise des Namens Zschokke erfuhr einen mehrfachen Wandel. In den Kirchenbüchern von Oschatz wurde er unterschiedlich geschrieben, da die Pfarrer sich hauptsächlich nach dem Gehör richteten: Tzucke, Tzschucke, Tzschocke, Zschocke, Zschucke, Zschuck oder Zschock.16 Die Herkunft des Namens war, wie in der Nähe der Elbe häufig, slawisch, genauer sorbisch, da das Volk der Sorben in jener Gegend weit verbreitet war.17 Nach einer Familienüberlieferung leitete sich Zschokke vom sorbischen Tschucka für Erbse ab.18 Andere damals existierende Deutungen zeigen, dass sich die Familie Zschokke später rege mit der Frage ihrer Herkunft befasste.19

 

Eine Zeitlang kursierte unter Zschokkes Söhnen das Gerücht, man sei adligen Ursprungs. Einen Hinweis darauf bot eine Anekdote Zschokkes, der sich im Übrigen kaum um dieses Thema kümmerte: Ein aus Norddeutschland stammender Herr von Tschock habe ihn in Frankfurt (Oder) einmal aufgefordert, seinen Adel registrieren zu lassen. Die Familie sei von alters her blaublütig, wenn auch der Zweig, dem Heinrich Zschokke entstammte, im Lauf der Zeit «hinabgekommen» sei. Der 17-jährige Sohn Achilles Zschokke, damals gerade Redaktor der handgeschriebenen Familienzeitung «Der Blumenhaldner», fügte hinzu, sein Vater habe den Rat des Herrn von Tschock verschmäht, da ihm das «von» vor dem Namen unnütz erschienen sei.20 Der Zschokke-Biograf Carl Günther meint aus der Kopf- und Gesichtsform Zschokkes, wie sie in vielen Porträts vermittelt wird, slawische Züge zu erkennen.21 Jedenfalls erleichterten es ihm das Slawische, Sächsische, Preussische und über die Mutter auch das Hugenottische seiner Abstammung, sich als Weltbürger zu fühlen.

In den Magdeburger Kirchenbüchern und Bürgermatrikeln finden sich nebeneinander Schocke und Schock. Da der Name mit der Witwe von Heinrichs Bruder Andreas Schocke 1819 in Magdeburg erlosch, stammen alle heute noch lebenden Verwandten der männlichen Linie, falls sie nicht Heinrich Zschokkes Nachkommen aus Aarau sind, von den Oschatzer Verwandten ab und heissen oft Zschucke, Tschucke oder Tschocke.22 Was Johann Gottfried Tzschucke aus Bequemlichkeit für sich und seine Nachkommen in Magdeburg beschloss: die Eindeutschung des Namens zu Schocke, machte sein Sohn Heinrich als Gymnasiast wieder rückgängig. Er fügte das Anfangs-Z wieder hinzu, veränderte «ck» in «kk» und schrieb sich fortan Zschokke. Daran hielt er unbeirrt bis an sein Lebensende fest. Nicht etwa Slawophilie oder ein Hang für die Familienvergangenheit waren das Motiv dafür, sondern sein Interesse für Geschichte. Wie er seinen Söhnen mitteilte, stiess er bei der Lektüre eines bekannten Geschichtswerks auf einen österreichischen General Zschock, fand den Namen attraktiv und nannte sich ihm nach.23

Um diese Namensänderung rankt sich ebenfalls eine Anekdote: Danach soll Bürgermeister Blankenbach, der als Scholarch und Vertreter des Magistrats von Magdeburg der Prüfung am Altstädtischen Gymnasium beiwohnte, Heinrich zur Rede gestellt haben: «Warum verändert Er seinen Namen? Sein Vater war ein ehrlicher Mann, der nannte sich Schocke; wenn die Erbschaft aus Lissabon ankommt, soll Er nichts davon abhaben.»24 Ob die Schockes wirklich Verwandte in Portugal besassen, ist unklar. Zschokke hatte die Genugtuung, dass sein um ein Jahr jüngerer Neffe Friedrich später seine neu-alte Schreibweise übernahm,25 ebenso auch die verheirateten Schwestern.

