Kleine politische Schriften

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Die Zahl der Landeigentümer in England vermindert sich von Jahr zu Jahr. Unmittelbar nach der normannischen Eroberung, 1066, betrug sie bei kaum einem Zehntel der heutigen Bevölkerung 40 000, wie aus dem Doomsday Book erhellt, und vor 200 Jahren, bei einer Bevölkerung von nicht 15 Millionen, 165 000. Innerhalb der letzten 200 Jahre ist die Bevölkerung von 14 œ Millionen auf 30 Millionen gestiegen, und die Zahl der Grundeigentümer, unter stetiger Abnahme, von 165 000 auf 30 000 gefallen. In diesem Zeitraum hat sich sonach die Zahl der Einwohner mehr als verdoppelt, die Zahl der Grundeigentümer um fünfhundertundfünfzig Prozent vermindert. Noch vor 200 Jahren kam ein Grundeigentümer auf 88 Einwohner; jetzt kommt ein Grundeigentümer auf 1000 Einwohner. Das sind Ziffern, deren Beredtheit durch keine Beredsamkeit gesteigert werden kann. Man pflegt diese zunehmende Konzentration des Bodens in den Händen weniger ausschließlich dem Erstgeburtsrecht und den die Zertrümmerung der großen Adelsgüter verbietenden oder doch sehr erschwerenden Gesetzen zuzuschreiben, allein mit Ungrund. Es wäre töricht zu leugnen, daß die erwähnten Gesetze auf die Gestaltung der Eigentumsverhältnisse von bedeutendem Einfluß gewesen sind und wesentlich dazu beigetragen haben, die heutige englische Landaristokratie ins Leben zu rufen; auf der anderen Seite steht aber fest, daß bei der außerordentlichen kapitalistischen Entwicklung Englands die Aufsaugung des kleinen durch den großen Grundbesitz erfolgt wäre, auch wenn jene Gesetze nicht bestanden hätten. Der einzige Unterschied wäre gewesen, daß das Land den alten Adels-, das heißt durch die normannische Eroberung zum Grundbesitz gelangten Räuberfamilien und nach deren Aussterben oder Ausrottung in den Bürgerkriegen den neuen Adelsfamilien (gegründet von königlichen Günstlingen, Speichelleckern, Bankerten, Kupplern und sonstigem glänzenden, das heißt von Fäulnis phosphoreszierenden Menschenkot) – daß das Land ganz oder zum größten Teil dieser Adelskaste entrissen worden und in den Besitz der modernen Bourgeosie übergegangen wäre. Man beseitige die Primogenitur (das Erstgeburtsrecht und was drum und dran hängt), und das Grundeigentum wird zwar rasch die Hände wechseln, aber die von einigen geträumte Wirkung, das Entstehen eines freien Kleinbauernstandes, wird sicherlich nicht eintreten, ebensowenig wie die großen Kapitalien sich in kleine zerbröckeln, die großen Fabriken in kleine Werkstätten zusammenschrumpfen werden. Der Zug der ökonomischen Entwicklung geht in der entgegengesetzten Richtung. Nicht aus dem Großeigentum ins Kleineigentum, sondern umgekehrt aus dem Kleineigentum ins Großeigentum. Jeder Versuch, das englische Großgrundbesitzsystem zugunsten des französischen Parzellensystems aufzuheben, wäre ein gemeinschädlicher Rückschritt. Der Weg geht über den Privatgroßgrundbesitz und die Privatgroßproduktion überhaupt hinaus in die genossenschaftliche Großproduktion auf dem Gebiet des Ackerbaues und der Industrie.

Jedes falsche System erliegt seinen Konsequenzen.

Die letzte Konsequenz des Privatgrundbesitzes und der kapitalistischen Privatproduktion ist: Konzentrierung des Besitzes, der Reichtümer und der Macht in einer Hand. – Ein Landlord, der Herr allen Grund und Bodens, Herr aller Fabriken ist, die gesamte Ackerbau- und Industrie monopolisiert, alle Staatsbürger in seinem Lohn hat, die Preise aller Lebensmittel und sonstigen Waren nach Gutdünken regelt. Ein Hirt und eine Herde; ein Sklavenbesitzer, welcher durch seine Sklavenpeitscher seine Land- und Stadtsklaven an die Arbeit treiben läßt. Kurz, eine politische und ökonomische Abhängigkeit, neben der selbst die Lage der alten Ägypter unter den Pharaonen urdemokratisch erscheint.

