Buch lesen: «Die Biene Maja und ihre Abenteuer»

Schriftart:

Waldemar Bonsels

Die Biene Maja und ihre Abenteuer

In Sprache und Schreibweise modernisiert

Impressum

Covergestaltung: Tina Pankow

Illustration: Tina Pankow

Digitalisierung: Gunter Pirntke

BROKATBOOK Verlag Gunter Pirntke 2018

Mail: brokatbook@aol.com / gunter.50@gmx.net

Gunter Pirntke,

Altenberger Str. 47

01277 Dresden

Inhalt

Impressum

Erstes Kapitel: Majas Flucht aus der Heimatstadt

Zweites Kapitel: Peppis Rosenhaus

Drittes Kapitel: Der Waldsee und seine Leute

Viertes Kapitel: Iffi und Kurt

Fünftes Kapitel: Der Grashüpfer

Sechstes Kapitel: Puck

Siebentes Kapitel: Majas Gefangenschaft bei der Spinne

Achtes Kapitel: Die Wanze und der Schmetterling

Neuntes Kapitel: Hannibals Kampf mit dem Menschen

Zehntes Kapitel: Die Wunder der Nacht

Elftes Kapitel: Die Elfenfahrt

Zwölftes Kapitel: Der Dichter Alois Siebenpunkt

Dreizehntes Kapitel: Die Räuberburg

Vierzehntes Kapitel: Die Flucht

Fünfzehntes Kapitel: Die Heimkehr

Sechzehntes Kapitel: Die Schlacht der Bienen und Hornissen

Siebzehntes Kapitel: Die Freundin der Königin

Der Autor

Erstes Kapitel: Majas Flucht aus der Heimatstadt

Die ältere Bienendame, die der kleinen Biene Maja behilflich war, als sie zum Leben erwachte und aus ihrer Zelle schlüpfte, hieß Kassandra und hatte großes Ansehen im Stock. Es waren damals sehr aufgeregte Tage, weil im Volk der Bienen eine Empörung ausgebrochen war, die die Königin nicht unterdrücken konnte.

Während die erfahrene Kassandra der kleinen Maja, deren Erlebnisse ich erzählen werde, die großen blanken Augen trocknete und ihr die zarten Flügel etwas in Ordnung zu bringen suchte, brummte der große Bienenstock bedrohlich, und die kleine Maja fand es sehr warm und sagte es ihrer Begleiterin.

Kassandra sah sich besorgt um, aber sie antwortete der Kleinen nicht gleich. Sie wunderte sich darüber, dass das Kind schon so früh etwas auszusetzen fand, aber im Grunde war es richtig, die Wärme und das Gedränge waren beinahe unerträglich. Maja sah ununterbrochen Biene auf Biene an sich vorübereilen, das Geschiebe und die Eile waren so groß, dass zuweilen die eine über die andere fortkletterte und wieder andere sich wie zu Klumpen geballt vorüberwälzten.

Einmal war die Königin in ihrer Nähe gewesen. Kassandra und Maja wurden etwas beiseitegedrängt, aber eine Drohne, ein freundlicher junger Bienenherr von gepflegtem Aussehen, war ihnen behilflich. Er nickte Maja zu und strich sich etwas erregt mit dem Vorderbein, das bei den Bienen als Arm und Hand gebraucht wird, über seine glänzenden Brusthaare.

„Das Unheil wird hereinbrechen“, sagte er zu Kassandra. „Der Schwarm der Revolutionäre wird die Stadt verlassen. Sie haben schon eine neue Königin ausgerufen.“

Kassandra beachtete ihn fast gar nicht. Sie hatte sich nicht einmal für die Hilfe bedankt, und Maja empfand deutlich, dass die alte Dame recht unfreundlich gegen den jungen Herrn war. Sie wagte nicht recht zu fragen, die Eindrücke kamen alle so rasch hintereinander und drohten sie zu überwältigen. Die Erregung teilte sich ihr mit, und sie begann ein feines helles Summen.

„Was fällt dir ein“, sagte Kassandra. „Ist nicht schon Lärm genug?“

Maja war sofort still und richtete ihre Augen fragend auf ihre ältere Freundin.

„Komm hierher,“ sagte diese zu Maja, „wir wollen versuchen, uns hier etwas zu sammeln.“

Sie schob Maja bei ihrem schönen glänzenden Flügel, der noch weich und ganz neu und wundervoll durchsichtig war, in eine wenig besuchte Ecke vor ein paar Wabenschränke, die mit Honig gefüllt waren.

