Buch lesen: «Heinrich Zschokke 1771-1848»
Sepiazeichnung Zschokkes von R. Bachmann aus dem Jahr 1807.
INHALT
Vorwort
Einleitung: Zur Zschokke-Literatur
Eine Kindheit in Magdeburg (1771–1788)
Nachzügler und Waisenkind —— Stadt der Tuchmacher und Soldaten —— Erste Kindheitserinnerung —— Schulsorgen —— Im Reich der Phantasie —— Schriftstellerische Ambitionen —— Tödliche Kränkungen
Jugend in der Fremde: Von Schwerin nach Landsberg (1788–1790)
Flucht nach Schwerin —— Hauslehrer bei Buchdrucker Bärensprung —— Monatsschrift von und für Mecklenburg —— Geisterseher und blutrünstige Dramen —— Im Tross eines Wandertheaters —— Schriftstellerteufel —— Auf dem Weg zur Universität
Akademische Laufbahn und Dichterlorbeeren: Frankfurt an der Oder (1790–1795)
Die Viadrina und ihre Professoren —— Studentenleben an der Oder —— Die schwarzen Brüder —— Doktor der Philosophie, Magister der schönen Künste —— In der Vaterstadt auf der Kanzel —— Privatdozent und Gelehrter —— Ideen zur psychologischen Ästhetik —— Dichter und Publizist in der Frankfurter Zeit —— Politische Rebellion —— Abschied von Frankfurt
Wallfahrt in die Schweiz und nach Paris (1795 und 1796)
Bildungsreise mit Pausen —— Stephan Bathori, König der Polen —— Coronata oder der Seeräuberkönig —— Eintritt in die Schweiz —— Zürcher Freundschaften —— Der Stäfner Handel —— Erste Begegnung mit Bern —— Abstecher nach Paris —— Politisches Manifest —— Quer durch die Alpen nach Chur
Schulleiter in Graubünden (1796–1798)
Ein Seminar auf Schloss Reichenau —— Wiederbelebung des Instituts —— Zschokke als Direktor —— Lehrbuch für Dorfschulen —— Der Helvetische Volksfreund —— Ökonomische Schwierigkeiten —— Das Seminar wird liquidiert —— Die drey ewigen Bünde im hohen Rhätien —— Einmischung in Bündens Politik
Propagandist der Helvetik
Agent der Bündner Emigranten —— Pläne des Ministeriums der Künste und Wissenschaften —— Aufbau des Büros für Nationalkultur —— Literarische Sozietät in Luzern —— Die Helvetische Zeitung – ein Blatt der Regierung —— Der Schweizerbote oder die Erfindung des Boulevards —— Der helvetische Genius —— Das Ende von Zschokkes Arbeit für Stapfer
Regierungskommissär in Stans (1799)
Aufruhr und Chaos —— Krieg vor der Haustüre —— Aufmüpfige Weiber —— Das Waisenhaus von Stans —— General Loison, Kriegsheld —— Gebirgskampf am Gotthard —— Landwachten in jedem Dorf —— Arbeitsgesellschaften —— «Ein Wort zu seiner Zeit»
Hilfe für die Innerschweiz (1799–1800)
Kriegsschäden in Uri und Schwyz —— Widerstand der Geistlichkeit —— Aufruf zum Erbarmen —— Sehnsucht nach Frieden —— Versuch einer Schulreform —— Umsturz in Bern und Absetzung Zschokkes —— Erholung im «Ebnet»
Neuordnung der ennetbirgischen Kantone (1800)
Zug über den Gotthard —— Leitung eines Doppelkantons —— Hungersnot, Zehntenfrage und Kornimport —— Weitreichende Pläne für das Tessin
Regierungsstatthalter in Basel (1800–1801)
«Die hiesigen Bürger schreien Zetter über ihn, dass er ein Fremder sey» —— Der Bodenzinssturm —— Ausländer, Bettler und Spione —— «Ihr seyd daher eingeladen, mich unausgesetzt zu unterrichten» —— «Hie und da bemerkte man ein alt-schweizerisches Lächeln» —— «Und bin dort, wie das Kind im Hause» —— «Es dauert mir mit den Troublen zu lange»
Gestrandet in Bern (1801–1802)
Zschokkes religiöse Bekehrung —— Begegnung mit Kleist —— Neue Pläne
Schlossherr auf Biberstein
Der Stecklikrieg —— Oberforst- und Bergrat —— Dichterblüten aus der Provinz —— Ein Blitz mit Folgen
Geschäftige Jahre in Aarau
