Die Zeit berühren

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Bahnhof Friedrichstraße
Berlin 1956

Der S-Bahn-Zug hielt lange, länger als normal, und zweimal schon hatten wir die Ansage durch die Halle tönen hören: »Letzter Bahnhof im Demokratischen Sektor.« Niemand sprach, die Fahrgäste blickten unruhig, und dann sahen wir die beiden Blauuniformierten durch den Wagen gehen. Sie mußten sich durchzwängen und in der Stille klangen ihre Stimmen laut. Stumm hielten die Leute ihre Ausweise hin, und irgendwo raunte jemand »die Schinder«, doch wer das raunte, war nicht auszumachen. Noch standen die Türen offen, noch rollte der Zug nicht und jetzt zwängten sich zwei Koffer schleppende Männer nach draußen und tauchten in die Menge auf dem Bahnsteig unter.

Die Frau mit dem Kinderwagen bei der vorderen Tür wirkte versunken und in sich gekehrt. Es war, als gingen sie die Vorgänge nichts an. Mechanisch wippte sie den Kinderkorb und strich dabei mit der Hand übers Deckbett. Ebenso mechanisch holte sie ihren Ausweis aus der Handtasche und streckte ihn zur Kontrolle vor. Sie war nicht mehr jung, konnte die Mutter eines Babys kaum sein. Auch dem Blauuniformierten fiel das auf. Ich sah, wie er stutzte, ihren Ausweis genauer prüfte als die anderen, ihn durchblätterte und dann beschlagnahmte.

»Bitte kommen Sie mit.«

Die Frau reagierte nicht. Es war, als verstünde sie nichts. Sie wippte den Korb und starrte ins Leere. Im fahlen Licht des Wagens sah sie blaß aus, blasser jetzt, wie mir schien, und ihr Gesicht wirkte versteinert.

»Bitte kommen Sie mit.«

Wieder raunte es »Schinder« von irgendwo. Zu erkennen war noch immer nicht, wer das sagte. Die Frau blieb stehen und hielt den Kinderwagen, als wolle man ihn ihr entreißen.

»Verlassen Sie den Zug!«

Die Frau drehte den Kopf weg, zog die Schultern ein, sie wehrte sich, ihr ganzer Körper wehrte sich, kein Wort aber kam ihr über die Lippen. Ich sah den Uniformierten in den Kinderwagen greifen, und dann hörte ich, hörten wir alle die Frau schreien. Ihr Schrei gellte durch den Wagen.

»Hände weg!«

Noch stand der Zug. Und dann sahen wir den Uniformierten etwas weißes, gefiedertes aus dem Kinderwagen zerren. Die Gans, die er am Hals hochhielt, baumelte schwer in seiner Hand.

»Verlassen Sie den Zug!«

Als wir endlich fuhren, sah ich, wie alle, zum Bahnsteig hinaus.

Langsam glitten wir vorbei an der Frau mit dem Kinderwagen und dem Mann in der Uniform, und schon nach wenigen Metern waren sie nicht mehr zu erkennen.

Truppentransporter Dunera
Nach Australien 1940

Unten, in den Laderäumen des Schiffes, das uns über die Meere von Liverpool nach Australien brachte, sahen wir keine Sonne. Wir hausten im Zwielicht der Notlampen, und die Luft war schal, verbraucht vom Atem zweitausend Internierter. Als nach zwei Wochen die Posten einen von uns an Deck holten, und er nicht wiederkam, schätzten wir ihn glücklich. Er war ein stiller junger Mann aus Wien, mit blauen Augen, blondem Kraushaar, und daß er Sänger war, ein Schlagersänger, der sich Ray Martin nannte, bedeutete mir nichts. Ich hatte den Namen nie nennen und ihn nie singen hören. Für mich war er nicht mehr und nicht weniger als einer, der unser Schicksal geteilt hatte – die Stürme der Biskaya, den Angriff des deutschen U-Boots, und ich gönnte ihm sein Glück und vergaß ihn. Was er da oben trieb und was ihm das einbrachte, ging mich nichts an. Er fehlte und das genügte mir. Dann aber kam es anders.

Als die Posten zum ersten Mal nach all den Wochen über uns die Luken öffneten, vor Takoradi war es, an der südafrikanischen Küste, wir endlich freier atmeten und die Sonne sahen, hörten wir ihn singen. Oben an Deck sang er für die Soldaten, die uns angebrüllt, geschlagen und beraubt hatten – auch mich.

