Kleine politische Schriften

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Zu Trutz und Schutz
Festrede, gehalten zum Stiftungsfest des Crimmitschauer Volksvereins am 22. Oktober 1871

Freunde! Der Altmeister der deutschen Demokratie, Johann Jacoby, hat in seiner berühmten Rede »über die Ziele der Arbeiterbewegung« gesagt: »Die Gründung des kleinsten Arbeitervereins wird für den künftigen Kulturhistoriker von größerem Wert sein als der Schlachttag von Sadowa.« Hätte er ein Jahr später gesprochen, so würde er haben hinzufügen können: »und als alle glorreichen Siege und schönen Kavalleriegefechte des heiligen Kriegs der Herren Bonaparte und Bismarck.«

Es ist zwar nicht dem Namen nach ein Arbeiterverein, dessen Stiftungsfest wir heute feinern, aber der »Volksverein« von Crimmitschau besteht fast ausschließlich aus Arbeitern und huldigt den Prinzipien der Sozialdemokratie; er ist also ein Arbeiterverein der Sache nach, und Jacobys Wort findet daher auf ihn seine Anwendung.

Ja, die Gründung des kleinsten Arbeitervereins ist eine wichtigere Kulturtat als alle »Großtaten«, welche das militärische und monarchische Europa auf dem sogenannten Feld der Ehre vollbracht hat und noch vollbringen wird; in dem kleinsten Arbeiterverein leben und treiben die Ideen der Gegenwart, wird die Lösung der gewaltigen Fragen vorbereitet, welche unsere Zeit bewegen, während die Hand des Soldaten die Mordwaffe nur führen muß, um die überlebten Schöpfungen der Vergangenheit zu verteidigen und aufrechtzuerhalten. Jeder Arbeiterverein ist ein Reis der modernen Kultur, gepflanzt in den Weinberg der Menschheit, den die »herrlichen Kriegsheere« nur verwüsten; eine Schule echter, menschenbefreiender Bildung, die von den Siegern der Schlachten beleidigt und bedroht wird; ein Stück der neuen Welt, das, wie ein Keil in die alte Welt hineingetrieben, dazu beitragen wird, sie zu zersprengen.

Zwei Welten stehen jetzt schroff einander gegenüber – die Welt der Besitzenden und die Welt der Nichtbesitzenden, die Welt des Kapitals und die Welt der Arbeit, die Welt der Unterdrücker und die Welt der Unterdrückten, die Welt der Bourgeoisie und die Welt des Sozialismus – zwei Welten mit entgegengesetzten Zielen, Bestrebungen, Anschauungen und mit verschiedener Sprache, zwei Welten, die nicht nebeneinander bestehen können, von denen die eine der andern Platz machen muß.