Häuslichkeit —— Das Gerben von Ochsenhäuten —— Vereinsleben —— Freimaurerloge zur Brudertreue —— Vaterländische Kultur —— Fünf Halme in einem Ährenbündel —— Erziehung der republikanischen Jugend
Der Zeitschriftenmacher
Der Schweizerbote macht sich erneut auf den Weg —— Der Kalendermacher —— Isis, eine gelehrte Monatsschrift —— Miszellen für die neueste Weltkunde —— Stunden der Andacht —— Erheiterungen
Geschichten für das Volk
Baierische Geschichten —— Bündner Geschichte zum zweiten —— Geschichten für das Schweizervolk —— Das Goldmacherdorf —— Vom Schuldenberg in den Wohlstand —— Die Blumenhalde
Politisches Engagement
Der Aargau im Schicksalsjahr 1814 —— Zschokke im Grossen Rat —— Überlieferungen zur Geschichte unserer Zeit —— Restauration in der Schweiz —— Stimme in der Nacht —— Kampf wider die Zensur —— Herzog und Zschokke —— Die Volksseele kocht
In der regenerierten Schweiz
Grossratsgefechte —— Gesandter der Tagsatzung —— Die Kirchenfrage als Prüfstein der Demokratie —— Volksbildung und Volksgesundheit —— Gelegenheitsarbeiten —— Klassische Stellen und Genfer Novellen
Lebensabend
Im Reisefieber —— Allerlei Ehrungen —— Welt- und Gott-Anschauung —— Kämpferische Töne —— Häusliche Idylle —— Krankheit und Tod —— Epilog
Was bleibt
Dank
Anhang
Biografische Daten von Johann Heinrich Daniel Zschokke —— Zschokkes Mitgliedschaft in Gesellschaften; seine Ämter und Würden —— Anmerkungen —— Literaturverzeichnis —— Abkürzungen —— Bildnachweis —— Personenverzeichnis
VORWORT
1798–1848 ist die Zeit des Umbruchs von der Alten Eidgenossenschaft zur Gründung des Schweizerischen Bundesstaats. Sie führte von der Helvetik über die Mediationszeit, Restauration, Regeneration und den Sonderbundskrieg bis zur ersten Bundesverfassung der modernen Schweiz.
Der aus Magdeburg stammende Schriftsteller und Privatdozent für Theologie und Philosophie Heinrich Zschokke (1771–1848) hat dieses halbe Jahrhundert als Politiker und Staatsbeamter, als Schriftsteller und Erzieher, als Unternehmer und Briefeschreiber wie nur wenige andere beobachtet, interpretiert und mitgestaltet. Er wurde so zu einem Wegbereiter der modernen Schweiz. Drei Jahre vor der französischen Besetzung von 1798 kam er, 24 Jahre alt, in die Schweiz, stellte sich in den Dienst der jungen Helvetischen Republik, später des Kantons Aargau und des Aufbaus der künftigen, freiheitlichen und demokratischen Schweiz. Er erhielt zuerst das Bündner, dann das Schweizer Bürgerrecht in den fünf Gemeinden Malans, Aarau, Lausen (Ehrenbürger), Ueken und Beromünster; später wurde er zudem Ehrenbürger von Magdeburg. Gestorben ist er am 27. Juni 1848, am Tag an dem die eidgenössische Tagsatzung die Bundesverfassung beschlossen hat. Zur Zeit seines Todes war er im deutschen Sprachraum – und darüber hinaus – einer der meistgelesenen Autoren.
DER WEG ZUR BIOGRAFIE
Zur 150. Wiederkehr des Todestags von Heinrich Zschokke versammelten sich in seinem ehemaligen Wohnsitz, der «Blumenhalde» in Aarau, zahlreiche Familienangehörige sowie an seinem Werk Interessierte. Unter der Führung von Markus Kutter und Andres Zschokke entsprang aus den Folgearbeiten zuerst die Idee einer Zschokke-Gesellschaft und später diejenige einer Zschokke-Biografie. Bis dahin lag die Zschokke-Forschung hauptsächlich in den Händen der Schweizer Germanisten Rémy Charbon (Genf und Freiburg) und Robert Hinderling (Bayreuth). Sie schien mit dem Ende der Nationalfonds-Finanzierung 2005 zu stagnieren. Es galt, den damaligen Projektleiter Dr. Werner Ort für eine Fortsetzung zu gewinnen.