South of the border, down Mexico way – er sang, klangrein und melodisch, und das Lied, ein Schlager jener Zeit, drang in uns ein. Sehnsuchtsvoll hörten wir hin, und das Lied trug uns fort von dem Schiff in andere Welten, trug mich zurück zu einer Nacht im Zelt und dem Mädchen mit dem Kofferradio im Zelt, jener Schönen, die ich bewunderte und nicht zu berühren wagte – South of the border, down Mexico way. Er sang, Ray Martin aus Wien, und seine helle, schöne Stimme klang uns im Ohr.

Plötzlich schlägt einer mit dem Blechnapf gegen einen Stahlträger, dann ein zweiter, ein dritter, ein vierter, bald tun es viele, bald ist da keiner mehr, der nicht mit Blechgeschirr auf Stahl schlägt. Unzählige Blechnäpfe hämmern auf Stahl, das Schiff dröhnt, und der Lärm übertönt die Stimme des Sängers. Wir schlagen auf Stahl, schlagen und schlagen, und urplötzlich wird es dunkel über uns, dunkel am hellichten Tag, und wir ahnen, alle ahnen wir, daß fortan die Soldaten die Luken nicht wieder öffnen und wir ins Zwielicht der Notlampen verdammt bleiben werden bis hin zu australischen Küsten.

Prinz-Albrecht-Straße
Duisburg 1989

Da steht er, und ich erkenne ihn gleich, obwohl er Arbeitskleidung trägt, Overalls und Gummistiefel, und man ihn für den Gärtner halten könnte. Auch der undurchdringliche Blick, mit dem er mich, vom Laubharken aufblickend, durch die goldumfaßten Brillengläser mustert, ist mir noch wach in Erinnerung. So musterte er mich an jenem Novembertag vor dreißig Jahren, als ich ins Haus gelangt war und auf die Möbel zeigte, die Bilder an den Wänden, und ihm den Spottpreis vorhielt, den im Krieg sein Schwiegervater meinem Vater für das Haus und alles, was dazu gehörte, angeboten hatte – ein paar lumpige Tausender, die dann in die braune Staatskasse geflossen, ehe die Eltern nach Auschwitz verschleppt worden waren.

Zorn packt mich wie damals und er spürt es und wie damals glaube ich in seinen Augen einen Schatten von Furcht zu erkennen, die dann in kalten Trotz umschlägt. Er weiß sich im Recht, fühlt sich eingebettet in eine Ordnung, der ich heute so wenig wie damals beikommen kann. Ich merke, daß er mich abtut, und in der Art, wie er sich wieder seiner Arbeit zuwendet, liegt etwas Verächtliches, Höhnisches. Langsam setze ich das Auto, in dem ich gekommen bin, von der Bordsteinkante ab und fahre davon.

Im Geiste sehe ich ihn weiter im Vorgarten des Elternhauses Laub harken, sehe ihn Körbe füllen, bis das letzte Blatt verschwunden ist und er nach getaner Arbeit ins Haus zurückkehrt. Ich sehe ihn die Gummistiefel abstreifen, die Overalls, ihn in Socken die Treppe nehmen und ins Badezimmer verschwinden, sehe ihn dort, ein nackter Mann, weißhäutig und blaß, die Goldbrille vor den Augen. Er legt die Brille ab, tastet sich zur Dusche vor, wäscht sich, trocknet sich ab, kleidet sich an im Schlafzimmer der Eltern. Bald schon sitzt er beim Sonntagsbraten im Eßzimmer und später am Nachmittag wird er im Biedermeierzimmer den Kaffee zu sich nehmen.

Um diese Zeit, noch ist es Tag, doch trüb schon und diesig jetzt im November, stehe ich wieder vor dem Elternhaus – was treibt mich noch einmal hierher, warum widerstehe ich dem nicht? Es wird, das schwöre ich mir, das letzte Mal sein, und gegen die Mauer des Vorgartens gelehnt, bin ich von der Vorstellung besessen, daß meine Gegenwart durch das Gestein ins Haus dringt. Gleich werden sich die Gardinen rühren, wird er sich hinter dem Fenster zeigen, mich hier stehen sehen und es wird ihn treffen. Nichts aber regt sich im Haus. Sonntäglich still liegt die Straße da, bis nach einer Weile aus dem stetig sinkenden Nebel ein Auto sich nähert. Es parkt gegenüber dem Haus, die Scheinwerfer gehen aus und zwei Männer und eine Frau überqueren die Straße. Sie plaudern lachend, verstummen als sie mich sehen und mustern mich befremdet – was will der dort? Das frage ich mich nun selbst, und ich wende mich ab, tauche unter im Nebel – wie ein Täter, der den Tatort flieht.