Im letzten Krieg zeichneten sich beim Schein der Brandkugeln und der auflodernden Städte und Dörfer die Umrisse der beiden Welten, auch dem blödsichtigsten Auge erkennbar, scharf voneinander ab: hier, die Vertreter der alten Welt, Haß und Verachtung predigend gegen das Nachbarvolk, den Menschenmord im großen als des Menschen höchstes Ziel hinstellend, mit allen Mitteln die Leidenschaften aufstachelnd, das Denken erstickend und auf dem Altar eines engherzigen fanatischen Patriotismus die Humanität opfernd – dort, abseiten stehend, die Vertreter der neuen Welt; ruhig neben dem wildtobenden Strom; nüchtern inmitten der Orgien des nationalen Deliriums; unerschüttert durch Vorwürfe, Anklagen, Verfolgung; stolz den Gegnern die Stirn bietend und ihnen zurufend: »Was Ihr zu den vornehmsten Pflichten stempelt, erscheint uns unsittlich; was Ihr als die erhabensten Güter preist, widerstreitet den Forderungen der Vernunft und Gerechtigkeit. Der Mensch, welcher jenseits unserer Grenzpfähle wohnt, ist ein Mensch so gut wie wir; die Völker sind Brüder und sollen einander lieben, statt sich gegenseitig zu erwürgen. Mord bleibt Mord, auch wenn der Mörder und der Ermordete verschiedene Sprachen sprechen und bunte Röcke tragen statt einfarbiger; der Mord aber ist ein Verbrechen, und das Verbrechen hört nicht auf, Verbrechen zu sein, wenn es in riesigem Maßstab ausgeübt wird. Der Erfolg verwandelt Unrecht nicht in Recht. Was Ihr Ruhm nennt, ist uns das Gegenteil des Ruhmes, was Ihr Ehre nennt, das Gegenteil der Ehre; die Triumphe, mit denen Ihr prahlt, sind uns nur Triumphe der Barbarei; der Krieg, und wäre er der glorreichste, ist eine Sünde wider den heiligen Geist der Menschheit – ein Unglück für den Sieger wie für den Besiegten. Das Wort ›Vaterland‹, das Ihr im Munde führt, hat keinen Zauber für uns; Vaterland in Eurem Sinne ist uns ein überwundener Standpunkt, ein reaktionärer, kulturfeindlicher Begriff; die Menschheit läßt sich nicht in nationale Grenzen einsperren; unsere Heimat ist die Welt: ubi bene ibi patria – wo es uns wohl geht, das heißt, wo wir Menschen sein können, da ist unser Vaterland; Euer Vaterland ist für uns nur eine Stätte des Elends, ein Gefängnis, ein Jagdgrund, auf dem wir das gehetzte Wild sind und mancher von uns nicht einmal einen Ort hat, wo er sein Haupt hinlegen kann. Ihr nennt uns, scheltend, ›vaterlandslos‹, und Ihr selbst habt uns vaterlandslos gemacht! Und wie könnt Ihr, die Ihr salbungsvoll Euer Christentum beteuert, uns vorwerfen, daß wir nicht ›national‹ seien? Ist es nicht etwa ein auszeichnendes Merkmal der christlichen Religion, daß sie den nationalen Gott der Hebräer zu einem allgemein menschlichen Gott erweiterte, also modern ausgedrückt, das Nationalitätsprinzip zerstörte und den nationalen Gedanken durch den internationalen Gedanken verdrängte? Aus Euch spricht nur das Vorurteil und der Eigennutz; das Interesse der Menschheit erheischt, daß falle, was Ihr vertretet! Und das Interesse der Menschheit wird Euer Sonderinteresse überwinden. Eure Triumphe beschleunigen nur Euern Sturz. In dem Glockengeläute zur Feier Eurer Siege hören wir schon das Grabgeläute Eurer Herrlichkeit.«

Mit unheimlichem Erstaunen sahen die Gegner das unerwartete Schauspiel, hörten sie die fremd klingende Sprache der neuen Welt. Wohl war es nur eine winzige Minorität, die Protest erhob im Namen der Menschheit; aber jede um die Herrschaft ringende Wahrheit ist in der Minorität – und die siegreiche Wahrheit hat stets die Majorität. Wohl bestand diese Minorität fast ausschließlich aus Arbeitern, aus den Enterbten der heutigen Gesellschaft – allein, wie wäre es auch anders denkbar? Die Unterdrückten sind es zu jeder Zeit gewesen, welche die Flamme der Freiheit und Humanität gepflegt; denn die Not ist die beste, ja die einzige Lehrmeisterin der Menschheit. Dem Schwachen lehrt sie beten, dem Starken seine Kräfte gebrauchen – zu seiner Befreiung denken und handeln. Heute sind es die Arbeiter, die, von der Not gedrängt, sich dem Emanzipationswerk gewidmet haben – wie es im Mittelalter die Bauern waren, welche das Evangelium der Freiheit und Gleichheit verkündeten; wie zu Beginn unserer Ära in den Armen und Leidenden die christliche Lehre entsprang. Es ist jetzt nicht zu erstenmal, daß sich in solcher Weise zwei Welten gegenüberstehn. Im vorigen Jahrhundert, als das Bürgertum noch politisch unterdrückt war, hatte es sich bereits eine eigene Welt der Gedanken und Anschauungen geschaffen, die mit der herrschenden Welt im schroffsten Widerspruch stand und sich dieselbe zuletzt geistig unterwarf – ein »moralischer Sieg«, dem der materielle in der Französichen Revolution auf dem Fuße folgen mußte.