Das ist der Gipfel, das Endziel, das erfüllte Ideal der modernen kapitalistischen Kultur! Aber zum Glück läßt sich der Satz »summum jus summa injustitia« auch umdrehen und wird die summa injustitia zum summum jus. Die auf die Spitze getriebene Ungerechtigkeit ist die Mutter der strafenden Nemesis und der sühnenden Gerechtigkeit.

Warum aber habe ich die französischen und englischen Landverhältnisse so ausführlich behandelt? Aus dem einfachen Grund, weil sie das Wesen und die Wirkungen des Privatgrundbesitzes nach seinen beiden einzig möglichen Entwicklungsformen hin, schärfer, als es irgendwo anders der Fall ist, zum Ausdruck bringen. Dem Anatomen, der die Natur und Wirkungen einer bestimmten Krankheit studieren will, ist auf dem Seziertisch ein Körper um so wertvoller, je weiter in demselben die Krankheit gediehen war und je anschaulicher sie sich folglich darin darstellt. Das gleiche gilt für die soziale Anatomie; zum Studium der gesellschaftlichen Krankheiten ist ein Gesellschaftskörper, in dem diese Krankheiten zu höchster Entwicklung gelangt sind, besser geeignet als ein Gesellschaftskörper, in dem sie sich noch in den Anfangsstadien befinden. Die höhere Entwicklung schließt die niedere in sich nicht aber umgekehrt. Wer ein höher entwickeltes Land kennt, kann deshalb ein niedriger entwickeltes richtig beurteilen; wohingegen, wer nur ein niedriger entwickeltes Land kennt, außerstande ist, ein höher entwickeltes richtig zu beurteilen. Frankreich und England sind aber Deutschland in der ökonomischen Entwicklung voraus; und zwar ersteres ungefähr ebensoweit, wie ihm seinerseits England voraus ist. England ist das ökonomisch entwickeltste Land der Welt, das klassische Revier und Versuchsfeld der Menschheit auf ökonomischem, wie Frankreich auf politischem Gebiet. Da keine Theorie denkbar ohne Praxis und die Wissenschaft nur das Resultat der Erfahrung sein kann, ist darum auch England die eigentliche Heimat der Nationalökonomie. Der Mann, welcher die Nationalökonomie auf den Gipfel gebracht und von den Fälschungen und Irrtümern des Klassengeistes und Klassenvorurteils gereinigt hat, Karl Marx, der Kritiker und Vernichter der Bourgeoisökonomie, der Begründer der wissenschaftlichen Gesellschaftsökonomie, hat sich in England, wo er seit fünfundzwanzig Jahren ununterbrochen lebt, die Vorarbeiten und das Material zu seinem »Kapital« geholt. Er nimmt seine Beispiele fast ausschließlich aus England. Daß sie »fremd« sind, tut ihrer Beweiskraft keinen Abbruch. Für die Ökonomie, wie überhaupt für die Wissenschaft, gibt es kein fremd und einheimisch, kein Inland und kein Ausland. Die Wissenschaft kennt keine Nationalität. Es gibt keine englische, französische, deutsche Ökonomie, weshalb auch die übliche Benennung: Nationalökonomie eine sehr unpassende ist. Es gibt nur eine Ökonomie, deren Gesetze für England, Frankreich, Deutschland und alle übrigen Länder, die eine Gesellschaft haben, die nämlichen sind, die nämliche zwingende Gewalt haben. Mensch ist Mensch – als »Gesellschaftstier« ist er überall den gleichen Gesetzen unterworfen, ist die Wirkung derselben auf ihn die gleiche, ob er in diesem Lande wohnt oder in jenem. Was für den Engländer und Franzosen, gilt auch für den Deutschen; die nämlichen Erscheinungen, welche das Parzellensystem in Frankreich zutage gefördert hat, muß es auch in Deutschland zutage fördern, sobald es zu gleicher Entwicklung gelangt. Und zu gleicher Entwicklung muß es im Laufe der Zeit gelangen, mag sich der Staat noch so eifrig auf Palliativmittelchen gegen die allzu große Güterzersplitterung verlegen. Ebenso muß der Privatgroßgrundbesitz im Laufe der Zeit in Deutschland genau dieselben Wirkungen haben wie in England, mögen sich unsere Regierungen noch so sehr mit dem hoffnungslosen Problem abquälen, die gemeinschädlichen Wirkungen des Großgrundbesitzes aufzuheben oder zu mildern. Das Verhältnis von Ursache und Wirkung ist durch kein Dekret, durch keine Maßregel, durch kein Machtaufgebot aus der Welt zu schaffen. Die Ursache bestehen lassen und die Wirkungen beseitigen wollen ist Narrenwerk. Vom russischen Regierungssystem hat ein Franzose (Custine) einst gesagt: »Es ist der Absolutismus, gemildert durch den Meuchelmord.« Gut – in ähnlicher Weise kann man von dem Großgrundbesitz sagen: es ist der kapitalistische Absolutismus, gemildert durch das Workhouse. Eine andere »Milderung« wird der genialste Staatsmann des Klassenstaats nicht entdecken.