Rheindampfer
Düsseldorf 1989

Wie hieß das Schiff, dort unten am Kai vor der Altstadt – war es Diana? Ich weiß nur, es war geräumig wie die anderen, ein Fahrgastschiff mit großen Fenstern, durch die ich Männer an Tischen sitzen sah. Es war spätnachmittags am Sonntag, und sie saßen da, tranken Bier aus Büchsen, rauchten und der Rauch lag im Raum wie eine Wolke. Irgendwo lief bunt ein Fernseher und eine Gruppe von Männern starrte stumm auf die Bilder. Sollte ich mich als Reporter ausgeben? Mir schien es einfacher zu behaupten, daß ich unter den hier Beherbergten einen Verwandten suchte, einen Karl Rademacher aus Plauen. Die Frau vom Roten Kreuz, die am Eingang Dienst tat, nahm das auch hin und schickte mich ins Büro zu dem Mann, der die Kartei führte. Karl Rademacher, wann soll der eingetroffen sein – seit dem 9. November oder davor über Prag oder Budapest? Ich entschied mich für einen Tag im November und mein lockeres Rheinländisch, Sprache meiner Kindheit, machte ihn zugänglich. Bereitwillig blätterte er die Kartei durch. Nein, einen Karl Rademacher gäbe es nicht. Doch Moment mal, in einem Abstellraum unter Deck sei noch ein zweiter Karteikasten, der mit den Abgängen. Ob ich kurz warten wolle?

Während er dorthin verschwand, ging ich durchs Schiff. Die Frau hinterm Eingang blickte fragend auf. Gleich würde ich es erfahren, sagte ich ihr, und da ließ sie mich in den Gemeinschaftsraum. Es war warm drinnen und die Luft stickig. Kurzerhand setzte ich mich an den Tisch neben der Flügeltür. Der Mann dort mit der Bierbüchse war älter als die meisten ringsum, vierzig etwa, mit kleinen Augen im runden Gesicht. Meine Frage nach Karl Rademacher überforderte ihn.

»Kenne hier keinen und will auch nicht«, sagte er in breitem Sächsisch, und bald hatte ich heraus, daß er aus Radeberg stammte, Fleischer war und er sich, seit die Mutter tödlich verunglückt war, niemandem und nichts zugehörig fühlte – auch Radeberg nicht. Von dort war er verschwunden, sobald das möglich wurde, und nun sei er schon drei Wochen auf dem Schiff und bei den letzten paar Mark vom Begrüßungsgeld.

 

»Und dann?« fragte ich.

Mit klobiger Hand beschrieb er einen Kreis. »Immer so weiter«, sagte er.

Dabei meinte er seine tägliche Arbeitssuche in der Umgebung, von Fleischerei zu Fleischerei und zurück auf das Schiff, wo er in der Viermannkajüte seine Koje hatte und es Essen gab.

»McDonald's«, sagte er. »Pappteller und Plaste.«

»Lebt sich doch einigermaßen«, entgegnete ich.

»Schon richtig«, sagte er. »Bloß Krach ist auch viel, und Schlägereien. Kommt immer auch mal die Polizei, wegen Ladendiebstahl und so. Kann ja nicht ausbleiben. Aber ich halt mich da raus.«

Ich sagte ihm das von dem zweiten Karteikasten und woher ich das wüßte. »Müssen ja auch Abgänge gewesen sein.«

»Abgänge sind«, sagte er. »Bloß ich bin noch hier.«

Er sagte es stumpf, mit wenig Hoffnung, und flüchtig tauchte auch Radeberg auf – wie von sehr fern aus einer anderen Welt.

»Hat ja keinen Sinn«, sagte er. »Die Mutter tot, die Wohnung weg. Was soll ich da?«

Ich schwieg, und hätte auch geschwiegen, wären wir nicht durch den Karteiverwalter vom Roten Kreuz unterbrochen worden.

