Buch lesen: «Der Goldvogel»
Werner Gerl
DER
GOLD
VOGEL
Werner Gerl ist Kabarettist, Satiriker und Krimi-Autor. 2010 erschien »Mordsgaudi«, eine Sammlung bayerischer Kurzkrimis, 2011 Tischlers erster Fall »Eine Art Serienmörder». 2013 wird seine bayerische Krimi-Komödie »Der Schweinskopfmörder« am Münchner Volkskunsttheater uraufgeführt. Werner Gerl ist Mitglied im Syndikat und Mitveranstalter des Münchner Krimitags.
Handlung und Personen sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Ereignissen oder Personen wäre rein zufällig.
1. Auflage 2013
Cover und grafische Gestaltung: pinxit
© Hirschkäfer Verlag, München 2013
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Verarbeitung in elektronischen Systemen.
ISBN 978-3-940839-32-9
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Inhalt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
01 Als Kemal Üzli erwachte, hatte er sofort das ungute Gefühl, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Genau genommen war das bei ihm der Regelfall. Denn immer schlug der Blitz ein, dieser grelle Blitz, der die ganze bunte Welt des Traumes in ein weißes Nichts verwandelte. Seit drei Jahren, seit jenem schicksalshaften, schwülen Junitag, als sich Kemal die Laufschuhe band, um seine weite Runde im Perlacher Forst zu drehen.
Er, der Modell-Athlet, der ein Sport-Gymnasium absolviert hatte und fit wie ein ganzes Regal Turnschuhe war, kannte kein schlechtes Wetter. Er lief bei Schnee und Wind, bei Regen und brüllender Hitze. Nur vor einem Gewitter hatte auch er Respekt. Doch dieses zog so jäh und unvermutet auf, dass er es nicht einmal mehr bis zum Stadtrand schaffte.
Der Blitz schlug rund zehn Meter vor ihm ein. Ein Ausläufer traf ihn und schleuderte ihn zu Boden. Ohnmächtig lag er stundenlang auf dem regengetränkten Waldboden, bis ihn ein Jäger fand und ins Krankenhaus fuhr. Nur seiner guten Konstitution hatte er sein Überleben zu verdanken. Doch unbeschadet überlebte er diese persönliche Naturkatastrophe nicht. Er ließ sein Kurzzeitgedächtnis im Perlacher Forst. Während er sich also an jeden Schülerstreich, an seinen ersten Rausch, da war er bereits volljährig, und an die erste Nacht mit Seda erinnern konnte, war jeder vergangene Tag mit dem nächsten Sonnenaufgang ausradiert wie eine misslungene Zeichnung.
So wurde jeder Morgen zu einem neuen Abenteuer und zu einer Suche nach dem Gestern. Als Kemal Üzli an jenem Apriltag erwachte, spürte er, dass etwas nicht in Ordnung war. Seine rechte Wange war geschwollen. Schlurfenden Schrittes ging er ins Bad und betrachtete sich eingehend im Spiegel. Er hatte zweifelsfrei einen Schlag abbekommen. Das war für einen Kickboxer nichts Ungewöhnliches, nur trug er beim Training einen Kopfschutz, es musste also in seiner Freizeit gewesen sein, vermutlich in der Nacht, da die Wunde unbehandelt war. Er schmierte ein wenig Bepanthen auf die Schwellung, nachdem er sich das Gesicht eiskalt gewaschen hatte.
Nun fühlte er sich frisch. Der Tag konnte beginnen. Doch als er energiegeladen zurück in das Schlafzimmer ging, war ihm, als würde ihn wieder ein Blitz streifen. Seine Kleidung, die er achtlos auf den Boden geworfen hatte, war blutverschmiert, zumindest die Jacke und die ausgewaschene Jeans. Aber auch auf dem blauen Adidas-Pullover befanden sich dunkle Spritzer.
Er kniete sich nieder und nahm seine Hose in die Hand. Es war zweifellos Blut. Die Kniepartie war jedoch auch voller Dreck. Offensichtlich hatte er am Boden gelegen, vermutlich hatte er gekämpft. Doch nicht das kleinste Bild wollte durch die weiße Wand, die den Morgen vom gestrigen Tag abtrennte, kommen. Die Erinnerung an einen Kampf war völlig ausgelöscht.