Dieselben Kreise haben deshalb am 10. März 2000 in der «Blumenhalde» die Heinrich-Zschokke-Gesellschaft (HZG) gegründet. Sie hat mit einem Mitgliederbestand von nun über 100 Personen sowie einem engagierten Vorstand zusammen mit Werner Ort die Zschokke-Forschung und das «Unternehmen Biografie» über mehr als ein Dutzend Jahre vorangetrieben. Zunächst galt es, Tritt zu fassen. Mit den «Zschokke-Briefen» und den Berichterstattungen von Werner Ort vorab an den Generalversammlungen wurden die Mitglieder und weitere besonders Interessierte regelmässig in die Arbeiten miteinbezogen. Aus den sehr zahlreichen Briefen Zschokkes gab Werner Ort 2001 das Werk «‹Guten Morgen Lieber!› Der Briefwechsel Heinrich Zschokkes mit seinem Verleger Sauerländer» heraus. Zum Jubiläum «200 Jahre Kanton Aargau in der Eidgenossenschaft» wagte die HZG eine weitere Etappe auf dem Weg zur Biografie und gab das von Werner Ort verfasste Buch «Der modernen Schweiz entgegen – Heinrich Zschokke prägt den Aargau» heraus.
Die Generalversammlung der HZG beauftragte am 21. Juni 2003 den Vorstand, das Projekt einer Biografie Heinrich Zschokkes an die Hand zu nehmen, das heisst, die organisatorischen und finanziellen Voraussetzungen dafür zu schaffen. Ziel war es, ein möglichst umfassendes, gründliches, quellenbasiertes und gut lesbares Werk zu präsentieren. Der Historiker und Ökonom Werner Ort übernahm diese Aufgabe. In engem und regelmässigem Kontakt mit dem Vorstand widmete er sich den inhaltlichen Vorbereitungen. Dazu gehörten Vorträge und Publikationen, Archivstudien und Reisen an die entsprechenden Orte in Deutschland und in der Schweiz. Die HZG traf sich mehrfach mit Partnerorganisationen aus Zschokkes Herkunftsstadt Magdeburg. Je einmal nahmen die Stadtoberhäupter Dr. Marcel Guignard, Aarau, und Dr. Lutz Trümper, Magdeburg, an solchen Begegnungen teil. Besondere Höhepunkte bildeten die Zschokke-Symposien in Aarau und Magdeburg. Sie führten Zschokke-Forscher und -Interessierte aus der Schweiz und Deutschland zusammen. Werner Ort hat eine reiche Sammlung von Quellen zusammengetragen; die HZG hat mit ihm vereinbart, diese im aargauischen Staatsarchiv zu hinterlegen, damit sie der künftigen Zschokke-Forschung dienen.
Eine zentrale Herausforderung war es für die HZG, die Finanzierung und Herausgabe der Biografie sicherzustellen. Wir danken den Mitgliedern und Freunden der HZG für die zahlreichen finanziellen Zuwendungen. Ohne sie wäre dieses Werk nicht möglich gewesen. Zahlreiche Private haben sich am Projekt beteiligt, ebenso die Kantone Aargau, Basel-Stadt, Basel-Landschaft, Graubünden und Tessin sowie die Stadt Aarau, zudem erfreulich viele Firmen und Stiftungen. Die Sponsoren sind im Anhang verzeichnet. Ausserordentlich viel – geistig und finanziell – trug unser Vorstandsmitglied Andres Zschokke bei. Für alle Beiträge sei herzlich gedankt.
Zu danken ist ebenso dem Verleger Bruno Meier für die qualifizierte, freundschaftliche Begleitung! Und Dank gebührt allen voran Werner Ort für seine aussergewöhnliche wissenschaftliche und schriftstellerische Leistung.
FASZINATION ZSCHOKKE
Die Freiheit und Eigenverantwortung des Autors waren das Fundament der Zusammenarbeit, daraus entwickelten sich Gespräche und Diskussionen zwischen dem Autor und der HZG. Sie entsprangen dem Spannungsfeld zwischen den Quellen, der Stofffülle und der schier unermesslichen Vielfalt von Zschokkes Schaffen einerseits sowie dem Realisierungsauftrag der HZG und den beschränkten Mitteln andererseits. Immer wieder tauchten neue Aspekte, neue Fragen auf. Werner Ort stellte sich dieser Auseinandersetzung geduldig, gesprächsbereit, aber doch beharrlich.