»Einen Karl Rademacher aus Plauen hat es hier nie gegeben.«

»Na dann«, sagte ich zu dem Fleischer aus Radeberg.

»Na dann«, sagte auch er.

Wir gaben uns die Hand und ich ging.

Verlagshaus
Rostock 1964

»Diese Frau da mitten im Roman – so untypisch«, sagte der Verlagsleiter, »nichts fehlte, würde man sie streichen.« Und dann zitierte er Shdanow. »Typische Menschen in typischen Umständen.« Er schlug vor, das Kapitel noch einmal zu überprüfen, so wie es im Lektorat redigiert worden sei, also »ohne diese Verrückte, die Protestzettel an Bäume klebt.« Danach hieße es nur noch, die Kürzung abzuzeichnen und der Roman wäre im Plan.

Ich war die Auseinandersetzungen leid und bereit nachzugeben. Zwei Jahre hatte ich an dem Buch gearbeitet, ich wollte es verlegt sehen, und die Frau, die sich dagegen auflehnte, seit jenem 13. August von ihrem bei der Großmutter in Westberlin gebliebenen Töchterchen getrennt zu sein, gehörte tatsächlich zu den Randfiguren. Sie schien entbehrlich. Auch wenn ich ihren Alleingang mit den Zetteln an Bäumen, für den sie belangt und verhaftet worden war, tilgte, bliebe der eigentliche Handlungsablauf intakt.

Wie lange würde ich brauchen, das Kapitel durchzugehen? fragte der Verlagsleiter. Ich sagte es ihm, er wies mir ein Zimmer zu, wo ich ungestört sein würde, und eine halbe Stunde später trafen wir uns wieder.

»Nun«, forderte er sanft. »Wie haben wir uns entschieden?«

Ich schwieg. Obwohl er meinen Widerstand spürte, blieb er zugänglich. Er lächelte, und lächelnd ließ er mich wissen, er verstünde, daß ich mich gegen den Eingriff sträubte. Und wieder zitierte er, Rowohlt diesmal, einen Verleger, den er schätzte.

»Wenn ein Manuskript ohne den Autor gekürzt wird, wird es nicht kürzer, sondern länger.«

Ich atmete auf. Er schien ein Einsehen gehabt zu haben. Schon wähnte ich den Roman samt der gestrichenen Seiten im Plan, und es traf mich hart, als ich sein Lächeln schwinden sah.

»Wir sind also übereingekommen, daß wir nicht übereinkommen können«, hörte ich ihn sagen.

»So wird es sein.«

»Meine Hochachtung«, sagte er. »Ein Autor mit Prinzipien.«

Zwei Jahre vergeblicher Mühe wegen drei lumpiger Seiten, dachte ich. Doch es gab kein Zurück. Mir ging das mausgraue Mädchen durch den Kopf, das ich am Morgen auf der Plattform des Zuges nach Rostock verstohlen hatte rauchen sehen, die glimmende Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger in der hohlen Hand. Knast? hatte ich sie gefragt und erstaunt hatte sie zurückgefragt, woher ich das wisse. Ich hatte ihr geantwortet, daß so nur rauche, wer nicht dabei erwischt werden wollte, und dann hatte sie zugegeben, heute erst aus dem Werkhof entlassen worden zu sein, auch den Grund für ihre Maßregelung hatte sie gesagt – das Ansprechen von Männern auf Bahnhöfen.

»Es muß an mir liegen, daß ich immer wieder an untypische Menschen in untypischen Umständen gerate«, sagte ich dem Verleger. »Da war dieses Mädchen auf dem Zug …«

Aber er hörte nicht mehr hin. Ihn drängten Termine, und kurze Zeit später hatte ich mein Manuskript zurück und war auf dem Weg zum Rostocker Bahnhof.

Suvastrand
Fidschi 1954

Weitab in der Sichel des Strandes war eine Gestalt erkennbar, ein Mann, der mit dem Rücken gegen den Stamm einer Palme lehnte. Still lehnte er dort und blickte hinaus aufs Meer, und verharrte still wie zuvor, nachdem er sich gesetzt hatte, die Arme um die Knie verschränkt. Beim Näherkommen dämpfte ich die Schritte. Er sah erst zu mir auf, als mein Schatten über ihn fiel. Nur seine hochgezogenen Brauen verrieten die Spur von Unwillen. Wir begrüßten uns und dann schwiegen wir. Er kam meiner Vorstellung von Jesus nah – ein Dreißigjähriger von schlankem Wuchs mit Haar, das bis zur Schulter reichte, die Stirn gewölbt und hoch, der Blick der Augen stetig und sinnlich der Mund. Wie er da nachsinnend saß, wölbten sich sanft die Lippen. Er war barfuß, zerschlissen die Jeans und rissig an den Knien, dem Khakihemd, das ihm offen über der Brust hing, fehlten die Ärmel.