Doch die Geschichte bietet eine noch schlagendere Parallele: Das alte Römerreich hat den Gipfel der Macht bestiegen: es hat nichts mehr zu erobern, weil alle Länder der Erde ihm schon tributpflichtig sind. Die Großen schwelgen in unerhörtem Luxus, die Massen darben in dumpfer Sklaverei. Da lehnt sich in der geknechteten herabwürdigten Menge das Gewissen auf gegen solch schmachvolle Zustände, und eine Bewegung hebt an, die, anfangs von den Machthabern und Großen verachtet, verlacht, allmählich ihnen Furcht einflößt und sie zu den heftigsten, grausamsten Verfolgungen gegen die Bekenner der neuen Lehre veranlaßt. Doch die Verfolgungen schaffen nur Märtyrer und kräftigen die Sache, die sie zerstören sollen. Man verbietet den gefürchteten »Feinden des Staats und der Gesellschaft« (denn das waren die Christen), man verbietet ihnen, sich zu versammeln – sie versammeln sich in den Katakomben; man erfindet die raffiniertesten Qualen, umringt den Tod mit tausend Schrecknissen – umsonst, der Tod hat keinen Stachel für die Verfolgten, und unter den ausgesuchtesten Martern haben sie nur ein mitleidiges Lächeln für die Toren, welche eine Idee töten zu können wähnen. »Ist unsere Sache Gottes, dann werdet Ihr sie nicht zugrunde richten können; ist sie aber nicht Gottes, dann wird sie auch ohne Euch zugrunde gehn!« So rufen sie ihren Henkern zu und eilen freudig, siegesgewiß auf den Richtplatz. »Ist unsere Sache Gottes« – das heißt in die moderne Sprache übersetzt: Ist das, was wir erstreben, eine Kulturforderung, ist es im Einklang mit den geistigen, sittlichen und materiellen Interessen der Menschheit, dann ist es durch keine Gewalt auszurotten; ist es aber nicht »Gottes«, das heißt: ist es im Widerspruch mit diesen Interessen, dann muß es an diesem Widerspruch zugrunde gehen – ohne daß es gewaltsamer Unterdrückungsversuche bedarf, die höchstens dem Absterbenden noch ein Scheinleben einhauchen.

Wohlan, der Löwenzwinger, die Schlangenverließe, das Kreuz, der Scheiterhaufen – was war ihre Wirkung? Die Revolution des menschlichen Gewissens schritt unaufhaltsam vorwärts, das Christentum überwand das allmächtige Heidentum, die neue Welt stürzte die alte.

Hier eine Bemerkung. Ich bin weit davon entfernt, die gewöhnlichen Traditionen über das sogenannte »Urchristentum« zu glauben; noch weiter bin ich davon entfernt, die moderne Zivilisation als eine Folge des Christentums zu betrachten. Letztere Auffassung ist entschieden unrichtig, ist sogar eine absolute Umdrehung der Wahrheit; es läßt sich mit Leichtigkeit der Beweis führen, daß jede geistige und materielle Errungenschaft der Menschheit seit der Zeit, wo das Christentum Staatsreligion geworden, im Kampf mit dem Christentum, gegen das Christentum durchgesetzt werden mußte. Was aber jene Epoche betrifft, wo das Christentum noch die Dornenkrone der Verfolgung trug, so gehören zwar die Legenden, die Mythen älteren und neueren Datums, die man uns vorerzählt, in das Bereich der Fabelwelt, und so kann zwar nicht geleugnet werden, daß Wissenschaft und Kunst den Bekennern der neuen Lehre fremd waren und selbst, weil vermeintlich untrennbar von der Sache des Heidentums, von ihnen aufs erbittertste bekämpft wurden – allein, es wäre eine ebenso große Torheit, wie die ist, deren man sich jetzt gegen uns schuldig macht, wollten wir in Abrede stellen, daß die christliche Bewegung sich mit Notwendigkeit aus den damaligen Verhältnissen entwickelt hat und daß es dieses Protestes der Sittlichkeit des in den Menschen wohnenden Gleichheitsgefühls bedurfte, um die durch und durch verfaulte, auf Sklaverei begründete heidnische Gesellschaft aufzulösen und damit der Menschheit den Pfad zu weiterem Fortschritt zu öffnen. Wohl folgte dem Sturz des klassischen Heidentums eine lange, düstere Nacht. Das Christentum, zur Staatsreligion geworden, entfernte sich von den Prinzipien, denen es seinen Sieg verdankt hatte, und wurde selber ein Werkzeug der Unterdrückung. Doch die Menschheit ließ sich in ihrem Gang nicht aufhalten. Die Ideen der Gleichheit, der Brüderlichkeit, der Freiheit wucherten fort unter der Oberfläche der Gesellschaft. Vergebens suchte die Staatskirche dem Geist Fesseln anzulegen, vergebens errichtete sie ihr Inquisitionsgericht. Sie konnte die Leiber verbrennen, aber die ewigen Gedanken erhoben sich, phönixgleich, mit unversehrten Fittichen aus der Asche. Hunderttausende von Ketzern wurden dahingeopfert, die Schergen der »Unfehlbarkeit« feierten die glänzendsten »Erfolge « – für den Augenblick. Der Enderfolg war, daß die Ketzer über die Ketzerrichter siegten. Die Reformation brach die Macht des Papsttums, und heute ist der unfehlbare Papst der Gnade seiner Feinde überliefert, ein Gegenstand des Mitleids, nicht mehr der Furcht.