Maja blieb stehen und hielt sich an einem der Schränke fest.

„Hier riecht es ausgezeichnet“, sagte sie zu Kassandra.

Die Alte wurde wieder ganz nervös:

„Du musst warten lernen“, antwortete sie. „Kind, ich habe in diesem Frühling schon viele hundert junge Bienen erzogen und für ihre erste Ausfahrt unterrichtet, aber mir ist noch keine vorgekommen, die so naseweis gewesen wäre. Du scheinst eine Ausnahmenatur zu sein.“


Maja errötete und fuhr mit den beiden zarten Fingerchen ihrer Hand in den Mund:

„Was ist das?“ fragte sie schüchtern, „eine Ausnahmenatur.“

„O, das ist etwas durchaus Unschickliches“, rief Kassandra, die allerdings die Handbewegung der kleinen Biene meinte und ihre Frage nicht beachtet hatte. „Jetzt merke genau auf alles, was ich dir sage, denn ich kann dir nur kurze Zeit widmen, es sind schon wieder neue Junge ausgeschlüpft und meine einzige Gehilfin in dieser Etage, Turka, ist ohnehin aufs äußerste überarbeitet und klagte in den letzten Tagen über Ohrensausen. Setz dich hier.“

Maja gehorchte und schaute mit ihren großen braunen Augen auf ihre Lehrerin.

„Die erste Regel, die eine junge Biene sich merken muss,“ sagte Kassandra und seufzte, „ist, dass jede in allem, was sie denkt und tut, den anderen gleichen und an das Wohlergehen aller denken muss. Es ist bei der Staatsordnung, die wir seit undenkbar langer Zeit als die richtige erkannt haben und die sich auch aufs beste bewährt hat, die einzige Grundlage für das Wohl des Staates. Morgen wirst du ausfliegen. Eine ältere Gefährtin wird dich begleiten. Du darfst zuerst nur kleine Strecken fliegen und musst dir die Gegenstände genau merken, an denen du vorüberkommst, damit du immer zurückfliegen kannst. Deine Begleiterin wird dir die hundert Blumen und Blüten beibringen, die den besten Honig haben, die musst du auswendig lernen, das bleibt keiner Biene erspart. Die erste Zeile kannst du dir gleich merken: ‚Heidekraut und Lindenblüte.‘ Sag es nach.“

„Das kann ich nicht,“ sagte die kleine Maja, „das ist furchtbar schwer. Ich werde es ja später auch schon sehen.“

Die alte Kassandra riss die Augen auf und schüttelte den Kopf.

„Mit dir wird es schlecht hinausgehen,“ seufzte sie, „das sehe ich schon jetzt.“

„Soll ich denn später den ganzen Tag Honig sammeln?“ fragte die kleine Maja.

Kassandra seufzte tief und sah die kleine Biene einen Augenblick ernst und traurig an. Es erschien, als erinnerte sie sich ihres eigenen Lebens, das von Anfang bis zu Ende voll Mühe und Arbeit gewesen war. Und dann sagte sie mit veränderter Stimme und sah Maja liebreich an:

„Meine kleine Maja, du wirst den Sonnenschein kennenlernen, hohe grüne Bäume und blühende Wiesen voller Blumen, Silberseen und schnelle glitzernde Bäche, den strahlenden blauen Himmel, und zuletzt vielleicht sogar den Menschen, der das Höchste und Vollkommenste ist, was die Natur hervorgebracht hat. Über allen diesen Herrlichkeiten wird dir deine Arbeit zur Freude werden. Sieh, dies alles steht dir ja noch bevor, mein Herzelein, du hast Grund, glücklich zu sein.“

„Gut,“ sagte die kleine Maja, „das will ich denn auch.“

Kassandra lächelte gütig. Sie wusste nicht recht, woher es kam, aber sie hatte plötzlich eine ganz besondere Liebe zur kleinen Maja gefasst, wie sie sich kaum erinnerte jemals für eine andere junge Biene gefühlt zu haben. Und so mag es denn wohl gekommen sein, dass sie der kleinen Maja mehr sagte und erzählte, als für gewöhnlich die Bienen an ihrem ersten Lebenstag hören. Sie gab ihr vielerlei besondere Ratschläge, warnte sie vor den Gefahren der argen Welt draußen und nannte ihr die gefährlichsten Feinde, die das Volk der Bienen hat. Endlich sprach sie auch lange von den Menschen und legte in das Herz der keinen Biene die erste Liebe zu ihnen und den Keim einer großen Sehnsucht, sie kennenzulernen.