In den englischen Landzuständen drückt sich am klassischsten das Wesen des modernen Privatgrundbesitzes aus. Darum mußte ich sie so eingehend behandeln. Das französische Parzellensystem ist ökonomisch ein überwundener Standpunkt. Die landwirtschaftliche Kleinproduktion kann die Konkurrenz mit der landwirtschaftlichen Großproduktion nicht aushalten und muß dieser geradeso Platz machen wie die industrielle Kleinproduktion der industriellen Großproduktion. Bleibt der heutige Klassenstaat mit seiner Ausbeutung der Arbeit durch das Kapital und seiner Aufsaugung des kleineren Kapitals durch das größere bestehen, so ist infolge der zunehmenden Überschuldung und Unergiebigkeit der kleinen Bauerngüter die Verdrängung des Parzellensystems durch das englische Landsystem nur eine Frage der Zeit. Ob die mittelalterlichen Landgesetze in England aufgehoben werden oder nicht, ist von untergeordneter Bedeutung. Die Aufhebung dieser Gesetze würde wohl große Veränderungen im Personal der Landbesitzer hervorbringen, aber das Wesen des Landbesitzes unberührt lassen. Das Landmonopol, welches die mittelalterlichen Adelsgesetze erstreben, ist auch das Ziel des modernen Bourgeoiskapitalismus. Les extrêmes se touchent; und wie in Frankreich der durch die Revolution geschaffene freie Kleingrundbesitz nach dritthalb Generationen den Bauer in die Misere des vorrevolutionären Feudalstaats zurückgeworfen hat, so würde in England der »Freihandel in Land«, und zwar ohne die dem französischen Bauer gewährte Galgenfrist der Illusionen, dem agricultural labourer sans façon das Joch der feudalen Leibeigenschaft, obendrein mit gesteigerter Ausbeutungskraft, auflegen. Der Kapitalismus ist raffinierter, potenzierter Feudalismus, und der englische Feudalismus hat dies so wohl begriffen, daß er seit vorigem Jahrhundert einen eminent kapitalistischen Charakter trägt.

 

Die englischen Zustände zeigen uns um einige Stationen voraus die Gestaltung unserer eigenen Zustände. Was in England ist, wird in Deutschland. Was hier unreife Frucht, der zum Teil noch die verdorrten Blüten anhängen, zum Teil freilich auch schon die Fäulnis am Kern frißt, ist dort reif, vollentwickelt, mit goldglänzender Schale, doch innen vermodert, gleich jenen Äpfeln, welche am Toten Meer wachsen sollen. Wir sehen in England unsere Zukunft. Der englische Landarbeiter, dieser Elendeste der Elenden, ist das getreue Bild der deutschen Bauern der nächsten Generationen – vorausgesetzt, daß der deutsche Bauer das warnende Exempel sich nicht zu Herzen nimmt und nicht rechtzeitig noch das Veto der Tat ausspricht. Fassen wir zusammen:

In Frankreich Kleingrundbesitz.

In England Großgrundbesitz.

In Frankreich der Grund und Boden in zahlreichen Händen (7 846 000 bei einer Bevölkerung von 38 Millionen) zersplittert; Kleinbetrieb des Ackerbaues; die Bauern durchschnittlich verschuldet; nicht Lohn-, aber Hypothekensklaven, indirekte Sklaven des Kapitals, der großen Mehrzahl nach in den jämmerlichsten Verhältnissen lebend; infolge Kapitalmangels irrationelle Bewirtschaftung des Bodens, geringe Produktivität der Arbeit (das Produkt gleich 215 Francs auf den Kopf, Männer, Frauen und Kinder der ackerbautreibenden Bevölkerung zusammengerechnet – nicht der dritte Teil dessen, was in England auf den Kopf kommt) und bei unsinniger Arbeitsvergeudung karger Bodenertrag (sieben französische Bauern verrichten die Arbeit von zwei englischen Landarbeitern, und der Acre in Frankreich ergibt 18 Bushel Hohlmaß. 1 Bushel = 36,35 Liter.gegen 30 in England) – der französische Parzellenbauer sich plackend für seinen Gläubiger, wie der englische agricultural labourer für den Pächter und Landlord.