Immer wieder faszinierten Zschokkes Persönlichkeit und Wirken. Vorweg beeindruckt haben natürlich einmal mehr die Schilderungen über die seltene Schaffenskraft und die Breite seines Engagements, kurz die Lebensleistung von Heinrich Zschokke. Naturgemäss musste sich der Autor beschränken. Beabsichtigt war nie eine blosse Lebenschronologie; die Biografie sollte Zschokkes Leben in seinem zeitgenössischen Umfeld darstellen. Seine Zeit war eine Zeit des Umbruchs wie wohl die unsrige auch. Die Anstrengung zur Biografie sollte sich gerade dadurch lohnen, dass sie zum Nachdenken über unsere Zeit und ihre Chancen anregt.
Zu den bekannten Aspekten aus Zschokkes Leben traten neue Erkenntnisse hinzu, vor allem für die Zeit der Helvetischen Republik. Diese kurze, in der Öffentlichkeit noch immer kontrovers diskutierte Ära eines zentralistischen Staats ist eine zentrale Kraftquelle der modernen Schweiz. Zschokke diente der Helvetischen Republik ab Mai 1799 als Regierungskommissär in der Innerschweiz, im Tessin und in Basel. Mit und nach dem Kriegsende im Oktober 1799 schildert die Biografie einen «Wendepunkt von Zschokkes Position zum Volk», eine «Umkehr oder Läuterung Zschokkes». Seine Traumbilder von der Schweiz als glückseligem Land der Freiheit waren längst verflogen. Jetzt musste er sich in der bitteren Realität möglichst «den Opfern widmen», «den Wiederaufbau besorgen», um «das Herz und das Zutrauen der Bergvölker» in den Waldstätten zu gewinnen. Die ohnmächtige helvetische Regierung vermochte nur wenig beizusteuern. Zschokke suchte in intensiver, praktischer Kleinarbeit die Bevölkerung trotz der Widerwärtigkeiten ihrer Zeit des Umbruchs zu – liberaler – Hilfe zur Selbsthilfe zu bewegen. Den Staat beschränkte er auf die Funktionen, die anders nicht zu erbringen waren, zum Beispiel für die Schule. Werner Ort arbeitete Zschokke als typisch schweizerischen Aufklärer heraus. Zschokke begnügte sich nicht wie andere Aufklärer gemeinhin damit, die Menschen moralisch zu veredeln: Sein Ziel war es, die Menschen zu politischer Reife, zur Selbstbestimmung, Selbstverantwortung und zur Demokratie zu führen. Dieses Anliegen ist zeitlos.
Thomas Pfisterer,
Präsident der Heinrich-Zschokke-Gesellschaft
EINLEITUNG: ZUR ZSCHOKKE-LITERATUR
Keine Frage: Zschokke war ein herausragender Publizist, Volksschriftsteller und Volkserzieher. Ein Mensch von universeller Bildung, mit einem breiten Spektrum an Kenntnissen und Erfahrungen, dessen Rat und Nähe in den unterschiedlichsten Angelegenheiten gesucht wurde. Er war eine Berühmtheit schon zu Lebenszeit, wovon zahlreiche Ehrungen ein beredtes Zeugnis ablegen. Seine Schriften gehörten zu den meistgelesenen im deutschen Sprachraum. Es ist nicht verwunderlich, dass man sich schon früh für sein Leben zu interessieren begann. 1819 erhielt er seinen ersten Eintrag im Konversationslexikon von Brockhaus1 und 1824 erschien sein Lebensabriss im «Rheinischen Taschenbuch». Zschokke selbst hatte dazu eine knappe Skizze beigetragen, dennoch sah er sich nicht adäquat dargestellt; vor allem die Beweihräucherung brachte ihn in Verlegenheit.2
Seinen «Ausgewählten Schriften», die sein Verleger seit 1825 herausgab,3 stellte Zschokke die «Lebensgeschichtlichen Umrisse» voran,4 worin er erstmals seinen Werdegang in einiger Breite darlegte und sich zu seiner Kindheit äusserte. Da sie in Eile entstanden – vom Konzept bis zum Druck der ersten drei Bände seiner Werke vergingen nur wenige Monate –, sind sie nur von begrenztem historischem Wert. Sie bestechen aber durch die Intensität, mit der Zschokke Ereignisse, Schicksalsschläge und Gemütslagen schildert: seine frühe Verwaisung, das Gefühl, ungeliebt zu sein und verkannt zu werden, die zunehmende Vereinsamung, Misserfolge in der Schule, Herausbildung einer starken Einbildungskraft, Träume von Reisen und Abenteuern, unersättlicher Lesehunger verbunden mit Wissensdurst, eine sich verdüsternde Stimmung, die in Schwermut überging.