„Sei höflich und gefällig gegen alle Insekten, die dir begegnen,“ sagte sie zum Schluss, „dann wirst du mehr von ihnen lernen, als ich dir heute sagen kann, aber hüte dich vor den Hornissen und Wespen. Die Hornissen sind unsere mächtigsten und bösesten Feinde, und die Wespen sind ein unnützes Räubergeschlecht ohne Heimat und Glauben. Wir sind stärker und mächtiger als sie, aber sie stehlen und morden, wo sie können. Du kannst deinen Stachel gegen alle Insekten brauchen, um dir Achtung zu verschaffen und um dich zu verteidigen, aber wenn du ein warmblütiges Tier stichst oder gar einen Menschen, so musst du sterben, weil dein Stachel in ihrer Haut hängenbleibt und zerbricht. Steche solche Wesen nur im Falle der höchsten Not, aber dann tu es mutig und fürchte den Tod nicht, denn wir Bienen verdanken unser großes Ansehen und die Achtung, die wir überall genießen, unserem Mut und unserer Klugheit. Und nun leb wohl, kleine Maja, hab Glück in der Welt und sei deinem Volk und deiner Königin treu.“

Die kleine Biene nickte und erwiderte den Kuss und die Umarmung ihrer alten Lehrerin. Sie legte sich mit heimlicher Freude und Erregung zum Schlaf nieder und konnte vor Neugierde kaum einschlummern, denn mit dem kommenden Tag sollte sie die große weite Welt kennenlernen, die Sonne, den Himmel und die Blumen.

In der Bienenstadt war es inzwischen ruhig geworden. Ein großer Teil der jüngeren Bienen hatte das Reich verlassen, um einen neuen Staat zu begründen. Lange hörte man den großen Schwarm im Sonnenschein brausen. Es war nicht aus Übermut oder böser Gesinnung gegen die Königin geschehen, sondern das Volk hatte sich so stark vermehrt, dass die Stadt nicht mehr Raum genug für alle Bewohner bot und dass unmöglich so viel Honigvorräte eingebracht werden konnten, dass alle über den Winter ihr Auskommen hatten. Denn ein großer Teil des Honigs, der im Sommer gesammelt wurde, musste an den Menschen abgetreten werden. Das waren alte Staatsverträge, dafür sicherten die Menschen das Wohlergehen der Stadt, sorgten für Ruhe und Sicherheit und im Winter für Schutz gegen die Kälte.

Am anderen Morgen hörte Maja an ihrem Lager den fröhlichen Ruf:

„Die Sonne ist aufgegangen!“

Sofort sprang sie empor und schloss sich einer Honigträgerin an.

„Gut,“ sagte diese freundlich, „du kannst mit mir fliegen.“

Am Tor hielten die Wächter sie an. Es war ein rechtes Gedränge. Einer der Torhüter sagte der kleinen Maja das Losungswort ihres Volkes, ohne das keine Biene in die Stadt gelassen wird.

„Merk es dir“, sagte er, „und viel Glück auf deinen ersten Weg.“

Als die kleine Biene vor das Stadttor trat, musste sie die Augen schließen vor der Fülle von Licht, die ihr entgegenströmte. Es war ein Leuchten von Gold und Grün, so über alles reich und warm und strahlend, dass sie vor Seligkeit nicht wusste, was sie tun oder sagen sollte.

„Das ist aber wirklich großartig“, sagte sie zu ihrer Begleiterin. „Fliegt man da hinein?!“

„Nur zu!“ sagte die andere.

Da hob die kleine Maja ihr Köpfchen, bewegte ihre schönen neuen Flügel und empfand plötzlich, dass das Flugbrett, auf dem sie saß, zu versinken schien. Und zugleich war ihr, als glitte das Land unter ihr fort, nach hinten hin fort, und als kämen die großen grünen Kuppeln vor ihr auf sie zu.

Ihre Augen glänzten, ihr Herz jubelte.