In England der Grund und Boden in wenigen Händen (30 000 bei einer Bevölkerung von 30 Millionen) konzentriert; kapitalistischer Großbetrieb des Ackerbaues; der unabhängige Bauernstand bis auf die letzte Spur ausgetilgt; statt freier Bauern unglückliche Lohnsklaven, die selbst unter den Komfort des Workhouses herabgedrückt sind; dagegen vergleichungsweise rationelle Bewirtschaftung, mit Benutzung – natürlich nur, soweit es das Interesse des Landlords und Farmers erheischt – der durch Wissenschaft und Kapital gebotenen Vorteile; infolgedessen intensive Produktivität der Arbeit (das Produkt gleich 715 Francs per Kopf, die gesamte ackerbautreibende Bevölkerung, Weiber und Kinder eingerechnet, und reichlicher Bodenertrag) zum ausschließlichen Nutzen der Landlords und Pächter.

Das französische System ruiniert den Staat; ruiniert das Land; ruiniert den Bauer; führt, wenn eine vernünftige, das Volkswohl erstrebende Politik nicht vorher eingreift, zum allgemeinen Bankrott und muß schließlich durch Anheimfallen der kleinen Höfe an die kapitalistischen Gläubiger oder durch Versteigerung an den Meistbietenden und Meisthabenden in das englische Landsystem übergehen.

Und das englische Landsystem? Es ermöglicht zwar eine relativ rationelle Bewirtschaftung des Bodens, raubt aber dem arbeitenden Volke die Früchte derselben und wirft sie den wenigen Monopolisten in den Schoß; es verurteilt die sich abschindenden Bebauer des Bodens zur hoffnungslosen Armut und häuft auf die müßiggängerischen Eigentümer unermeßliche Schätze, die sie teils in wüster Immoralität verprassen, teils unter Anwendung der korruptesten Mittel zur Befestigung ihrer ökonomischen und politischen Herrschaft benutzen. Es führt dahin, daß in nicht ferner Zeit eine Koalition von wenigen Familien, ja daß eine Familie den ganzen Grund und Boden in ihrem Besitz vereinigt und das Land nach Belieben aushungern kann.

Das ist der Stand der Grund- und Bodenfrage in den zwei ökonomisch fortgeschrittensten Kulturländern. Und nun zur Heimat.

In Deutschland haben sich die Grund- und Bodenverhältnisse infolge der Vielstaaterei und der Abwesenheit einer einheitlich gleichförmigen politischen Entwicklung nach keinem einheitlich gleichförmigen System ausgebildet. Wir begegnen in den verschiedenen Staaten und Landesteilen den verschiedensten und mannigfaltigsten Arten und Abarten des Grundbesitzes und entsprechend vielgestaltigen Zuständen der Landbevölkerung. Während wir im östlichen Teile Preußens und in Mecklenburg den englischen Großackerbau haben, herrscht am Rhein und überhaupt in Westdeutschland das französische Parzellensystem vor. Zwischen dem englischen und französischen System bewegen sich unsere deutschen Grundeigentumsverhältnisse: hier das eine, dort das andere mehr oder weniger entfaltet, häufig, ja wohl in den meisten Landstrichen, beide nebeneinander bestehend, ineinander überspielend. Um ein Beispiel zu wählen: in Hessen-Darmstadt haben wir vorwiegend das französische System, aber zwischen die kleinen Bauerngütchen haben sich die Großgüter der Standesherren, der Fürsten von Solms-Lich, Solms-Laubach, Grafen von Erbach usw. eingeschoben, die vollständig englisch bewirtschaftet werden und von Jahr zu Jahr mehr anschwellen durch die unaufhörliche Aufsaugung der kleinen Bauerngütchen. Diese großen Gutsherren sind richtige Hechte im Karpfenteich. Die armen Karpfen, das heißt die Kleinbauern, sind bloß dazu da, um die vornehmen Hechte zu mästen. Fürsten brauchen dies nicht zu sein, nicht einmal Adlige; ein guter Bürgerlicher, der sich für »sein« aus dem Mark des arbeitenden Volkes geschlagenes Geld ein »Rittergut«, oder was sonst die Bezeichnung sei, kauft, wird ein ebenso guter Hecht wie ein reichsunmittelbarer Fürst oder Landjunker mit ellenlangem Stammbaum. Wenn man Hechtszähne und einen Hechtsmagen hat und Karpfen in der Nähe, so lernt sich der Karpfenfang und das Karpfenfressen gar rasch. Mitunter hat der Hecht philanthropische Anwandlungen; er sucht das Bäuerchen, welches zu den verspeisten Äckern gehörte, wenigstens vor unmittelbarem Verderben zu retten. So ist es im Odenwald vorgekommen, daß ein ganzes Dorf von dem Grafen von Erbach gekauft und die Einwohnerschaft samt dem Bürgermeister und Dorfpolizeidiener dann hübsch fürsorglich nach Amerika geschickt wurde, wo die Leute nun die Segnungen republikanischer Freiheit genießen. Das war gewiß »liberal«, in doppelter Beziehung, und – der Herr Graf hat unzweifelhaft seine Rechnung dabei gefunden.