 

Fürwahr, wer überhaupt fähig ist, zu lernen, der sollte aus der Geschichte der religiösen Verfolgungen lernen, daß es ein Wahnsinn ist, das Rad des menschlichen Fortschritts zurückdrehen zu wollen. Wie die Ketzerrichter des Mittelalters verdammt sind vor dem Richterstuhl der Menschheit, so werden auch die modernen Ketzerrichter, die sich unterfangen, die neue Lehre des Sozialismus durch politische Verfolgungen zu ersticken, verdammt dastehn vor dem Richterstuhl der Menschheit; und wie die Ketzer des Mittelalters zuletzt über die Ketzerrichter siegten, so werden auch die Ketzer der Gegenwart über die Ketzerrichter der Gegenwart den Sieg davontragen. Oder glaubt man, es sei weniger Lebenskraft in unsern Ideen als in denen der christlichen Märtyrer? Eitler Wahn!

Die gleiche Rolle, wie beim Zerfall der altrömischen Welt das Christentum, spielte jetzt der Bourgeoiswelt gegenüber der Sozialismus. Wie damals haben wir eine Auflehnung des Gewissens gegen den rohen Materialismus, der, jedes Ideals bar, den Menschen zum Vieh oder zur Ware herabwürdigt; wie damals sind es die Armen und Enterbten, in denen der Same der neuen Welt aufgegangen ist; wie damals haben wir den Bruch mit den nationalen Vorurteilen. Aber ein wesentlicher Unterschied ist da: Der Sozialismus hat nicht die Wissenschaft gegen sich, sondern er hat in ihr seine unumstoßbare Stütze, obschon die Priester der Wissenschaft zum größten Teil im Dienste des Mammons sind; er ist nicht bloß Sache des Gefühls, sondern auch des Verstandes; er beruht auf einer klaren Erkenntnis der herrschenden Gesellschaftsverhältnisse und hat ein bestimmtes, durchführbares Programm für die Reorganisation der Gesellschaft und des Staats, oder sagen wir bloß: der Gesellschaft, denn der Staat ist nichts anderes als die (mehr oder weniger gut) organisierte Gesellschaft. Als Sache des Gefühls und des Gewissens hat er die ganze Stärke des Christentums – wohlgemerkt, ich rede hier nur von der christlichen Bewegung im ersten Stadium –, als Sache des Verstandes hat er die Stärke der Wissenschaft. Wenn aber das Gefühl allein schon die ersten Christen unwiderstehlich machte, wie hoffnungslos ist dann erst der Kampf gegen den Sozialismus, dem das Gefühl die Stärke der Religion, der Verstand die Stärke der Wissenschaft gibt? Könnte das Wort Religion nicht mißdeutet werden, so würde ich sagen: Der Sozialismus ist Religion und Wissenschaft zugleich. Im Kopf und im Herzen der Arbeiter wurzelnd, ist der Sozialismus weder durch List noch durch Gewalt, weder durch sophistische Scheingründe noch durch Polizei und Zündnadelgewehr auszurotten. In jedem Arbeiter steckt bewußt oder unbewußt mehr oder weniger entwickelt der Keim des Sozialismus, und dieser Keim, der Keim der neuen Welt, läßt sich nicht ersticken. Da hilft kein Leugnen, da hilft kein Augenverschließen, kein Denunzieren, kein Dreinschlagen, kein Massakrieren. Die Bewegung vollzieht sich mit der Notwendigkeit eines Naturgesetzes, Verfolgungen kräftigen den Sozialismus bloß, wie sie das Christentum gekräftigt haben. Die Arbeiter können für ihre Überzeugung sterben, wie die Christen es getan. Der Sozialismus hat seine Märtyrer, wie das Christentum sie hat, und werden noch Zehntausende, noch Hundertausende getötet, der Sozialismus wird dadurch so wenig am endgültigen Sieg verhindert werden wie einst das Christentum. Aus dem Blute eines jeden Märtyrers werden Hunderte von neuen Märtyrern entstehen; die vermehrte Gefahr wird den Mut stählen und – um mich eines Ausspruches der Französischen Revolution zu bedienen: wer mit dem Tod einen Pakt gemacht hat, dem ist der Sieg verbürgt. »Blut und Eisen« mag Feiglingen Angst einjagen, wir spotten der Drohungen und der Gefahren.