„Ich fliege,“ rief sie, „das kann nur Fliegen sein, was ich tue! Das ist aber in der Tat etwas ganz Ausgezeichnetes.“

„Ja, du fliegst“, sagte die Honigträgerin, die Mühe hatte, an Majas Seite zu bleiben. „Das sind die Linden, auf die wir zufliegen, unsere Schlosslinden, daran kannst du dir die Lage unserer Stadt merken. Aber du fliegst wirklich sehr schnell, Maja.“

„Das kann man gar nicht rasch genug“, sagte Maja. „O, wie duftet der Sonnenschein!“

„Nein,“ sagte die Trägerin, die etwas außer Atem war, „das sind die Blüten. Aber nun fliege langsamer, sonst bleibe ich zurück, und du kannst dir auch auf diese Art die Gegend nicht für den Rückweg merken.“

Aber die kleine Maja hörte nicht. Sie war wie in einem Rausch von Freude, Sonne und Daseinsglück. Ihr war, als glitte sie pfeilgeschwind durch ein grünleuchtendes Meer von Licht, einer immer größeren Herrlichkeit entgegen. Die bunten Blumen schienen sie zu rufen, die stillen beschienenen Fernen lockten sie und der blaue Himmel segnete ihren jauchzenden Jugendflug. So schön wird es nie mehr, wie es heute ist, dachte sie, ich kann nicht umkehren, ich kann an nichts denken, als an die Sonne.

Unter ihr wechselten die bunten Bilder, langsam und breit zog das friedliche Land im Licht dahin. Die ganze Sonne muss aus Gold sein, dachte die kleine Biene.

Als sie über einem großen Garten angelangt war, der in lauter blühenden Wolken von Kirschbäumen, Rotdorn und Flieder zu ruhen schien, ließ sie sich zu Tode erschöpft nieder. Sie fiel in ein Beet von roten Tulpen und hielt sich an einer der großen Blüten fest, presste sich an die Blumenwand, atmete tief und beseligt und sah über den schimmernden Lichträndern der Blume den strahlend blauen Himmel.

„O, wie tausendmal schöner ist es in der großen Welt draußen,“ rief sie, „als in der dunklen Bienenstadt. Niemals werde ich nach dort zurückkehren, um Honig zu tragen oder Wachs zu bereiten. O nein, niemals werde ich das tun. Ich will die blühende Welt sehen und kennenlernen, ich bin nicht, wie die andern Bienen sind, mein Herz ist für Freude und Überraschungen, für Erlebnisse und Abenteuer bestimmt. Ich will keine Gefahren fürchten, habe ich nicht Kraft und Mut und einen Stachel?“

Sie lachte vor Übermut und Freude und nahm einen tiefen Schluck Honigsaft aus dem Kelch der Tulpe.

Großartig, dachte sie, es ist wirklich herrlich, zu leben.

Ach, wenn die kleine Maja geahnt hätte, wie vielerlei an Gefahren und Not ihrer wartete, hätte sie sich sicherlich besonnen. Aber sie ahnte es nicht und blieb bei ihrem Vorsatz. Ihre Müdigkeit überwältigte sie bald, und sie schlief ein. Als sie erwachte, war die Sonne fort, und das Land lag in Dämmerung. Ihr Herz schlug doch ein wenig, und sie verließ zögernd die Blume, die im Begriff war, sich für die Nacht zu schließen. Unter einem großen Blatt, hoch im Wipfel eines alten Baums, versteckte sie sich, und im Einschlafen dachte sie zuversichtlich:

Ich will nicht gleich am Anfang den Mut verlieren. Die Sonne kommt wieder, das ist bestimmt, Kassandra hat es gesagt, man muss nur fest und ruhig schlafen.

Zweites Kapitel: Peppis Rosenhaus

Als die kleine Maja erwachte, war es schon hell geworden. Sie fror ein wenig unter ihrem großen grünen Blatt, und die ersten Bewegungen, die sie machte, gelangen ihr nur schwerfällig und langsam. Sie hielt sich an einem Äderchen des Blattes fest und ließ ihre Flügel zittern und flimmern, damit sie geschmeidig und frei von Staub werden möchten. Dann glättete sie ihre blonden Haare und wischte sich die großen Augen blank. Vorsichtig kroch sie etwas weiter, bis an den Rand des Blattes, und schaute sich um.