Der inneren und äusseren Beengung entkam er, indem er mit 16 Jahren von zu Hause floh und beschloss, sich aus eigener Kraft durch die Welt zu schlagen. Er wurde Hauslehrer in Schwerin, zog mit Schauspielern als Theaterdichter durch die Gegend, holte autodidaktisch den Abiturstoff nach und schrieb sich in Frankfurt (Oder) an der Viadrina als Theologiestudent ein, mit dem Ziel, ein Universalgelehrter zu werden. Nach zwei Jahren erwarb er den Titel eines Doktors der Philosophie und das Recht, in Preussen zu predigen, stieg in Magdeburg auf die Kanzel jener Kirche, in der er getauft und konfirmiert worden war, und wurde wegen einer einzigen fehlenden Stimme nicht zum Pfarrer gewählt. Zurück in Frankfurt hielt er an der theologischen Fakultät philosophische und theologische Vorlesungen. Da ihm jedoch eine Professur versagt wurde, entschloss er sich zu einer Europareise. Er blieb in der Schweiz hängen und leitete in Graubünden eine Lehranstalt, von wo er fliehen musste, als er sich zu sehr politisch engagierte.
In der durch eine Revolution und Frankreichs Militärmacht entstandenen Helvetischen Republik wurde er als Beamter in die Innerschweiz, ins Tessin und nach Basel geschickt, trat aber von seinem Amt zurück, weil ihm die politische Richtung nicht mehr gefiel. Er liess sich im Aargau nieder, wo er eine Anstellung im Forst- und Bergwesen fand, heiratete und gab eine Volkszeitung heraus, den «aufrichtigen und wohlerfahrnen Schweizerboten». Der vom Schicksal Umhergetriebene kam hier zur Ruhe und übernahm verschiedene ehrenamtliche Tätigkeiten, um dem neuen Vaterland zu danken, das ihm eine Heimstatt geboten hatte. Er arbeitete an verschiedenen Zeitschriften mit, von denen er einige selber leitete, schrieb eine Geschichte Bayerns und der Schweiz und zur Erholung leichte Erzählungen. So stellte Zschokke sich selber dar. Seine zweite Autobiografie, «Eine Selbstschau» von 1842, rückt das Bild des einsamen Träumers und Stubenhockers zurecht, ist aber in der gleichen Art verfasst wie die erste.5 Auf nur 22 von 358 Seiten wird hier die Kindheit in Magdeburg abgehandelt.
Andere Zeugnisse aus den ersten 18 Jahren von Zschokkes Leben besitzen wir kaum. 1785 lernte der Stuhlmacher Andreas Gottfried Behrendsen Zschokke kennen und verfolgte auch später mit Anteilnahme sein Schicksal. Frucht davon waren ein lebenslanger Briefwechsel und einige Anekdoten, die Behrendsen in seinen Notizen festhielt.6 Carl Günter hat diese Notizen 1918 für seine Dissertation zu Heinrich Zschokkes Jugend- und Bildungsjahren noch benutzen können;7 seither sind sie verschollen. Die aufschlussreichen Briefe Behrendsens hatte Zschokke bis auf drei vernichtet, wie leider die meisten Briefe seiner Magdeburger Verwandten und Bekannten.8
In der Entstehungsphase der «Selbstschau» erzählte Zschokke seinen heranwachsenden Söhnen weitere Anekdoten aus seiner Kindheit und Studienzeit. Sie sind als «Scenen aus Papas Jugendleben» in der handgeschriebenen Familienzeitung «Der Blumenhaldner» enthalten.9 Bei Besuchen in Magdeburg während ihres Studiums in Berlin erfuhren die beiden ältesten Söhne Theodor und Emil Zschokke von Verwandten mehr über die Kindheit ihres Vaters. Gottlieb Lemme (1769–1831), Zschokkes Ziehbruder und Spielgefährte, führte sie in Magdeburg herum und zeigte ihnen das Geburtshaus und die Stätten gemeinsamer Erlebnisse. Die jüngste und einzige noch lebende Schwester Zschokkes, die verwitwete Christiana Catharina Genthe (1765–1837), erzählte ihnen, was sie von Zschokke noch wusste, und Theodor berichtete darüber in einem Brief.10 Emil, der länger in Magdeburg verweilte, um in der Kirche seines Vaters, der St. Katharinenkirche, zu predigen,11 ärgerte sich nachträglich darüber, dass er es unterlassen hatte, sich das Elternhaus an der Schrotdorferstrasse näher anzusehen.12