Man kann zugeben, daß die Lage unserer Landbevölkerung in manchen Gegenden Deutschlands nicht so schlimm ist wie in England und Frankreich; auch unsere industriellen Zustände, für welche die gleichen ökonomischen Gesetze gelten, sind noch nicht so auf die Spitze getrieben wie in den beiden genannten Ländern, was aber nicht hindert, daß sie, und zwar mit wachsender Geschwindigkeit, genau in der nämlichen Richtung vorwärts drängen. Mag hier und da auf dem Lande der Bauer und Landarbeiter sich noch vergleichungsweise eines idyllischen Daseins erfreuen – nach den ehernen Gesetzen der heutigen Gesellschaftsorganisation eilen wir unaufhaltsam im Norden und Osten englischen, im Süden und Westen zunächst französischen, schließlich aber, wenn nicht beizeiten die Entwicklung in andere, heilsame Bahnen geleitet wird, ebenfalls durch die notwendige Aufsaugung der kleinen Bauerngüter englischen Zuständen zu. Der mecklenburgische und ostpreußische Bauernknecht ist schon jetzt nicht besser dran als der englische agricultural labourer (Landarbeiter); ja in mancher Beziehung noch schlimmer, denn er vereinigt in seiner Person das Elend des modernen Lohnsklaven und die Rechtlosigkeit des mittelalterlichen Leibeigenen. Der deutsche Ackerknecht steht unter dem Stock, kann von seinem Gutsherrn zum Krüppel, ja totgeschlagen, wenn er sich muckst, niedergeschossen werden, ohne daß ein Hahn danach kräht. Das wenigstens kann dem englischen Landarbeiter nicht geschehen. Aushungern darf ihn der Pächter oder Gutsherr, ihm das Mark aussaugen, ihn ins Armenhaus werfen, nachdem er den letzten Rest von Arbeitskraft aus ihm herausgepreßt hat, aber ihn schlagen! Nimmermehr. Abgesehen davon, daß kein englischer Landarbeiter es sich ungestraft gefallen ließe, würden auch die eigentumstollsten englischen Friedensrichter und Geschwornen dem Pächter oder Gutsherrn, der einen Arbeiter, ohne von ihm angegriffen zu sein, körperlich mißhandelte, zu einer empfindlichen Strafe verurteilen.