»Es wird Wind aufkommen und in der Nacht ein Sturm«, hörte ich ihn sagen.

Da sah auch ich hinaus aufs Meer, das glatt war wie ein Spiegel, wolkenlos erstreckte sich der Himmel am Horizont, und schwach wie ein stehendes Gewässer floß das Meer über den Sand. Nicht ein Hauch bewegte die Palmblätter. Es war schwül schon am Morgen, jetzt war es schwüler, und die Sonne stach.

»Joseph Conrad«, sagte ich.

Er wiegte versonnen den Kopf und befragte die Bemerkung nicht.

»Oft gibt es solche Prophezeiungen in Conrads Erzählungen – ein erfahrener Seemann«, fuhr ich fort.

Dem stimmte er zu und wieder behauptete er, es würde stürmen in der Nacht. Ich wähnte, daß auch er ein erfahrener Seemann war.

»Das ist lange her, zehn Jahre.«

»Und seitdem nur noch ein Leben auf Suva?«

»Die Inseln sind mein Leben«, sagte er.

Mir wollte nicht in den Sinn, wie einer sich früh schon so entscheiden konnte.

»Mit zwanzig bestimmte der Krieg mein Leben«, sagte ich ihm.

»Das kommt vom Hingehen«, erwiderte er. »Ich ging nicht hin und werde es nie tun. Krieg ist Sünde, und was haben mir die Koreaner angetan, daß ich sie morde.«

»Dort ist kein Krieg mehr«, erklärte ich ihm. »Der Waffenstillstand liegt schon ein Jahr zurück.«

»Also ist Frieden.«

Ich nickte. Da blickte er wieder zum Meer hinaus, das ruhig war noch immer, ein weites stilles Wasser unter der Sonne.

»Und doch wird es stürmen heut Nacht.«

Ich begriff, was er mir sagen wollte und warum er lebte, wie er lebte.

Zirkus
Köln 1932

Schon die Anreise war voller Spannung, allein im D-Zug nach Köln, acht Jahre alt und mit dem Taschengeld von zwei Fünfmarkstücken im Brustbeutel. Um zwölf war ich am Duisburger Hauptbahnhof, obwohl ich nur eine Stunde zu fahren und erst spätnachmittags anzukommen brauchte – Sarrasani, Kindervorstellung im Zirkus, mit Tünnes und Schäl, mit Tigern, die durch brennende Reifen sprangen, wild brüllenden Löwen, rasanten Pferden und Elefanten, die nichts vergaßen und sich zu rächen verstanden für Unrecht, das Jahre zurücklag. Auf rollenden Rädern im Abteil durchlebte ich, was ich zu sehen erhoffte – den Mann, der Feuer spie und Schwerter schluckte, das Trio am fliegenden Trapez, die Menschenpyramide, den Seiltänzer und die Jongleure. Ich hörte die Zirkusmusik und das Knallen der Peitschen, das Hop-Hop der Artisten, wenn sie im Sägemehl Rad schlugen, und ich roch den Geruch unterm Zirkuszelt. Für das Erlebnis Zirkus wäre ich nicht bloß nach Köln, sondern quer durch Deutschland gereist.

Mit klopfendem Herzen, fürchtend, die besten Plätze könnten schon vergeben sein, stand ich Schlange vor der Kasse und empfand es als Triumph, als ich eine Logenkarte erstand. Lang vor der Zeit belegte ich meinen Platz. Als endlich die Lichter aufflammten und der Zirkusdirektor hoch auf weißem Roß in die Arena ritt, gab ich mich der Erfüllung meiner Träume hin. Ich jubelte mit Tünnes und Schäl, bangte für das Trio am Trapez, den Seiltänzer hoch überm Netz, und sah mich auf dem Rücken eines galoppierenden Pferdes, eines mächtigen Elefanten, und wenn der Löwe fauchend die Tatzen gegen den Dompteur hob, steigerte sich meine Bewunderung ins Grenzenlose.