Schwer atmend ging er in die Wohnküche, um sich einen Kaffee zu machen. Auf dem rechteckigen Küchentisch aus Nussbaumholz lagen sein Block und ein FC Bayern-Kugelschreiber. Er notierte oft wichtige Ereignisse des Tages, bevor er zu Bett ging, um diese nicht zu vergessen. Von weitem sah er, dass er sich offensichtlich auch in der letzten Nacht noch ein paar Notizen gemacht hatte. Fast ängstlich blickte er auf den Zettel. Ein eisiger Schauer durchzuckte ihn, als er den Text las: »Habe vielleicht Mord gesehen.«
02 Hauptkommissarin Barbara Tischler stand am Fenster und blickte gedankenverloren über die Dächer Münchens. Sie nippte an ihrem Kaffee und genoss den ruhigen Morgen. Der tiefblaue Aprilhimmel hatte etwas Beruhigendes, wobei ihr Berufsleben in diesen Tagen nicht gerade aufregend war. Es wurde einfach zu wenig gemordet in dieser Stadt, ein Umstand, der für die Mitarbeiter des Dezernats für Tötungsdelikte den Vorteil mit sich brachte, dass sie auch einmal ihre ruhigen Stunden hatten.
Den einzigen Fall der letzten Wochen hatte man Barbara Tischler wieder weggenommen. Nicht weil sie nachlässig recherchiert oder weil sie – was bisweilen schon vorgekommen war – etwas arg robuste Methoden angewandt hätte. Nein, den Mordfall Olga Sibowska hatten die Kollegen vom LKA übernommen, da er ihrer Meinung nach von der Russenmafia begangen worden war. Und organisierte Kriminalität, zumindest wenn es sich um ein derartiges Kapitalverbrechen handelte, fiel in deren Zuständigkeitsbereich.
Barbara Tischler gab den Fall freilich ungern ab. Ihr war, als müsste sie ein spannendes Buch nach drei Kapiteln in der Bibliothek zurückgeben, ohne den Schluss zu erfahren. Sicher, sie konnte aufmerksam Zeitung lesen, aber dies konnte weder ihre Neugier noch ihren Ehrgeiz befriedigen, zumal der Fall äußerst brisant war.
Olga Sibowska war die Sekretärin von Titus Wallenberg, einem Staatsanwalt, der sich als Mafiajäger einen Namen gemacht hatte. Unerbittlich bekämpfte dieser das organisierte Verbrechen, die chinesischen Triaden genauso wie die weißblauen Abordnungen von Camorra oder Cosa Nostra. Seinen Fokus hatte er jedoch auf die Russenmafia gerichtet.
Offensichtlich versuchte ein Ex-Offizier namens Boris Bylkow ein neues Kartell aufzubauen. Mit selbst für russische Verhältnisse brutalen Methoden hatte er zwei seiner Konkurrenten ausgeschaltet. Zumindest kursierten wüste Gerüchte über die Säuberungsaktionen des neuen Paten. Angeblich hatte er einen Gangsterboss aus Nowosibirsk an seine ausgehungerten Pittbulls verfüttert, den anderen hatte man gewissermaßen in seine Einzelteile zerlegt gefunden. Jeder griechische Torso war ein Gesamtkunstwerk dagegen. So war Bylkow zu einem der führenden russischen Paten in Süddeutschland aufgestiegen und ins Visier von Wallenberg geraten.
Offensichtlich hatte der Staatsanwalt einen gewaltigen Berg an Beweisen zusammengetragen, die für eine Anklage reichen sollten. Da wurde Olga Sibowska ermordet. Ende März fand man ihre Leiche im Büro des Staatsanwalts. Die Sekretärin war regelrecht hingerichtet worden. Man hatte ihr die Hände auf den Rücken gebunden und sie mit einem Genickschuss getötet. Das Kaliber, eine Makarov Deko, wie sie auch bei der Roten Armee verwendet wurde, deutete auf die Russenmafia hin. Besonders aber der Umstand, dass alle einschlägigen Akten verschwunden waren und mit ihnen Wallenbergs Computer.
Der Staatsanwalt hatte jedoch von allen Materialien Kopien in seinem Haus, auch von seiner Festplatte. Der Einbruch selbst schien also ein Fehlschlag gewesen zu sein, was die Gegenseite vermutlich bereits spitz bekommen hatte.
Welche Rolle aber spielte Olga Sibowska? Warum befand sie sich in der Kanzlei, als die Gangster einbrachen? Wallenberg selbst vermutete, dass seine Sekretärin von der Russenmafia gekauft worden war, um ihn auszuspionieren. Offensichtlich aber hatte sie Gewissensbisse bekommen oder vielleicht auch nur kalte Füße, weshalb sie aussteigen wollte. Die Konsequenz in diesem harten Geschäft war die Hinrichtung per Genickschuss.