Es fehlt uns für Deutschland jene Fülle des statistischen Materials, die für die ländlichen Verhältnisse Englands vorhanden ist; hat man doch vor einer die sozialen Zustände beleuchtenden Statistik bis jetzt in unserem Vaterlande eine heilige Scheu. Wenn Kinder vor etwas Unangenehmem die Augen zukneifen, vermeinend, daß das nicht Gesehene auch nicht existiere, so können wir ob solch kindlicher Naivität lachen. Wenn aber Staatsmänner, wenn Regierungen dasselbe tun, so ist das sicherlich nicht zum Lachen und verrät jedenfalls, abgesehen von der törichten Handlungsweise, ein sehr schlechtes Gewissen. Indes ermangeln wir doch nicht aller statistischen Anhaltspunkte. Nach einer Berechnung in den »Landwirtschaftlichen Annalen« des Mecklenburger patriotischen Vereins betrug 1865 die jährliche Gesamteinnahme einer wohlsituierten Landarbeiterfamilie, einer Familie von Dienst- oder Instleuten 283 Taler, wovon jedoch 100 Taler für sogenannte »Scharwerker« abzuziehen sind, so daß sich die Einnahme auf 183 Taler, das ganze Jahr hindurch, für die Arbeit von Mann, Frau und Kindern, beläuft. Und wohlgemerkt: diese Berechnung ist von Gutsbesitzern gemacht, die ein Interesse daran haben, die Dinge in rosigem Licht erscheinen zu lassen. Mit den »Scharwerkern« aber hat es folgende Bewandtnis: Unter den ländlichen Arbeitern gibt es verschiedene Abstufungen; die höchste und relativ am günstigsten gestellte Klasse sind die eben erwähnten »Dienstleute« oder »Instleute«, ehemalige Leibeigene oder Abkömmlinge von Leibeigenen. Dieselben stehen zu dem Gutsherrn in einem dauernden Dienstverhältnis, welches sich von der Leibeigenschaft nur durch den Namen unterscheidet; sie sind verpflichtet, das ganze Jahr hindurch mit Frau und Kind gegen Tagelohn und Naturalemolumente [Naturaleinkommen] zu arbeiten. Der Tagelohn bewegt sich zwischen 2 und 5 Silbergroschen, und die Naturalemolumente sind: eine Wohnung, die der des englischen Landarbeiters an Komfort ungefähr gleich ist, die Nutznießung von œ bis 3 Morgen Landes, welches für den Gutsherrn den mindesten Wert hat, Futter für eine Ziege, wenn's hoch kommt für eine Kuh. Dafür haben die »Dienstleute« jahraus, jahrein an allen Werkeltagen, im Sommer auch am Sonntag, im Winter durchschnittlich elf, im Sommer sechzehn Stunden den Tag zu arbeiten. Der Drescherlohn wird meistens in Getreide verabfolgt und beträgt »in guten Jahren« für die Familie 30 bis 36 Scheffel. Wie wir gesehen haben, wird der Gesamtwert dieser Vergütungen in Geld und Naturalemolumenten von den Gutsherren auf zirka 283 Taler pro Familie veranschlagt. Um die geheischte Arbeit verrichten zu können, ist nun aber jede Familie kontraktlich verpflichtet, auf ihre Kosten einen oder zwei »Scharwerker« zu halten, junge Personen männlichen oder weiblichen Geschlechts, meist des letzteren, die als Untersklaven dieser Sklaven die Arbeit des Gutsherrn zu tun haben.

Ist die Ernte gut auf den Äckerchen, welche der gnädige Gutsherr den »Dienstleuten« überlassen hat, so halten diese mit Ach und Krach Leib und Seele zusammen; ist die Ernte jedoch schlecht – und das ist nichts Seltenes, da in der Regel das Land von der miserabelsten Qualität ist –, so tritt ein entsetzlicher Notstand ein.

Ich stellte die Wohnungen der »Dienstleute« mit denen der englischen Landproletarier auf eine Stufe. Man höre: Nach zuverlässigen Schilderungen sind drei, vier, oft noch mehr Familien in eine Wohnung zusammengepfercht, die kaum für eine einzige Familie ausreicht; die Betten sind schmutzige Lappen, die zerbrochenen Fensterscheiben mit Papier verklebt oder mit Lumpen zugestopft, die halbnackten Kinder im Schmutz fast verkommend.