Blicken wir hin auf Frankreich, das große politische und soziale Versuchsfeld, wo sich jüngst die furchtbar großartige Tragödie der Kommune abspielte. Das sozialistische Proletariat, das durch die brandenden Wogen der Ereignisse in Paris auf den Gipfel der politischen Gewalt erhoben worden war, es erlag nach heroischem Riesenkampf den vereinigten Anstrengungen der preußischen und der französischen Armee; vierzigtausend Arbeiter wurden im Kampf und nach dem Kampf niedergemetzelt, ebenso viele wurden gefangen, um in ungesunden Kerkern, in mephitischen Schiffsräumen, in den giftigen Sümpfen von Cayenne der »trockenen Guillotine« zum Opfer zu fallen. Welcher Jubel unter den Vertretern der alten Welt! Die soziale Frage war aus der Welt geschafft, der Sozialismus in der Person von achtzigtausend Sozialisten getötet oder dem Tod geweiht!

Der Sozialismus getötet? Die Herren haben ein kurzes Gedächtnis. Dreiundzwanzig Jahre vor dieser Katastrophe war Paris der Schauplatz einer ähnlichen Tragödie, nicht minder großartig, wenn auch nicht von ebenso großen Dimensionen. Die französische Februarrevolution ist Ihnen, den Umrissen nach, bekannt. Das Pariser Proletariat hatte den Julithron gestürzt. Es hatte die Entrüstungsphrasen des liberalen Bürgertums über die Verderbtheit des Bürgerkönigtums ernst genommen und das Übel an der Wurzel angepackt. Aber die Revolution war ihm keine bloße Phrase; es wollte nicht die Ausbeutung und Korruption in einer Gestalt beseitigen, um sie in der anderen wieder auf den Thron zu heben.

Eine provisorische Regierung wurde geschaffen – der Mehrzahl nach aus honetten Republikanern bestehend, mit einigen Vertretern des Sozialismus als Zugabe. Die Arbeiter, vertrauensvoll und großmütiger als klug, erklärten der Regierung: »Wir wissen, daß die Majorität von Euch unseren Bestrebungen nicht freundlich ist, aber wir wollen womöglich weiteres Blutvergießen vermeiden – wir geben Euch drei Monate des Elends; drei Monate werden wir in Geduld alle Entbehrungen ertragen; diese drei Monate sind Eure Probezeit. Sehen wir nach Ablauf der Frist, daß Ihr ehrlich seid, daß Ihr den guten Willen habt, etwas für das hungernde Proletariat zu tun, gut, so wird die soziale Frage sich in Frieden lösen. Sehen wir aber, daß wir wieder betrogen sind, nun dann müssen wir uns selbst helfen.« Die Regierung versprach alles und – brach alles. Die Nationalwerkstätten, die unsere unwissende Bourgeoispresse zu Schöpfungen des Sozialismus gemacht hat, wurden eingerichtet, um eine Arbeiterarmee gegen den Sozialismus zu gewinnen, ein Versuch, der jedoch an dem regen Klassenbewußtsein der französischen Arbeiter scheiterte. Man konnte das Proletariat nicht nasführen, man mußte es niederkartätschen. Die erforderlichen Maßregeln wurden getroffen, und als die (in der provisorischen Regierung und der unterdessen zusammengekommenen Nationalversammlung vertretene) Bourgeoisie sich des Erfolges sicher glaubte, warf sie die dreißigtausend Arbeiter der Nationalwerkstätten auf die Straße und zwang sie, Hungers zu sterben oder zu kämpfen. Der dreimonatige »Hungerwechsel«, ausgestellt am 17. März, war gerade abgelaufen. Den 21. und 22. Juni bereitete das Proletariat sich zum Kampf vor – den folgenden Tag entbrannte die Schlacht. Es kann hier nicht meine Aufgabe sein, die Einzelheiten der Juni-Insurrektion zu entrollen. Genug – nach viertägigem heldenmütigem Kampf erlagen vierzigtausend Arbeiter dem langgeplanten Angriff einer Armee von achtzigtausend regulären Soldaten und vierzigtausend National- und Mobilgarden. Entsetzliche Greuel wurden von den Siegern verübt – Tausende von Gefangenen ermordet; man schätzt die Zahl der Arbeiter, die im Kampf blieben und nachher massakriert wurden, auf zwölftausend; und ungefähr ebensoviel Gefangene, die man sich scheute, sofort zu töten, wurden nach Lambessa und Cayenne deportiert, wo die meisten von ihnen den Mißhandlungen und dem Klima erlegen sind.