Sie war ganz geblendet von der Pracht und dem Glanz der Morgensonne umher. Die Blätter leuchteten wie grünes Gold hoch über ihr, da wo sie selbst saß, war es noch kühl im Schatten.

O du herrliche Welt, dachte die kleine Biene.

Nur langsam entsann sie sich aller Erlebnisse des vergangenen Tags, aller Gefahren und aller Schönheiten, die sie gesehen hatte. Aber sie blieb entschlossen, nicht in den Stock zurückzukehren. Freilich, wenn sie an Kassandra dachte, klopfte ihr Herz. Aber es war ja unmöglich, dass Kassandra sie jemals finden würde. Nein, es war nun einmal ihre Freude nicht, immer ein und ausfliegen zu müssen, Honig zu tragen oder Wachs zu bereiten. Sie wollte glücklich und frei sein und das Leben auf ihre Art genießen, mochte kommen was wollte, sie würde es ertragen. So leichtsinnig dachte Maja, jedenfalls auch deshalb, weil sie keine rechte Vorstellung von allem hatte, was ihrer noch wartete.

Irgendwo fern in der Sonne schimmerte es rot. Maja sah es glänzen und leuchten, und eine heimliche Ungeduld befiel sie. Sie verspürte auch, dass sie hungrig war. Da schwang sie sich mutig mit einem hellen frohen Summen aus ihrem Versteck, weit hinein in die helle flimmernde Luft und in den warmen Sonnenschein. Sie steuerte in ruhigem Flug grade auf das rote Blumenlicht zu, das ihr zu winken schien, und als sie in die Nähe kam, spürte sie den Hauch eines so süßen Duftes, dass sie beinahe betäubt wurde und die große rote Blume nur mit Mühe erreichte. Sie schwang sich auf das äußerste, gewölbte Blumenblatt und hielt sich fest. Da rollte ihr, mit der leisen Bewegung, in die das Blatt geraten war, eine funkelnde silberne Kugel entgegen, fast so groß wie sie selbst, durchsichtig und flimmernd in allen Farben des Regenbogens. Maja erschrak furchtbar, obgleich die Pracht dieser kühlen Silberkugel sie entzückte. Der durchsichtige Ball rollte vorüber, neigte sich über den Rand des Blattes, sprang in den Sonnenschein und fiel nieder ins Gras.

Maja stieß einen leisen Ruf des Schreckens aus, als sie sah, dass die schöne Kugel unten in viele winzige Perlchen zersprungen war. Aber es flimmerte nun im Gras so belebt und frisch, rann in zitternden Tröpflein an den Halmen nieder und funkelte, wie Diamanten im Lampenlicht blitzen. Maja hatte erkannt, dass es ein großer Wassertropfen gewesen war, der sich im Kelch der Blume in der feuchten Nacht gebildet hatte.

Als sie sich dem Kelch wieder zuwandte, sah sie einen Käfer mit braunen Flügeldecken und einem schwarzen Brustschild am Eingang zum Blumenkelch sitzen. Er war etwas kleiner als sie, behauptete seinen Platz ruhig und sah sie ernst, aber durchaus nicht unfreundlich an.

Maja begrüßte ihn höflich.

„Gehörte die Kugel Ihnen?“ fragte sie. Und als der Käfer nicht antwortete, fügte sie hinzu. „Es tut mir sehr leid, sie hinabgeworfen zu haben.“

„Meinen Sie den Tautropfen?“ fragte der Käfer und lächelte etwas überlegen. „Deswegen brauchen Sie sich keine Sorge zu machen. Ich hatte bereits getrunken, und meine Frau trinkt niemals Wasser, weil sie mit den Nieren zu tun hat. Was wollen Sie hier?“

„Was ist dies für eine herrliche Blume?“ sagte Maja, ohne auf seine Frage zu antworten. „Würden Sie so gütig sein, mich zu unterrichten, wie sie heißt?“

Sie erinnerte sich der Ratschläge Kassandras und war so höflich als möglich.

Der Käfer bewegte seinen blanken glänzenden Kopf im Rückenschild. Dies ließ sich leicht und angenehm bewerkstelligen, da er ganz prächtig hineinpasste und lautlos hin und her glitt.