Barbara Tischler hatte diese Version nie wirklich überzeugt. Warum sollte die Sekretärin für einen letzten Verrat in das Büro des Staatsanwalts gehen und ihr Leben riskieren? Umgekehrt, warum sollten die Gangster ein so überdeutliches Schuldgeständnis hinterlassen? Sollte Wallenberg, der Mafiajäger, eingeschüchtert werden? Auch das leuchtete der Kommissarin nicht wirklich ein, zumal Bylkow ein Stratege war, der mit kühlem Kopf seine Expansionspläne entwarf. Er war bemüht, so wenig Spuren wie möglich zu hinterlassen. Auch deshalb stand er im Ruf, seine Opfer an die Hunde zu verfüttern. Die Knochen konnte man verbrennen oder anderweitig entsorgen. Insgesamt war die Beweislage gegen den Ex-Offizier also dünn. Manche hielten ihn sogar nur für ein Phantom, eine Legende, die als Erklärung für einen eskalierenden Bandenkrieg in Bayern herhalten sollte.
Zu gern wäre Barbara Tischler diesem Phantom hinterhergejagt, doch diesen Job durften nun die Kollegen vom LKA erledigen. Die Kommissarin selbst hatte in den letzten Tagen nur Schreibkram zu erledigen. Langweilige, aber nötige Büroarbeit. Ihre To-do-Liste war an jenem Aprilmorgen aber bereits nahezu abgearbeitet. Deshalb stand sie gedankenversunken, fast schon ein wenig gelangweilt am Fenster. Ja, es waren ruhige Tage im Dezernat für Tötungsdelikte. In dieser schönen Stadt wurde einfach zu wenig gemordet. Dies sollte sich in dieser Woche allerdings gehörig ändern.
Die Stille in Tischlers engem Büro nahm ein jähes Ende, als Ralf Mangel, ihr engster Mitarbeiter, ohne zu klopfen hereinplatzte. Zu seiner Entschuldigung wedelte er mit einer blauen Tüte von Rischart, einer der besten Bäckereien Münchens.
»Servus Barbara, magst eine Butterbrezn?«, fragte er schmatzend.
»Gern. Ich hatte heute bislang nur flüssiges Frühstück.«
»Schaust du wieder auf deine Linie?«
»Schmarrer. Ich habe in den Kühlschrank und in den Brotkasten geschaut und beide haben mich angegähnt. Ich leide unter akutem Shopping-Alzheimer.«
»Du meinst, du hast das Einkaufen vergessen?«, entgegnete Mangel unsicher. Mit der Ironie seiner Chefin stand er gelegentlich auf Kriegsfuß.
»Bingo. Was machen wir heute mit dem angebrochenen Vormittag?«, fragte Tischler und biss in ihre saftige Breze. »Schießübungen? Oder spielen wir eine Runde aufgedeckten Schafkopf?«
»Wir könnten an die Säbener Straße fahren zum Bayern-Training. Die spielen zurzeit echt kriminell, da könnten schon mal zwei Kommissare vorbeischauen.«
In diesem Moment klopfte es an der Tür.
»Kundschaft. Die hätte jetzt auch noch warten können, bis ich mit meiner Breze fertig bin«, murrte Tischler und packte den Rest zurück in die Tüte.
Der Mann, der ohne Aufforderung eintrat, war keine alltägliche Erscheinung. Das Schwarz seiner Haare war zumindest nachgetönt und bildete einen denkbar starken Kontrast zu seiner blässlichen Gesichtshaut. Seine eingefallenen Wangen überwucherte ein stoppeliger Wochenbart, der in etwa so lang war wie die kurzrasierte linke Schädelhälfte. Die restliche Frisur sah jedoch nicht nach Fremdenlegionär aus, sondern eher nach Freak. Ein widerspenstiger Haarwust bildete eine Arkade vom Scheitelansatz bis fast zur rechten Schulter.
Auch sein Körper wirkte abgemagert, nachgerade anorektisch, soweit man dies überhaupt beurteilen konnte, zu schlaff hing das blau-weiße Baumwollhemd an dem Mann. Dagegen saß der schwarze Anzug maßgenau. Ein Stilbruch gegenüber dem Hemd, das mehr nach Sträflingskleidung aussah, denn Sakko und Hose waren aus edlem Zwirn, allerdings abgetragen.
In scheinbarem Widerspruch zu dem schlaksigen, unterernährt wirkenden Körper standen die kräftigen Hände. Sie waren mit Schwielen und dicken Hornhäuten überzogen, die Handrücken durchfurchten wülstige Adern wie blaue Schlangen. Dieser Mann, so eingefallen er auf den ersten Blick wirkte, hatte die Kraft eines Bären in seinen Händen.