Namenlos war der Jubel der Bourgeoisie über die Niederlage der Junikämpfer. Der Sozialismus war vernichtet, die »Gesellschaft gerettet«, samt allem, was drum und dran hängt: »Familie«, »Eigentum«, und der Himmel weiß, was für schönen Dinge, welche die Bourgeoisie in Worten verehrt und in der Wirklichkeit mit Füßen tritt und schändet. Der Sozialismus war tot! Zwölftausend »Banditen«, »Mordbrenner«, »moderne Barbaren« – doch ich kann die Schimpfwörter nicht alle aufzählen, die damals im Schwange waren; lesen Sie die Artikel der heutigen Presse über die Pariser Kommune, und Sie haben das ganze Verzeichnis; die journalistischen Handlanger der Bourgeoisie haben sich nicht die Mühe genommen, neue Schimpfwörter zu erfinden – zwölftausend Sozialisten tot, zwölftausend auf dem Weg zur »trockenen Guillotine« – wer konnte da noch an Gefahr denken für die Zukunft? Der Sozialismus war tot und begraben; über der Leiche wurde die Erde festgestampft – wie konnte der Sozialismus wieder auferstehen? Die Zeit verstrich – die Republik mußte bald ins Grab gelegt werden neben den Sozialismus. Und oben auf das Grab stelle Bonaparte seinen Thron – wie konnte der tote Sozialismus wieder auferstehen? »Blut und Eisen« regierte; die Presse wurde geknebelt und gekauft; nichts unversucht gelassen, um die Arbeiterklasse für das Empire zu gewinnen; das Gemüt der Massen systematisch vergiftet; die öffentliche und geheime Polizei in beispielloser Ausdehnung organisiert und zur obersten Staatsinstitution erhoben; die Armee, was ihre wahre Bestimmung im heutigen Staate ist, zu einer Prätorianergarde gemacht, wie eine Bulldogge auf den Mann – aufs Volk dressiert; kurz, alle Hilfsmittel der reaktionären Staatskunst wurden aufgeboten, um einem neuen Ausbruche vorzubeugen. Mehr konnte keine Regierung tun, als Bonaparte getan hat, und ich glaube nicht, daß es eine zweite Regierung gibt, die gleich viel zu tun imstande ist. Was Bismarck und Stieber jetzt in dieser Richtung leisten, ist nur dem Empire abgelernt. Kein Wunder, daß Bonaparte der Abgott der Bourgeoisie wurde; nicht bloß der französischen, nein, der Bourgeoisie aller Länder, insbesondere auch der deutschen. Jeder von Ihnen, meine Freunde, dessen Gedächtnis einige Jahre zurückreicht, wird sich der byzantinischen Verehrung erinnern, die unsere liberale Presse: »Kladderadatsch«, »Volkszeitung«, »Nationalzeitung« – je »liberaler«, desto inbrünstiger – dem Mann des zweiten Dezember angedeihen ließ. » Er« war die menschgewordene Vorsehung, ausgestattet mit den göttlichen Attributen der Allweisheit und Allmacht. Und das Ende vom Lied? Nachdem er zweiundzwanzig Jahre lang in der Erde gelegen, begann der totgeglaubte Riese die Glieder zu recken, und am 4. September 1870 erhob er sich und stieg hervor aus seinem Grab – der Thron Bonapartes fiel, und der Sozialismus lebte.

Ein halbes Jahr später erstand die Pariser Kommune. Der Sozialismus, der 1848 sich nur vier Tage behauptet hatte, trotzte jetzt länger als zwei Monate den vereinigten Anstrengungen der von den Preußen unterstützten französischen Ordnungssoldateska und konnte erst nach achttägigem Straßenkampf überwältigt werden. Die Metzelei war größer als 1848, die Zahl derer, die deportiert werden sollen, ist doppelt so groß. Die französische Bourgeoisie wollte diesmal reinen Tisch machen, und die Bourgeoisie der übrigen Länder klatschte ihr begeisterten Beifall. Allein schon heute, kaum vier Monate nach dem Sieg, fängt die Bourgeoisie an einzusehen, daß sie nur einen Pyrrhussieg erfochten, daß sie sich ins eigene Fleisch geschnitten hat. Sie hat so gründlich aufgeräumt, daß es ihr an Arbeitern mangelt für ihre Werkstätten, für ihre Fabriken. Und – der Sozialismus ist nicht tot. Er lebt in Paris, in Frankreich, in Deutschland, in allen Kulturländern – er lebt in der Brust eines jeden Arbeiters, der ein Herz hat, zu fühlen, und einen Kopf, zu denken. Die Bourgeoisie kann doch nicht jeden Arbeiter töten, und gelänge es ihr, was hätte sie erreicht? Sie hätte Selbstmord begangen. – Die Bourgeoisie existiert durch die Arbeiter; ohne Arbeiter hört sie auf zu existieren, und durch die Arbeiter wird sie gestürzt – aus diesem unerbittlichen Dilemma kommt sie nicht heraus. Die Entfaltung der Bourgeoisie bedingt ein wachsendes Massenproletariat, und das Proletariat wird durch die ökonomischen Verhältnisse zum Sozialismus gedrängt. Je mächtiger die Bourgeoisie, desto massenhafter das Proletariat, desto stärker die sozialistische Bewegung, desto mächtiger die Gegner der Bourgeoisie. Will die Bourgeoisie Bourgeoisie bleiben, so muß sie das Proletariat und damit den Sozialismus stärken, der sie vernichten wird. Bekämpft sie das Proletariat und den Sozialismus, so zerstört sie die Grundlagen ihrer eignen Macht, ihrer Existenz. In diesem vicieux, diesem »schlimmen Zirkel« muß sie zugrunde gehen.