Wirtschaftliche Gründe bewogen wohl Johann Gottfried Tzschucke, schon in jungen Jahren von Oschatz wegzuziehen. Abenteuerlust kann es nicht gewesen sein, sonst wäre er sicherlich weiter weg gereist. Er wird einige Zeit nach dem ersten schlesischen Krieg (1740–1742) nach Magdeburg gekommen sein, in eine aufstrebende Stadt, grösser und attraktiver als Oschatz. 1738 war dort die Tuchmacherinnung gegründet worden, die den Zugang zum Gewerbe regelte und in die Schocke nach wenigen Jahren aufgenommen wurde. Am 13. August 1746 erhielt er durch ein königliches Reskript das Magdeburger Bürgerrecht und ehelichte zwei Monate später, am 23. Oktober, Jungfer Dorothea Elisabeth,26 jüngste Tochter des verstorbenen Tuchmacher-Altmeisters Joachim Peter Jordan.

Falls die Jordans hugenottischen Ursprungs waren, so kamen sie noch vor dem zweiten grossen Exodus nach der Aufhebung des Toleranzedikts von Nantes durch Ludwig XIV. im Oktober 1685 nach Magdeburg und assimilierten sich schnell. Seit 1714 besassen sie das Bürgerrecht der Stadt und gehörten der evangelischen St. Katharinengemeinde an, wo auch Heinrich Zschokke und seine Geschwister getauft und konfirmiert wurden.27

In der Familie Schocke herrschte ein ausgeprägter Berufsstolz: Ein achtbarer Tuchmacher zu sein, wurde als persönliche Auszeichnung empfunden. Da Heinrichs Vater, sein Bruder Andreas, der Onkel in Oschatz, die beiden Grossväter und drei der vier Urgrossväter diesen Beruf ausgeübt hatten, war es ausgemacht, dass er ebenfalls Tuchmacher würde. Man musste sich also um seine Schulbildung und Zukunft nicht besonders kümmern.

Magdeburg war um 1771 eine Stadt mit gegen 25 000 Einwohnern, nicht gezählt die mehreren tausend Armeeangehörigen mit ihren Familien.28 Im 17. und 18. Jahrhundert hatten sich das Verlagssystem und Manufakturwesen stark entwickelt. Vorab Textil-, Tabak- und Töpferwaren wurden massenweise hergestellt, wobei dem Elbschiffverkehr bis Hamburg eine besondere Rolle zufiel.29 Die Ansiedlung von Hugenotten hatte der Seiden-, Woll-, Baumwoll- und Leinenweberei, der Strumpfwirkerei und Strumpfstrickerei zu einem beachtlichen Aufschwung verholfen.

Die Stadt war von dicken Wällen, Gräben, Bastionen und Zitadellen umgeben, die Bevölkerung fühlte sich aber auch eingeschlossen: «Bei Annäherung an die Stadt, beim Durchschreiten oder Durchfahren der Festungswerke verstärkten die verwinkelten, über Grabenbrücken und durch Walltunnel geführten Straßen sowie die Doppeltoranlagen, die ständig mit Torwachen besetzt waren, diesen Eindruck.»30 Die Festungsanlagen umfassten 200 Hektaren gegenüber 120 Hektaren Stadtareal, so dass die bewohnbare Stadt flächenmässig wie eine Beigabe zur Festung wirkte. Der Enge im Norden Magdeburgs, wo sich die Arbeiter drängten und auch die Schockes wohnten, konnte man sich nur entziehen, wenn man vor die Tore, in die Neustadt, nach Friedrichsstadt oder Sudenburg zog.

In vielerlei Hinsicht war die Garnison autark: Sie besass eine eigene Verwaltung und Justiz, eigene Schulen und medizinische Versorgung. Die Stadt zog manche Vorteile aus ihrer Lage als stärkste Festung Preussens: Die Könige schenkten ihr mehr Aufmerksamkeit als einer anderen Provinzstadt, zumal der Hof Friedrichs II. im Siebenjährigen Krieg hier zeitweilig Zuflucht fand. Es wurde viel gebaut und ausgebessert, aber auch die erhöhte Kaufkraft war spürbar. Die militärische Präsenz mit zwei Infanterieregimentern, zwei Grenadierbataillonen und einer Artilleriekompanie31 kam dem Handwerk, vor allem dem Wolltuchgewerbe, zugute: Uniformen aus diesem Material spielten in der preussischen Armee eine wichtige Rolle.