»Polonius«, stellte er sich kurz vor und ließ sich unaufgefordert in den freien Besucherstuhl fallen. Er lag mehr, als dass er saß und schlug seine dürren Beine übereinander.
»Was kann ich für sie tun, Herr Polonius?«, fragte Tischler, die sich ebenfalls setzte, um auf Augenhöhe mit ihrem Gesprächspartner zu sein.
»Einfach nur Polonius, ohne Herr.«
»Ist das ein Künstlername?«, fragte Mangel nach.
»Scheint so«, entgegnete Polonius mit ausdrucksloser Stimme. »Hören Sie«, hob er an und blickte Tischler direkt in die Augen, »ich habe da etwas, das Sie vielleicht interessieren könnte. Und zwar einen Brief, einen seltsamen Brief. Und von einer seltsamen Absenderin, nämlich von Olga Sibowska.«
»Der ermordeten Sekretärin? Wie ist das möglich?«, fragte Mangel erstaunt.
»Na, wenn Sie ihn nicht aus dem Jenseits geschickt hat, wird sie ihn wohl vor ihrem Tod geschrieben haben«, meinte Tischler lakonisch.
»Das klingt plausibel. Ihre Formulierung greift jedoch nicht.«
Fragend blickten Mangel und Tischler Polonius an. Dieser drehte sich auf dem Stuhl, zog aus seiner Sakkoinnentasche ein Kuvert und legte es auf den Schreibtisch. »Sehen Sie selbst. Geschrieben hat sie nichts vor ihrem Tod.«
Tischler zog vorsichtshalber erst einmal Handschuhe an, bevor sie den Brief an sich nahm. Dann studierte sie den Umschlag. Er war an Polonius adressiert, als Absender stand Olga Sibowskas Name mit Privatadresse in Milbertshofen im linken oberen Eck. Die Handschrift war regelmäßig, die Buchstaben rund, fast schon ausgebeult. Das Kuvert wurde eindeutig von einer Frau beschrieben. Ob es Olga Sibowskas Handschrift war, musste ein Vergleich ergeben.
Neugierig zog Tischler den Brief aus dem Umschlag. Dann verstand sie, was Polonius meinte: der Brief war leer.
»Olga Sibowska hat Ihnen ein weißes Blatt Papier geschickt?«
Polonius zuckte mit den Achseln. »Sieht danach aus.«
Tischler öffnete eine Schublade und zog eine Plastiktüte heraus, um darin das Beweisstück aufzubewahren. »Das Blatt ist zwar jetzt mit Ihren Fingerabdrücken versehen, aber vielleicht können die Kollegen noch ein paar Spuren finden.« Dann studierte die Kommissarin den Umschlag noch einmal genau. »Der Brief wurde am 22. März abgestempelt.«
»Das ist der Tag, an dem sie ermordet wurde«, sagte Mangel.
»Genau, Ralf, also keine Botschaft aus dem Jenseits. Herr äh, nein Polonius, haben Sie eine Idee, warum Ihnen Frau Sibowska ein leeres Blatt schickt?«
Polonius verzog leicht die Mundwinkel und fuhr sich mit seinen knochigen Fingern durch das Haar, um den Scheitel wieder in Form zu bringen. »Keine Ahnung. Ich sagte ja, es ist ein seltsamer Brief.«
»In welcher Beziehung standen Sie zu Olga Sibowska?«, fragte Tischler nach.
»Gott, in welcher Beziehung.« Polonius atmete schwer aus und blickte gedankenverloren zur Decke. »Sie war meine Schülerin.«
»Und was haben Sie ihr beigebracht?« Stilberatung ganz sicher nicht, dachte sich Tischler.
»Kunst«, meinte Polonius lapidar. Er war offensichtlich der Meinung, man müsse ihm den Künstler bereits aus drei Meilen Entfernung ansehen. »Ich bin Bildhauer und Schnitzer. Nicht der Schlechteste, aber die Zeiten sind hart. Die Leute geben 100.000 Euro für einen Porsche aus, aber die Kunst soll umsonst sein. Ich hasse diese Kisten. Sie verseuchen nicht nur die Umwelt, sondern auch den Geist.«
Polonius hatte bei seiner kleinen Suada einen starren Blick und eine eindringliche Stimme. Tischler sah ihm kurze Zeit erstaunt zu, wie er sich in seiner Zivilisationskritik erging, bevor sie ihn unterbrach.
»Polonius, wollen Sie mir damit erklären, dass Sie Unterricht erteilen, weil Sie vom Verkauf Ihrer Kunstwerke nicht leben können?«
»Das sage ich doch die ganze Zeit«, antwortete der Künstler patzig.