 

Mit »Blut und Eisen« ist die sozialistische Bewegung nicht aus der Welt zu schaffen. Im Juni 1848 ist es umsonst versucht worden; und nicht besseren Erfolg hat die Pariser Bluthochzeit vom Mai 1871 gehabt. Wie die Juni-Insurrektion in der Kommune ihre Auferstehung feierte, so wird auch die Kommune einst ihre Auferstehung feiern; und die Ausbrüche werden sich mit wachsender Macht wiederholen, bis die alte Welt ihre Hilfsmittel erschöpft hat und in Trümmer sinkt – es sei denn, daß ein friedlicher Ausweg gefunden werde. Doch davon später.

Rohe Gewalt ist unfähig, den Sozialismus zu ersticken. Wer vom Bewußtsein seines Rechts durchdrungen ist, kennt keine Furcht. Man werfe uns ins Gefängnis, man töte uns – unsere Sache wird darunter nicht leiden. Der unbezwingliche Geist, der die alten Christen lächelnd das Martyrium ertragen ließ, er beseelt auch die Sozialdemokraten. Wir schreiten fort auf dem Pfad, den die Überzeugung uns zu wandeln gebietet, und ob er sich auch mit Leichen bedecke, wir marschieren vorwärts wie eine Sturmkolonne, deren Reihen die feindlichen Kugeln lichten – bis wir das Ziel erreicht.

Daß Gewalt allein ohnmächtig ist gegen die Sozialdemokratie, das begreifen nachgerade auch unsere Gegner; sie wollen uns mit »geistigen« Waffen bekämpfen. Sie gründen Arbeitervereine, in denen den Arbeitern gelehrt wird, zwischen Kapital und Arbeit herrsche die vollständigste »Harmonie«, das wahre Interesse des Arbeiters erheische, daß er mit dem Arbeitgeber zusammengehe, der Zankapfel der sozialen Frage sei nur von einer Handvoll ehrgeiziger, gewissenloser oder toll überspannter Leute zwischen die beiden Klassen geworfen worden. Nun mögen die Gegner fortfahren, Arbeitervereine zu gründen; sie gründen dieselben für uns! Die Falschheit der Harmonielehre wird dem Arbeiter in empfindlichster Weise durch die tägliche Praxis bewiesen, und ist er anfangs unter dem Einfluß der Bourgeoisiepresse auch noch so sehr gegen die Sozialdemokratie eingenommen, bald wird er, um einen populären Ausdruck zu gebrauchen, mit der Nase auf den Klassengegensatz und mit Leib und Seele in den sozialen Konflikt gestoßen und durch die Erfahrung belehrt, daß bei der heutigen kapitalistischen Produktion die Interessen des Arbeiters und Arbeitgebers einander schnurstracks gegenüberstehen: daß es zum Beispiel das Interesse des Arbeiters ist, einen möglichst hohen Lohn zu fordern, das des Arbeitgebers, einen möglichst niedrigen Lohn zu geben. In dieser Differenz – von der allgemeinen politischen und sozialen Stellung der zwei Klassen gar nicht zu reden – liegt allein schon die Quelle endloser, unaufhörlicher Reibungen und Streitigkeiten, mit einem Worte, der Klassenkampf in mehr oder weniger akuter Form. Und so haben wir denn in neuerer Zeit die sonderbare Ironie der Geschichte erlebt, daß die erbittertsten und ausgedehntesten Streiks – und der Streik, die Arbeitseinstellung, ist nach der Straßenschlacht die heftigste Form des Klassenkampfes –, daß die größten und hartnäckigsten Streiks in Deutschland, die von Waldenburg, Forst , das Evangelium der Harmonielehre studiert hatten, denen sich aber die theoretische Milch der frommen Denkungsart infolge der praktischen Behandlung seitens der Arbeitgeber in gärendes Drachengift verwandelt hatte. Bei dieser Gelegenheit ist zu erwähnen, daß der ärgste »Arbeiterexzeß« der Neuzeit auf einem preußischen Staatsbergwerk (Königshütte) vorgekommen ist, von dem jedes Atom »sozialistischen Gifts« ferngehalten worden war.