In der Magdeburger Altstadt war die Tuchmacherinnung gegen Ende des 18. Jahrhunderts mit 837 Arbeitskräften vertreten: 70 Meistern oder Witwen von Meistern, 40 Gesellen, 11 Lehrburschen und 716 Gehilfen (39 Wollkämmer, die übrigen Wollspinner).32 Über zehn Prozent der 8154 «Professionisten» befassten sich mit der Herstellung von Wolltüchern. Ob Johann Gottfried Schocke tatsächlich durch bedeutende Tuchlieferungen für die preussische Armee reich wurde, wie Zschokke behauptete,33 darf bezweifelt werden. Dagegen sprechen die kleinräumlichen Verhältnisse, in denen er lebte, und die wenigen Arbeitsgeräte, die nach seinem Tod versteigert wurden. Wie viele Tuchweber er beschäftigte oder ob er auch Tücher von eigenständig arbeitenden Webern kaufte und verkaufte, wissen wir allerdings nicht.

Schocke war ein Tuchhersteller, ein Tuchhändler aber war er nicht; diese besassen ihre eigene Zunft: die Gewandschneiderinnung mit einem Haus am Alten Markt.34 Es gibt keinen Hinweis, dass Schocke dieser Zunft ebenfalls angehörte. Dagegen war er Altmeister der Tuchmacherinnung und leitete als Präses (Vorsitzender) ihre Sitzungen. Im Stadtarchiv Magdeburg ist ein Protokollheft, das mit dem 6. September 1777 einsetzt. An dieser Sitzung nahm auch Schocke junior teil, Heinrichs Bruder Andreas. Später lassen sich die Anwesenden nicht mehr feststellen; die Eingangsformel lautete: «Bey der heutigen Zusammenkunft der Alt- und Schaumeister [...]», ohne weitere Angaben. Bei solchen Anlässen wurde die Aufnahme neuer Meister in die Innung beschlossen; Bedingung war eine abgeschlossene Lehrzeit, das Bürgerrecht von Magdeburg und ein Meisterstück. Vater Schocke war für die jährliche Rechnungsablegung verantwortlich.

Magdeburg war geprägt durch die Elbe, ihre doppeltürmigen Kirchen und die Wallanlagen, welche die Stadt im 18. Jahrhundert zu einer unbezwingbaren Festung machten. In der Mitte des Flusses befand sich eine Zitadelle, welche die Stadt auch von dieser Seite schützen sollte. Ausschnitt aus einem Kupferstich des 18. Jahrhunderts.

Am 5. April 1779 liest man den Eintrag: «[...] Sollte eigentlich der Altmeister Nieschke sein Amt niederlegen; allein weil der Altmeister Schocke noch sehr krank ist, wurde festgelegt daß Meister Nieschke das Altmeister Amt bis zu Meister Schockens Wieder Gesundung versehen solle.» Da Schocke zwei Wochen später starb, rückte am 17. Mai der älteste Schaumeister zum Altmeister nach. Es galt dabei das Prinzip der Anciennität; man achtete ferner darauf, dass zwei Altmeister vorhanden waren, von denen der jüngere den «Oberältesten» in der Leitung der Innung ablösen konnte.35

ERSTE KINDHEITSERINNERUNG

Johann Gottfried Schocke hatte am 14. Mai 1757 in der Schrotdorfer Strasse 2 ein kleines zweistöckiges Haus erworben, das von einem einst doppelt so breiten Gebäude abgetrennt worden war und nach vorne eine Tür und zwei Fenster, im oberen Stock drei Fenster besass. Zur rechten Hand war eine schmale Gasse mit Hoftor, die später den Namen Fabriken Strasse erhielt. Eine Bleistiftzeichnung von 1828 und eine Tuschzeichnung, die um 1842 entstand, zeigen das Haus, in dem Heinrich und seine Geschwister geboren wurden.