Natürlich kann in solchen verpesteten Räumen kein gesundes Geschlecht aufwachsen; die Sterblichkeit der Kinder ist außerordentlich groß, woran insbesondere die erzwungene Abwesenheit der Mütter, die wenige Tage nach dem Wochenbett wieder zur Arbeit gehen müssen, wesentlichen Anteil hat. Die Weiber altern sehr früh, junge Mütter von vierundzwanzig, fünfundzwanzig Jahren sind runzlig und verblüht, als wären sie fünfzig, wie denn überhaupt die Weiber auf dem Lande, im Widerspruch mit der gewöhnlichen Ansicht, weit rascher altern als in der Stadt, wo die Frauen wenigstens nicht so allgemein zu schweren, die Leistungsfähigkeit des weiblichen Organismus übersteigenden Arbeiten angehalten werden. Der Gutsherr hat seinen »Kontrakt«, seinen »Schein«, und er besteht auf seinem Schein wie Shylock. Die ganze Arbeitskraft der ganzen Familie gehört ihm – da darf die Frau sich nicht schonen, wenn sie das Kind unter ihrem Herzen trägt –, sie muß schanzen für den Gutsherrn, dem ihre Arbeitskraft gehört, laut »Schein«; und ist das Kind zur Welt gekommen, so darf sie ihm ihre Muttersorge nicht widmen, nicht an die eigene Stärkung denken – sie muß hinaus, das arme Würmchen daheim lassen im Schmutz, mit dem vergiftenden Lutschbeutel im Mund, in der Pflege von kleinen, unverständigen Kindern, die noch zu schwach und unverständig sind, um mit Nutzen ins Joch des Kapitals gespannt zu werden – sie muß hinaus auf den Hof, für den Gutsherrn schanzen, dem ihre Arbeitskraft gehört, laut »Schein« – ihre ganze Arbeitskraft, ihr ganzes Mark bis auf den letzten Tropfen. Bricht sie zusammen, wird sie infolge der Überanstrengung durch eine akute Krankheit schnell weggerafft oder durch ein chronisches Leiden auf das Siechbett geworfen, arbeitsunfähig, sich selbst und den Ihrigen zur Last – nun, »es ist die erste nicht«, der Gutsherr hat nur getan, was »Recht« war, er hat nur auf seinem »Schein« bestanden. Wer will ihn anklagen? Er ist unschuldig wie das neugeborene Kind, dessen Mutter der »Schein« so schlecht bekommen ist, und das vermutlich so klug sein wird, der besten der Welten wieder Valet zu sagen, ehe es zur Vermehrung der Konkurrenz und zur Verschärfung der sozialen Gegensätze beitragen kann. Und verloren hat er auch nichts. Ja, wäre es ein Pferd, ein Ochse, ein Schaf, eine Ziege – das repräsentiert einen Wert, der sich in Geld ausdrücken läßt und der auf das Verlustkonto geschrieben werden muß, falls das betreffende Stück Vieh krepiert oder verunglückt; aber dieses unbefiederte zweibeinige Stück Vieh, das von unvorsichtigen Gefühlsduselern unter die Menschen gerechnet wird, repräsentiert, abgesehen von der Arbeit, die es im Dienste des Kapitals zu verrichten hat, nur einen ideellen, eingebildeten Wert, der sich nicht in klingender Münze ausdrücken läßt; »fällt« dieses zweibeinige Stück Vieh, so erwächst daraus dem Besitzer nicht der mindeste Schaden – es wird durch ein anderes zweibeiniges Stück Vieh ersetzt, ohne daß es nur einen Pfennig aus der gefüllten Tasche zu holen hat.

 

Von Erziehung der Kinder kann bei den »Dienstleuten« nicht die Rede sein; die Eltern haben keine Zeit, der »Schein« treibt sie aus dem Hause; und der Schulunterricht ist trotz des Schulzwangs ein so unregelmäßiger – während der Zeit der Feldarbeiten müssen die Kinder, sobald sie stark genug sind, um zu jäten, Vieh zu hüten usw., dem Gutsherrn sich zur Verfügung stellen, das will der »Schein«! – und überdies, soweit Schulunterricht erteilt wird, ein solch mangelhafter, daß er als Bildungsmittel gar nicht in Anschlag gebracht werden kann.

Was es aber mit dem vielgerühmten »deutschen Familienleben« bei diesen Parias für eine Bewandtnis hat, das mag sich jeder an den fünf Fingern abzählen.

Noch schlimmer als die »Dienstleute« sind die »Einlieger« dran. Sie sind ganz »freie« Arbeiter, nicht an ein bestimmtes Gut gefesselt, haben kein festes Kontraktverhältnis, sondern arbeiten auf Tagelohn, der sich im Sommer auf elf bis fünfzehn Silbergroschen für die Männer, auf sieben bis zehn Silbergroschen für die Weiber beläuft. Von diesem kärglichen Lohn müssen sie – allerdings ein Kunststück, welches der Sparapostel Schulze in höchsteigener Person schwerlich fertigbringt – so viel »sparen«, daß sie den Winter hindurch, wo es nur selten etwas zu verdienen gibt, davon leben können. Wie man sich denken kann, gelingt dieses Sparkunststück nicht immer, und dann muß der Hungertyphus das gesellschaftliche Gleichgewicht wieder herstellen. Im Winter 1867 auf 68 durchzog dieser Gesellschaftsretter die Provinz Ostpreußen und räumte unter dem Landproletariat, besonders den »Einliegern«, mit erschreckender Gründlichkeit auf!