»Und was genau hat Olga Sibowska bei Ihnen gemacht?«
»Sie nahm an einem Abendkurs teil. Olga war talentiert, handwerklich, meine ich, aber künstlerisch eher blass. Ein wenig epigonal, ein bisschen Naturalismus, ein bisschen Klassizismus und eine Prise Arno Breker. Erstaunlicherweise.«
»War das nicht der Haus- und Hofbildhauer von Hitler?«, fragte Tischler erstaunt nach.
»Ja, aber kein schlechter Mann. Außerdem hat er Peter Suhrkamp gerettet und wahrscheinlich auch Picasso. Ja, Olga hatte dieses Kantige, Heroisierende der Nazi-Kunst, die freilich dem sowjetischen Realismus nicht unähnlich war.«
»Beenden wir die Kunstgeschichtelektion, Polonius. Sagen Sie mir einfach, was Olga Sibowska in Ihrem Kurs machte.« Die Kommissarin war langsam ungeduldig geworden, auch wenn sie im Prinzip keine Arbeit hatte an diesem schönen Aprilmorgen.
»Das versuche ich Ihnen gerade zu erklären. Und dafür muss ich auf ihren Stil eingehen.«
Tischler sah den Künstler unterkühlt an.
»Olga schnitzte Figuren. Einen schreienden Menschen, eine abstrakte Form und einen Adler, wenn Sies genau wissen wollen. Der Kurs ging von Mitte November bis Mitte März, ist also aus, erledigt. Und Olga war die beste Studentin. Mit Abstand sogar.«
»Das glaube ich Ihnen gern«, nickte Tischler, »was mich aber noch wundert: Warum kommen Sie erst jetzt mit dem Brief? Ich meine, wir haben heute den 11. April. Der Brief wurde also vor knapp drei Wochen aufgegeben.«
Polonius lehnte sich zurück und fuhr sich durch das Haar. »Ich war im Ausland, genauer gesagt in Teplice. Ich hatte zu tun.«
»Eine Ausstellung?«
»Nein«, antwortete Polonius kurz angebunden. Der ansonsten so redselige Künstler wollte offensichtlich für sich behalten, was er in seiner alten Heimat zu erledigen hatte.
»Wieso kommen Sie eigentlich zu mir, Polonius?«
»Weil ich Ihren Namen noch in einem Zeitungsartikel gelesen habe. Müsste am Tag meiner Abreise gewesen sein. Aber was soll die Frage? Leiten Sie nicht die Ermittlungen?«
»Nein«, erklärte Tischler. »Den Fall hat das LKA übernommen. Ich leite Ihren Brief aber weiter, keine Angst. Eine Frage noch: In welcher Beziehung standen Sie privat zu Olga Sibowska?«
»In einer rein künstlerischen«, antwortete Polonius etwas beleidigt.
»Warum schickt sie Ihnen dann einen Brief, auch wenn dieser leer ist?«
»Nun«, Polonius hatte ein trotziges Gesicht aufgesetzt, »es gab eine kurze Zeit, in der uns mehr als die Liebe zur Bildhauerei verband. Aber das ist lange her.«
»Warum ist die Beziehung auseinandergegangen, wenn ich fragen darf? Olga Sibowska war meines Wissens weder liiert noch verheiratet.«
»Das stimmt. Aber sie hatte einen Geliebten. Leider vertrat sie diese kleinbürgerliche Vorstellung, dass man nur einen Sexualpartner haben dürfe. Welch groteske, ja widernatürliche Beschneidung der Sexualität.«
»Und wer war dieser Geliebte?« Tischler war neugierig geworden. Man war nämlich davon ausgegangen, dass die ermordete Sekretärin Single war.
»Das entzieht sich meiner Kenntnis. Sie wollte nicht darüber sprechen und wirklich interessiert hat es mich auch nicht.« Mit diesen Worten stand Polonius auf. Er straffte sein Sakko und bändigte noch einmal seine Strähne. »Die Kunst ruft, Frau Kommissarin.« Mit einer lässigen, fast despektierlichen Geste verabschiedete er sich.
»Was hältst du von der Sache, Ralf?«, fragte Tischler und blickte den Brief an.
»Keinen Schimmer, aber wir sollten ihn mal im Labor untersuchen lassen.«
»Ich weiß, was du denkst. Der Brief könnte mit einer Geheimtinte beschriftet sein und die München-Mafia-Verschwörung aufdecken.«
»So in etwa«, lachte Mangel leicht verlegen.
»Auf gehts. Der Brief wandert erst einmal in unser Labor. Das LKA bekommt dann die Ergebnisse präsentiert.«