Sarrasani. Jene Vorstellung in Köln im achten Jahr meines Lebens übertraf alle Erwartungen. Ich hatte Löwen und Tiger erwartet, Pferde, Elefanten und Artisten, nur sie nicht, die Seejungfer Annabella mit den strahlenden Augen und dem langen dunklen Haar. Es faszinierte mich, daß sie von der Hüfte abwärts ein Fisch und keine Frau war. Wie ein Fisch würde sie durch das Becken gleiten, in das die Arena jetzt verwandelt war, und als sie sich von der Plattform in die Tiefe fallen ließ, ich sie anmutig ins Wasser tauchen sah, war ich bezaubert.

Sie tauchte ein und schwamm im Kreis, und immer wenn sie lächelnd den Kopf hob, war mir, als täte sie das nur für mich. Weiß und lieblich zeichneten sich ihre Brüste unterm Wasser ab und ihr Haar floß überm Wasser wie ein Schleier. Nie würde ich sie vergessen können, und in jener Nacht noch und in den Nächten die folgten, glitt Annabella, die Seejungfer aus dem Zirkus in Köln, durch meine Träume.

Flughafen
San Francisco 1960

Nie zuvor hatte irgendwer meine Schuhe geputzt, von Kind an besorgte ich das selbst – im Duisburger Elternhaus, im englischen Internat, im australischen Lager, in der australischen Armee und später auch sonstwo in der Welt. Ich war bekannt für gewienertes Leder, blankes Schuhwerk, und ich kam mir seltsam vor, sehr fehl am Platz, als ich an jenem Morgen, kurz nach der Landung in San Francisco, meiner ersten Berührung mit Amerika, auf hohem Stuhl sitzend, auf den Schwarzen herunterblickte, der für billiges Geld meine Stiefel bearbeitete. Es war sehr früh noch, erst sieben, und ich war wohl sein erster Kunde. Er ließ sich Zeit, und ich hatte Zeit, und während er mit Schuhcreme, Lappen und Bürsten zu Werke ging, ein wahrhafter Jongleur seines Fachs, stellte er Fragen.

»Where are you from, Sir, and where are you headed?«

Auch dieses Sir, das er untertänig wiederholte, gab mir ein ungutes Gefühl. Er war alt genug, mein Vater zu sein, ein ergrauter Mann in zerschlissener Kleidung, die ihm am Leibe schlotterte. Ich wünschte, er möge schneller zurande kommen, damit ich meiner Wege gehen konnte. Wie lange sollte ich hier noch vor aller Augen sitzen und mich von ihm bedienen lassen. Mir war bald, als säße ich am Pranger, und da meine Stiefel längst makellos glänzten, versuchte ich, ihm klarzumachen, daß es gut sei.

»Leave off, it's fine!«

Er aber werkelte weiter – helle Creme, braune Creme, heftiges Bürsten und noch heftigeres Wienern mit knallendem Lappen. Ja, er knallte die gefalteten Lappen über das Leder, und am Ende gab er noch einen Spritzer Wasser dazu. Das Morgenlicht spiegelte sich in meinen Stiefeln.

»Leave off, it's fine!«

Er betrachtete seine Leistung und gab mir Recht. Zu mir aufblickend hielt er die Hand hin und kassierte den Lohn.

»Thank your, Sir.«

Ich stieg vom Stuhl und setzte mich auf eine Bank nahbei, um die Zeit abzuwarten bis zur Weiterfahrt im Bus nach Squaw Valley. Lange saß ich dort, ein Fremder in Kalifornien, und achtete auf die Kunden des schwarzen Schuhputzers – es waren nur zwei in mehr als einer Stunde, der Verdienst eines Dollars, aber angesprochen hatte er an die fünfzig Leute.

»Shoeshine, Mr. President, Sir!«

»Shoeshine, Mr. Governor, Sir!«

»Shoeshine, Sir Bank Manager!«

Oh, er gab ihnen allen einen Titel, hob sie samt und sonders über sich, die möglichen Kunden, und nie seitdem ist mir aus dem Sinn gegangen, wie er mir seine Dienste angeboten hatte, jener alte Mann vor dem Busbahnhof dort draußen am Flugplatz von San Francisco.

»Shoeshine, Boss – just half a dollar, Sir!«

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