Die Bezeichnung Schrotdorfer Strasse oder Grosse Schrotdorfer Strasse (um sie von der Kleinen Schrotdorfer Strasse zu unterscheiden) war eine gewaltige Übertreibung. Die einzige wirkliche Strasse in diesem Quartier war der Breite Weg, der die Stadt von Norden nach Süden durchquerte, durch den sich der Hauptverkehr wälzte und an der sich die Läden und Gasthäuser befanden. Die Einmündung vom Breiten Weg in die Schrotdorfer Strasse lag der Katharinenkirche gegenüber; es war eine Sackgasse mit Krümmungen und Verengungen, die auf die Casernen (oder Baraquen) Strasse mit Soldatenhäusern mündete, welche auf der Nordwestseite Magdeburgs der inneren Festungsmauer entlanglief. Ursprünglich hatte sich hier einmal ein Tor befunden, das zu einem Dorf mit dem Namen Schrotdorf geführt hatte.36

Wer sich heute in der Stadt bewegt, dem fällt es schwer, sich das Magdeburg von damals vor Augen zu führen. Durch die britische Bombardierung am 16. Januar 1945 – an der Peripherie der Stadt waren wichtige Kriegsbetriebe angesiedelt – wurde die nördliche und mittlere Altstadt in Schutt und Asche gelegt. Beinahe alle Häuser der Innenstadt waren zerstört oder schwer beschädigt.37 Nach den Aufräumarbeiten war der Stadtkern eine leere Fläche, aus welcher Kirchenruinen und einzelne weniger beschädigte Häuser wie Zahnstummeln ragten. Das DDR-Regime verzichtete auf eine Restaurierung und versuchte, eine sozialistische Vision zu verwirklichen, wie sie teilweise schon Otto von Guericke nach der ersten Zerstörung Magdeburgs 1631 entwickelt hatte: mit breiten Strassen und zentralen Achsen.38 Vom Nordwesten der Stadt blieb nichts mehr übrig, als 1966 auf Geheiss des Staatsratsvorsitzenden Walther Ulbricht und gegen den Willen der Magdeburger die beiden Türme der Katharinenkirche eingeebnet wurden.39 Stattdessen entstand ein Plattenbau, Haus der Lehrer genannt. Seit 2000 befindet sich auf dem Gehsteig als Mahnmal der Zerstörung ein Bronzemodell.

An die Schrotdorfer Strasse erinnert nichts mehr; nicht einmal die Strassenführung ist noch erkennbar. Dort stehen heute einfallslose, hintereinander gestaffelte Hochhäuser und davor, am Breiten Weg, zweigeschossige Läden und Baracken, die noch verlotterter wirken als die omnipräsenten Plattenbauten, die seit 1989 «rückgebaut», das heisst abgerissen werden. Als Hans W. Schuster, der sich um die Rettung der alten Bausubstanz Magdeburgs verdient gemacht hatte, im Auftrag der Heinrich-Zschokke-Gesellschaft eine Bronzetafel zum Gedenken an Heinrich Zschokke goss, war es nicht mehr möglich, sie dort anzubringen, wo einmal dessen Elternhaus stand. Der Standort wurde nach Westen versetzt, ins Gebiet der früheren Festungsanlagen, wo sich nun gegenüber der Universität ein Park befindet, und an die (neue) Zschokkestrasse, die 2001 durch den Einsatz der Literarischen Gesellschaft von Magdeburg und der Gesellschaft von 1990 umgetauft wurde.40

 

Zschokkes Geburtshaus an der Schrotdorfer Strasse 2, nach einer Federzeichnung von 1842 oder 1843. Im rechten Teil dieses Doppelhauses kamen auch Zschokkes acht Geschwister zur Welt. Das Gässlein rechts, die spätere Fabriken Strasse, hatte damals noch keinen Namen und war nur fussgängerbreit. Von hier ging ein Tor in den Hof.