Mehrmals stand ein Zeitfenster offen, um Näheres über Zschokkes Kindheit zu erfahren. Das erste und längste Fenster liess Zschokke selber verstreichen, da er sich bei Verwandten oder Bekannten nie nachdrücklich über seine Eltern erkundigte, selbst als ihm klar wurde, dass er sein Leben beschreiben würde. Als seine Geschwister und die meisten gleichaltrigen Verwandten oder Freunde schliesslich gestorben waren oder kein Kontakt mehr bestand, war es zu spät. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Zschokke absichtlich mit der «Selbstschau» zuwartete, bis alle Zeugen verschwunden waren und er seine Entstehungsgeschichte unbelastet von widersprechenden Fakten und fremden Meinungen selber schreiben konnte. Eigentlich sollte sie erst nach seinem Tod erscheinen und war darauf angelegt, den Kindern und Enkeln seine innere und religiöse Entwicklung zu enthüllen. Sie gab erstmals das Geheimnis preis, dass er alleiniger Autor des so erfolgreichen Erbauungswerks «Stunden der Andacht» war, und erklärte den weltanschaulichen, religiösen und psychologischen Hintergrund dieses Werks.13
«Eine Selbstschau» ist ein Zeugnis von Zschokkes persönlichem Reifen, Lernen und Irren, seinem unermüdlichen, engagierten Handeln, dem unerschütterlichen, von tiefem Humanismus geprägten Glauben an den Fortschritt und die Zukunft der Menschheit und seinem sachverständigen staatsmännischen Urteil. Darüber hinaus ist sie eine packend geschriebene, gut aufgebaute und effektvoll gestaltete politische Zeitgeschichte. Immer wieder tritt das persönliche Leben hinter die Schilderung der politischen, sozialen und kulturellen Geschehnisse zurück.
Die «Selbstschau» wurde von vielen Zeitgenossen begeistert begrüsst. Man lernte Zschokke als Vertreter liberaler Ideen und Visionen kennen und schätzen, als Vordenker von Religionstoleranz, als Philosoph, Theologe, Kosmopolit, Politiker, Menschenfreund und Volkspädagoge.
Nach 1842 fühlte sich kaum jemand mehr berufen, Zschokkes Leben unabhängig von der «Selbstschau» zu beschreiben, obwohl die ersten 20 Jahre in Magdeburg, Schwerin, Prenzlau und Landsberg an der Warthe nur sehr kurz behandelt wurden. Die thematische Gliederung, welche die persönliche Geschichte in der Entwicklungs-, der politischen und Kulturgeschichte aufgehen lässt und die Wahrheitssuche betont, musste aber den Verdacht wecken, dass sie ihrer Schlüssigkeit wegen das eine im Hinblick auf das andere teilweise verzerrte oder begradigte.
Bis zum Anfang des letzten Jahrhunderts blieb «Eine Selbstschau» letzte Referenz und gültige Darstellung des Lebens eines Mannes, der an der Wiege der modernen schweizerischen Demokratie stand und seine Wahlheimat bis zur Gründung des Bundesstaats von 1848 nachhaltig beeinflusste und kommentierte. Friedrich Wilhelm Genthe, sein Neffe, schrieb schon 1850: «Seit Heinrich Zschokke in seiner Selbstschau den zahlreichen Freunden und Verehrern, so wie auch den blos neugierigen Lesern, ein Gemälde seines äußern Lebens, eine Schilderung davon gegeben hat, wie das Schicksal es anders wollte als der Mensch, ist es überflüssig, wenn ein anderer noch über die Lebensschicksale dieses Mannes schreiben will.»14
Wo nicht explizit erwähnt, zitierte oder paraphrasierte man fortan aus «Eine Selbstschau». Das ist mehr oder weniger bis heute so geblieben und liegt nicht zuletzt daran, dass sie uns noch jetzt persönlich nahegeht und in den Bann zieht. Es war verdienstvoll und berechtigt, dass der Zürcher Germanist Rémy Charbon sie 1976 neu herausgab. So war dieses Buch, das wie kaum ein anderes in einer persönlichen Lebensgeschichte die Transformation der Welt des 18. Jahrhunderts zur Moderne spiegelt, nach langer Zeit wieder greifbar.
Bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts gehörte Zschokkes Gesamtwerk zum eisernen Bestand der deutschsprachigen Literatur und war sein Name als Dichter humorvoller Erzählungen und historischer Romane, als Autor einer populären Schweizer Geschichte und der mehrbändigen «Stunden der Andacht» im Bewusstsein der Menschen verankert. Zu Lebzeiten galt er als einer der bedeutendsten und wirkungsmächtigsten deutschen Schriftsteller. Hätte es den Literaturnobelpreis damals schon gegeben, so wäre er wohl ein Anwärter gewesen; «Eine Selbstschau» wurde bisweilen sogar Goethes «Dichtung und Wahrheit» vorgezogen, weil sie die Zeitgeschichte stärker einbezog als jene.
Wer sich der Mühe unterzieht, Zschokkes belletristisches, lyrisches und essayistisches Werk aufmerksam zu lesen, findet immer wieder Stellen, an denen er innere Spannungen, philosophische, weltanschauliche und politische Fragen aufarbeitete, die ihn damals stark beschäftigten. Was dem Germanisten oft als ein rotes Tuch erscheint, ist für den Biografen absolut notwendig: das dichterische Werk biografisch auszuwerten.
Wenn im Folgenden mit der «Selbstschau» eher kritisch umgegangen wird, dann nicht, um ihren literarischen Wert zu schmälern, sondern weil Zschokkes Faktentreue fragwürdig war. Der Biograf des 21. Jahrhunderts kann sich nicht mehr auf sie stützen; er muss alle erreichbaren Informationen einbeziehen und stösst dabei auf bedenkliche Ungenauigkeiten und Irrtümer. Hätte Zschokke ein Tagebuch hinterlassen, das er nach eigenen Angaben seit dem zwölften Lebensjahr regelmässig führte,15 so wäre es vielleicht nicht nötig, ständig auf seine Autobiografie zu rekurrieren. Man könnte sie als dichterisches Werk bestehen lassen, als farbige Schilderung von Erlebnissen, Befindlichkeiten, Lebensumständen und Betrachtungen, und müsste sie nur ergänzend für biografische Angaben heranziehen. Ohne ergiebige andere Dokumente ist sie jedoch die Hauptquelle für Zschokkes Leben, besonders für die Kindheit und Wanderjahre, die Studenten- und Dozentenzeit in Frankfurt (Oder). Erst mit der Reise in die Schweiz, im Mai 1795, sind wir nicht mehr oder nur noch teilweise auf sie angewiesen.
«Eine Selbstschau» mag ein glänzend geschriebenes Psychogramm sein, eine in sich stimmige Entwicklungsgeschichte, ein Memoiren- und Geschichtswerk von hohem Rang, sie ist aber auch ein Zurechtrücken der Vergangenheit mit pädagogischen und philosophischen Absichten. Die naive Sicht auf «Eine Selbstschau» als wirklichkeitsnahe Lebensbeschreibung änderte sich erst, als Hans Bodmer 1910 in Berlin «Zschokkes Werke in zwölf Teilen» erscheinen liess16 und «Eine Selbstschau» nach der vierten, noch von Zschokke autorisierten Auflage von 1849 wiedergab. Erstmals stellte jemand die falschen Zeitangaben und Eigennamen richtig. Bodmer holte Erkundigungen im Stadtarchiv Magdeburg und im Archiv der St. Katharinenkirche ein, erschloss weitere Quellen und griff auch auf den Bestand des Familienarchivs in Aarau, das sogenannte Zschokke-Stübchen, zurück.17 Selbst Briefe und Aktenstücke seien von Zschokke «keineswegs in authentischer Form, sondern stets mit kleineren und größeren, ganz willkürlichen Veränderungen» zitiert worden, stellte Bodmer ernüchtert fest.18 «Eine Selbstschau» war nicht mehr sakrosankt. Damit war die Zeit gekommen, Zschokkes Lebensgeschichte zu überarbeiten oder gar neu zu deuten.
Einen weiteren bedeutenden Schritt machte etwa zur gleichen Zeit Alfred Rosenbaum, der für die 2. Auflage von Karl Goedekes «Grundriß der Geschichte der deutschen Dichtung» alles zusammentrug und auf 56 eng beschriebenen Seiten aufführte, was von und über Zschokke in Buchform, Broschüren oder Zeitschriften erschienen war,19 darunter auch, was Zschokke als seine «Jugendsünden» bezeichnete und woran er nicht mehr erinnert werden wollte: sein dichterisches Werk vor seinem 25. Lebensjahr.20 Zwar hatte schon 1850 sein Neffe Genthe, notabene gegen Zschokkes Willen, eine solche Zusammenstellung versucht,21 aber nur sehr lückenhaft. Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass Rosenbaum die bereitwillige Unterstützung der Familie Zschokke in Aarau in Anspruch nehmen konnte, die das ganze Schrifttum von und über ihren Ahnvater sammelte.