Die dritte Klasse des ländlichen Proletariats, das Gesinde, ist gegen den Hungertod gesichert, solange es sich die »Zufriedenheit« der Herrschaft zu erhalten vermag; dieser Vorteil wird aber durch die Intensität des Abhängigkeitsverhältnisses aufgewogen, die schon in den Bezeichnungen »Knecht«, »Magd« zutage tritt. Beständiger Aufsicht unterworfen, die Arbeitskräfte aufs äußerste angespannt, führt das Gesinde das traurigste Sklavenleben. War der Haussklave doch bereits bei den alten Römern der elendste der Sklaven. Der Lohn ist nach den verschiedenen Beschäftigungen ein verschiedener; in den seltensten Fällen erreicht er eine Höhe, die dem Sparsamsten die kärglichsten Ersparnisse möglich macht. Wird der »Knecht«, wird die »Magd«, denen beiläufig der Regel nach das Heiraten, also die Gründung einer »Familie«, von der – selbstverständlich für das »heilige Institut der Familie« fanatisch begeisterten – »Herrschaft« bei Strafe sofortiger Entlassung, das heißt des Hungertods, verboten ist –, wird das Gesinde zu schwach, um den Reichtum der »Herrschaft« in dem von ihr »rechtmäßig« gewünschten Maße vermehren zu können, so wird es sans façon (ohne Umstände) an die Luft gesetzt und mag betteln gehen.

Die absolute Rechtlosigkeit des Gesindes spiegelt sich am besten ab in den »Gesindeordnungen«, die dem »black code«, dem »schwarzen Gesetzbuch« für die amerikanischen Sklaven, abgeschrieben zu sein scheinen. Das »Gesinde« hat nach denselben bloß Pflichten, die Herrschaft bloß Rechte, darunter das Recht der körperlichen Züchtigung!

Wie zahlreich die soeben aufgeführten Klassen des ländlichen Proletariats sind, kann ich in Ermangelung statistischen Materials nicht angeben. So viel aber ist gewiß, daß sie, außer in denjenigen Gegenden Deutschlands, wo das Parzellensystem herrscht oder vorherrscht, weitaus die Majorität der ländlichen Bevölkerung bilden.

Zwischen den Landarbeitern und den Kleinbauern in der Mitte stehen die Häusler (Büdner, Eigenkätner), die ein kleines Häuschen (Kote, Kate) und etwas Land als Eigentum besitzen, von dem Ertrag ihrer paar Morgen jedoch nicht leben können und darum einen Teil des Jahres über für Tagelohn arbeiten müssen. Gerade auf die Grenzlinie des Proletariats verwiesen, sinken sie in dasselbe hinab, sobald längere Krankheit, Mißwachs auf ihrem Gütchen oder ein sonstiger Unfall sie betrifft. Die Klasse der Häusler verschwände sehr rasch, erhielte sie nicht beständigen Zuzug aus der Klasse der Kleinbauern.

Und nun zu diesen.

Was ist die Lage unserer deutschen Kleinbauern in den Landstrichen, wo das Parzellensystem herrscht? Führen sie etwa eine so beneidenswerte Existenz? Der Engländer Howitt, der in dem Parzellensystem das zu erstrebende Ideal erblickt, sagt von den Bauern der Pfalz: »Sie arbeiten fleißig früh und spät, weil sie das Bewußtsein haben, daß sie für sich selbst arbeiten. Sie placken sich von Tag zu Tag, jahraus, jahrein; sie sind die geduldigsten, unermüdlichsten und beharrlichsten aller Tiere.« Nicht ein menschliches Leben führen sie nach dem Zeugnis des zu günstiger Beurteilung geneigten Engländers, sondern das Leben von Tieren! Das ist aber zu mild ausgedrückt: Kein Tier ist imstande, die permanente Abrackerung, die Entbehrungen, zu denen diese »freien Grundeigentümer« verurteilt sind, auch nur ein Jahr lang zu ertragen...

[...] Wer sich einbildet, die Landfrage ließe sich auf Grundlage der heutigen Eigentumsverhältnisse lösen, täuscht sich über die Natur des Übels und kann demzufolge nicht die richtigen Heilmittel anwenden.