Als im April 1827 Zschokkes zweitältester Sohn Emil nach Magdeburg kam, traf er noch vieles so an, wie sein Vater es erlebt hatte: den belebten Breiten Weg, wo die Kaufleute, Kornhändler, Brauer, Branntweinbrenner und Bäcker dicht an dicht ihre Geschäfte betrieben, die Katharinenkirche, die Strassen mit ihren niedrigen Riegelhäusern.41 Seine Eindrücke hielt er in der Artikelreihe «Erinnerungen aus Magdeburg» für seine Geschwister im «Blumenhaldner» fest.42 Mit seinem Vetter, Zschokkes Kindheitsfreund Gottlieb Lemme, besuchte er auch das Elternhaus. Die Seitenstrassen, stellte er fest, seien in dieser Gegend so schmal, dass man sie besser Gässchen nennen würde:

«Sie führen in die entlegenen Quartiere der Stadt, die sich an die innern Seiten der Festungswälle anlehnen, und bieten dem Fremden nicht die mindesten Sehenswürdigkeiten dar und werden darum auch selten von solchen besucht. Für den Blumenhaldner aber enthält zumal die leztgenannte [...] die größte, ihm heiligste Merkwürdigkeit Magdeburgs. Es steht da ein kleines graues Haus mit grünen Fensterläden, das, weil hier die Schrotdorfer-Gaße von einer andern durchkreuzt ist, zum Ekhause wird. Es ist nur zwei bis 3 Fensterlängen breit, und ein Stokwerk hoch. Auf seiner hintern Seite muß ein geräumiger Hofraum sich ausbreiten, der aber von einer hohen Mauer von dem obengenannten Quergäßchen geschieden ist. Die festgeschloßene Hofthür, welche in der Mauer angebracht ist, gewährt dem Neugierigen keinen Blik hinein. Nur einige überhängende grüne Zweige laßen ahnen, daß sich darin freundliche Schattengänge befinden. Zu diesem Hause führte uns Lemme einmal, und sprach, indem er ernst darauf wies: ‹Seht da ist Euer Vater geboren.›»43

Hier also verlebte Heinrich Zschokke die ersten acht Jahre seiner Kindheit, zusammen mit seinem Vater, der jüngsten Schwester Christiana Catharina und der nächst älteren Schwester Friederica Elisabeth, die 1775 heiratete und aus dem Elternhaus wegzog. Es ist anzunehmen, dass sich nach dem Tod der Mutter wenigstens eine weibliche Person um die beiden Kinder kümmerte. Vielleicht war dies in den ersten Jahren die ältere Schwester.

Das erste Kindheitserlebnis, das Zschokke anführt, war ein Komet, der 1774 über der Stadt erschien und die Bürger in Besorgnis versetzte. Man habe darin die Zornrute Gottes erblickt. Der Vater sei mit seinen drei Töchtern vor die Türe getreten und habe den kleinen Heinrich allein in der Stube gelassen.

«Ich bebte vor Entsetzen, zog grausend die kleinen Füße an mich auf den breiten, ledernen Lehnstuhl, und wagte kaum zu athmen. Denn ich stellte mir draußen die strahlende Zornruthe, hingestreckt durch die Nacht über eine schaudernde Welt, vor, und wie von der Welt dahin tausend leichenblasse Menschengesichter schweigend emporstarrten.»44

Heinrich war damals drei Jahre alt (in der «Selbstschau» gab er sich ein Jahr mehr), und es ist kaum anzunehmen, dass ihn in diesem Alter schon ein metaphysisches Gruseln packte. Ausserdem lebten ja nur noch zwei Schwestern im Haus.45 Fast jedes Jahr wurde ein Komet gesichtet; derjenige von 1774 war nicht einmal besonders spektakulär.46 Es ging Zschokke bei dieser Notiz um etwas ganz anderes als um ein tatsächliches Begebnis. Am Anfang des bewussten Lebens stand nach seiner Überzeugung eine namenlose Angst, in der ein Mensch sich allein gelassen fühlt. Da Zschokke die Angst vor der Strafe Gottes später oft in Zusammenhang mit Aberglauben und religiösem Wahn brachte, denen ein kindliches Gemüt hilflos ausgeliefert sei, schien es ihm bei bei der Abfassung seiner «Selbstschau» sinnvoll, die Kometengeschichte hier einzubringen.