Aber selbst Goedekes Grundriss war nicht vollständig: Es fehlen die meisten kleineren Arbeiten Zschokkes, seine Aufsätze in Zeitungen und Zeitschriften, seine Reden, handschriftlichen Gutachten und Berichte als Beamter der Helvetik, im Forst- und Bergwesen, als Tagsatzungsgesandter, Grossratsmitglied und Mitglied zahlreicher Kommissionen und privater Gesellschaften, die meisten seiner Gedichte, die Kompositionen und, was die Sekundärliteratur betrifft, die Zeitungsartikel, soweit es sich nicht um Rezensionen handelte. Weiterhin ist die Arbeit Rosenbaums und seiner Nachfolger für die Zschokke-Forschung unentbehrlich, aber seither wurden einige neue, grössere Werke Zschokkes entdeckt, so durch Carl Günther und neuerdings den Heidelberger Bücherforscher Adrian Braunbehrens zwei Erstlingsromane.22 Es wäre also an der Zeit, das Literaturverzeichnis auf den neusten Stand zu bringen, sich vielleicht auch um eine textkritische Neuausgabe seiner Werke zu bemühen.
In der Nachfolge Bodmers und Rosenbaums begannen auch Mitglieder der Familie Zschokke, die über die bedeutendste Materialsammlung zu Zschokke verfügte, einen Beitrag an die Revision seiner Lebensgeschichte zu leisten. Eine eigentliche Pionierarbeit erbrachte Carl Günther (1890–1956), als er während des Ersten Weltkriegs für seine Dissertation über «Heinrich Zschokkes Jugend- und Bildungsjahre» unabhängig von der «Selbstschau» Nachforschungen betrieb und allen noch zugänglichen Spuren nachging.23 Bald stellte auch er fest, dass die «Selbstschau» viele falsche und irreführende Aussagen enthielt, und kommentierte dies so: «Zschokke vermochte sich nicht mehr genau aller Daten zu erinnern, seine Phantasie hatte, was ihm noch gegenwärtig war, umgearbeitet, die Forderung einer streng historischen Darstellung war ihm fremd: so rekonstruierte er sein Leben, unbekümmert darum, ob die Rekonstruktion auch überall der geschichtlichen Wirklichkeit entspreche. Dass aber irgendwo bewusste Fälschung vorliege, ist nicht wahrscheinlich.»24
Günther benutzte alle ihm zugänglichen Archive, wo er Dokumente vermutete, las, wie schon Hans Bodmer vor ihm, was Zschokke geschrieben hatte oder was über ihn erschienen war. Er benutzte dazu auch die reichhaltige Sammlung seines Onkels Ernst Zschokke (1864–1937) in Aarau, der sich in der Nachfolge von Emil Zschokke, seinem Grossvater, als Sachwalter von Heinrich Zschokkes schriftlichem Nachlass sah. Günther war zudem vertraut mit dem in Aarau liegenden Briefwechsel Zschokkes und stand in Korrespondenz und im Austausch mit privaten Sammlern von Zschokkiana, Nachfahren von Freunden oder Verwandten Zschokkes und mit Lokalhistorikern.25
Auch Günther hatte ein Zeitfenster der Zschokkeforschung zur Verfügung und ging wohl davon aus, dass andere seine Schilderung über das Jahr 1798 hinaus weiterführen würden. Wie jeder Forscher hoffte er, mit seiner Arbeit einen Stein ins Rollen gebracht zu haben und zu weiteren Studien anzuregen. Tatsächlich übernahm Helmut Zschokke (1908–1978), Nachkomme aus einem anderen Zweig der zahlreichen Familie, die Aufgabe, das fast unüberschaubare Material der Helvetik in öffentlichen und privaten Archiven zu sichten und die Jahre 1798 bis 1801 zu beschreiben.26 Die Herausgabe seiner umfangreichen und fast fertig gestellten Dissertation wurde vereitelt, als er wegen seines Engagements im spanischen Bürgerkrieg 1938 in der Schweiz zu einer längeren Gefängnisstrafe verurteilt und von der Universität Zürich relegiert wurde.