Ich dächte: dies allein genügte, um das Alberne der Behauptung, die soziale Bewegung sei von einzelnen »gemacht«, in das gehörige Licht zu stellen. Doch gehen wir etwas tiefer in diese Frage ein. Also ein paar Männer sollen die Urheber einer Bewegung sein, welche gleichförmig alle Kulturländer ergriffen hat und welche seit fast einem Menschenalter direkt die Geschicke Europas bestimmt, eine Bewegung, ohne die wir uns u. a. das zweite französische Empire nicht denken können, ohne das wiederum die Bismarcksche Wirtschaft undenkbar wäre. Welche Beleidigung für die Arbeiter liegt in jener Annahme! Hunderttausende, Millionen von Arbeitern sollen sich durch ein paar Leute die Köpfe haben verdrehen lassen und blind hinter ihnen herlaufen, wie Schafherden hinter den Leithammeln! Oh, Ihr Herren Bourgeois und sonstigen Reaktionäre! Wenn die Arbeiter so unselbständig wären, wie Ihr von ihnen voraussetzt oder doch zu glauben vorgebt, dann würden sie in Euren Netzen zappeln, denn Ihr laßt es wahrlich nicht an Anstrengungen fehlen, um sie zu fangen, und Ihr verfügt doch wahrhaftig über tausendmal mehr Mittel der moralischen und materiellen Beeinflussung als die Sozialdemokratie! Überdies ist es ein wesentliches Merkmal unserer Partei, daß sie den Autoritätsglauben prinzipiell bekämpft und jeden Gedanken persönlicher Führerschaft grundsätzlich zurückweist. Doch die Annahme ist nicht bloß eine Beleidigung für die Arbeiter, nicht bloß unrichtig im vorliegenden Fall, sondern sie ist auch an sich durch und durch unwissenschaftlich, der Ausfluß einer Anschauung, die auf vollkommener Unkenntnis des geschichtlichen Entwicklungsprozesses beruht.

Das Kind mit seiner regen Phantasie und seinem unentwickelten Verstand bevölkert die Welt mit Prinzen, Riesen und Zauberern. Es sieht überall nur Außerordentliches, Wunderbares, wittert überall das Walten geheimer Kräfte. Auf demselben kindlichen oder sagen wir lieber kindischen Standpunkt stehen alle diejenigen, welche die menschliche Geschichte als das Produkt einiger außerordentlicher, über das gemeine menschliche Maß vorragender Männer, bald guter, bald schlechter, betrachten und in jedem Ereignis, in jeder Bewegung die Laune, die Willkür dieses oder jenes Individuums erblicken, das, um für die ihm zugedachte Rolle tauglich zu sein, mit allen möglichen übernatürlichen Eigenschaften ausstaffiert wird. Von diesem Standpunkt ging bis in die jüngste Zeit mehr oder weniger unsere ganze Geschichtsschreibung aus, die nichts anderes war und leider auch für die große Masse, der die neueren Werke der Wissenschaft nicht zugänglich sind, noch ist – als eine Aneinanderreihung von Namen berühmter Fürsten, Feldherren und sonstiger Heroen mit eingestreuten Berichten von Schlachten, Mordgeschichten, Haupt- und Staatsaktionen, Verschwörungen – kurz ein Sensationsroman niedrigster Gattung, halb Ritter-, halb Räubergeschichte, halb Kindermärchen. Die wissenschaftliche Geschichtsschreibung (wohl zu unterscheiden von der gelehrten), die noch sehr jungen Datums ist und in dem Engländer Buckle ihren Hauptvertreter hat, faßt die menschliche Entwicklung als das notwendige Resultat der Wechselwirkung zwischen Mensch und Natur auf. Sie kennt, wie überhaupt die Wissenschaft, keine Willkür, nur Notwendigkeit, keine Laune, nur Mannigfaltigkeit, nichts Wunderbares und Außerordentliches, nur Natürliches und allgemeinen Gesetzen Folgendes. Die Wundergestalten der altmodischen Märchengeschichten oder Geschichtsmärchen verschwinden vor der Kritik wie ungeheuerliche Nebelgebilde vor den Strahlen der Morgensonne; der Heroenkultus wird in die Rumpelkammer des Aberglaubens geworfen – die »großen Männer« werden erniedrigt und die Menschheit erhöht.

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