In der «Selbstschau» wollte Zschokke die Geschichte seiner inneren Welt, «ihrer Verwandlungen, ihrer Religions- und Lebensansichten u.s.w.» schildern. «Ich entwikkle mir, wie ich zu meiner Religion stufenweis’ kam, zu meinem Leben in Gott, zu meinem Einswerden mit den Ansichten Christi von göttlichen Dingen, und schildre dann meine Religion.»47 Der erste Band sollte sein religiöses Bewusstwerden, sein geistiges Erwachen zeigen, ein zweiter Band seine philosophischen und religiösen Überzeugungen in einen logischen Zusammenhang bringen.48 Im Verlauf der Ausarbeitung kam Zschokke von dem Konzept für den ersten Band wieder ab. Er sah wohl ein, dass die Darstellung seines bewegten Lebens, all dessen, was er als Augenzeuge und Handelnder beobachtet und mitgestaltet hatte, für seine Mitmenschen mindestens ebenso interessant war wie die Auslegung seiner inneren Welt.

Die Beschreibung seiner ersten Lebensjahre ist noch ganz vom ursprünglichen Konzept geprägt. Die Summe seiner Erkenntnisse über das Wesen und die Entwicklung des Menschen führte er in einer doppelten Betrachtungsweise aus: die Quintessenz in einer systematischen und synoptischen Schau seines Weltbildes («Welt- und Gottanschauung»), die Entwicklung und Reifung, gleichsam das Erwachen des Menschen, in einer diachronen Sicht am eigenen Fall («Das Schicksal und der Mensch»). Dem diachronen Ansatz legte er ein Evolutionsmodell zugrunde, das die Entfaltung des Individuums in verschiedenen Stufen vom Säugling über den Jüngling bis zum Greis betrachtet. Dies kommt schon in der Einteilung des autobiografischen Teils zum Ausdruck, mit den Hauptkapiteln Kindheit, Wanderjahre, Revolutionsjahre, des Mannes Jahre und Lebens-Sabbath.

Zu Beginn jeglicher Menschwerdung, der individuellen wie der allgemeinen, steht nach Zschokkes Vorstellung ein Dahinfluten des Geistes zwischen Wachen, Schlafen und Träumen, bevor der Verstand sich zu regen beginnt. Also setzte er in der «Selbstschau» mit der Beschreibung seiner Kindheit so ein:

«Das erste Denken des Kindes ist ein leises Spinnen der Fantasie im Dämmerlicht des Bewußtseins; ein gedächtnißloses Träumen im Wachen. Die Welt gaukelt unklar an den Augen vorüber; und was sie zeigt, ist vergessen, sobald sie es wegnimmt. Der Mensch ist noch thierähnlich; der Geist hat sich noch nicht mit seinen irdischen Werkzeugen vertraut gemacht; das weiche Lebensgewebe des Leibes ist noch zu zart, als daß es ihm schon zum freiern Gebrauch dienen könnte. So gehn die ersten Jahre des Kindes vorüber. Der eben vorhandne Augenblick ist ihm ein Lebensganzes.»49

Die Stufenleiter, die jeder Mensch durchläuft, sah Zschokke vorgezeichnet und wiederholt in der Evolution der Natur vom Unbelebten über die Pflanzen und Tiere bis zu den Menschen und ein weiteres Mal in der Kulturgeschichte. Den Schlüssel zu dieser Interpretation gibt Zschokke im zweiten Teil der «Selbstschau». Er führt die geistige Entwicklung des Individuums parallel zu jenen ganzer Völker, mit den Stufenfolgen Wildheit, Halbwildheit, Barbarei, Halbbarbarei und Zivilisation. Die oberste Stufe des «Hochmenschlichen» habe bisher kein einziges Volk erreicht, wohl aber «der einzelnen Sterblichen Viele, unter Barbaren und Civilisirten, [...] Andre zur Nachfolge ermuthigend».50 Diese oberste Stufe sei für jedes Individuum erstrebenswert und werde auch die Menschheit schliesslich erreichen. Als Zschokke die «Selbstschau» schrieb, glaubte er, diese letzte Stufe erreicht zu haben oder ihr mindestens nahe zu sein.