„Sie sind wohl erst von gestern?“ fragte er und lachte, nicht grade höflich, über Majas Unkenntnis. Überhaupt hatte er etwas, was Maja als unfein auffiel, die Bienen waren gebildeter und wussten sich besser zu benehmen. Aber gutmütig schien der Käfer doch zu sein, denn als er sah, wie Majas Wangen sich mit einer feinen Röte der Verlegenheit überzogen, wurde er nachsichtiger gegen ihre Unwissenheit.

„Es ist eine Rose,“ sagte er, „damit Sie es denn also nun wissen. Wir haben sie vor vier Tagen bezogen und sie ist inzwischen unter unsrer Pflege auf das prächtigste gediehen. Darf ich Sie bitten näher zu treten?“

Maja zögerte, aber sie überwand ihre Besorgnis und machte ein paar Schritte. Der Käfer drückte ein helles Blättchen beiseite, und sie betraten nebeneinander die schmalen Gemächer mit ihren hellroten, duftenden Wänden und ihrem gedämpften Licht.

„Sie haben es wirklich reizend“, sagte Maja, die ehrlich entzückt war. „Und dieser Duft hat etwas geradezu Betörendes.“

Dem Käfer machte es Freude, dass Maja Gefallen an seiner Wohnstätte fand.

„Man muss wissen, wo man sich aufhält“, sagte er und lächelte wohlwollend. „‚Sage mir, wo du umgehst, und ich werde dir sagen, wieviel du wert bist‘, sagt ein altes Sprichwort. Ist etwas Honig gefällig?“

„Ach,“ platzte Maja heraus, „das wäre mir wirklich sehr angenehm.“

Der Käfer nickte und verschwand hinter einer der Wände. Maja sah sich glücklich um. Sie schmiegte ihre Wange und ihre Händchen an die zarten rotleuchtenden Vorhänge, atmete den köstlichen Duft tief ein und war beseligt vor Freude, sich in einer so schönen Wohnung aufhalten zu dürfen. Es ist doch wirklich ein großer Genuss zu leben, dachte sie, und diese Behausung ist den dumpfen und überfüllten Etagen nicht zu vergleichen, in denen wir leben und arbeiten. Schon diese Stille ist ganz herrlich.

Da hörte sie den Käfer hinter den Wänden in ein lautes Schelten ausbrechen. Er brummte erregt und böse, und es war Maja, als packte er jemanden, den er unsanft vor sich herstieß. Dazwischen vernahm sie ein helles Stimmchen voll Angst und Verdruss und sie verstand die Worte:

„Natürlich, wenn ich allein bin, dürfen Sie sich herausnehmen, mir zu nahe zu treten; aber warten Sie, wie es Ihnen ergehen wird, wenn ich meine Gefährten hole. Sie sind ein Grobian. Gut, ich gehe. Aber Sie werden die Bezeichnung, die ich Ihnen gegeben habe, niemals vergessen.“

Maja war sehr erschrocken über die eindringliche Stimme des Fremden, die scharf und böse klang. Sie hörte dann noch, wie jemand sich eilig entfernte.

Der Käfer kam zurück und warf mürrisch ein Klümpchen Honig hin.

„Es ist ein Skandal,“ sagte er, „nirgends hat man Ruhe vor diesem Gesindel.“

Maja vergaß vor Hunger zu danken, sie nahm rasch einen Mund voll und kaute, während der Käfer sich den Schweiß von der Stirn trocknete und seinen oberen Brustring etwas lockerte, um leichter atmen zu können.

„Wer war denn da?“ fragte Maja mit vollem Mund.

„Essen Sie bitte erst den Mund leer, schlucken Sie erst herunter,“ sagte der Käfer, „so versteht man Sie nicht.“

Maja gehorchte, aber der erregte Hausbesitzer ließ ihr keine Zeit zu einer neuen Frage. Ärgerlich fuhr er heraus:

„Eine Ameise war es. Glauben denn diese Leute, man sparte und sorgte sich Stunde für Stunde nur für sie. Und so ohne Gruß und Anstand in die Vorratskammern zu dringen! Es empört mich. Wenn ich nicht wüsste, dass es bei diesen Tieren in der Tat Mangel an Lebensart ist, würde ich keinen Augenblick anstehen, sie als Diebe zu kennzeichnen.“ — Er besann sich plötzlich und wandte sich Maja zu:

„Sie verzeihen, ich vergaß mich Ihnen vorzustellen, ich heiße Peppi, von der Familie der Rosenkäfer.“

„Ich heiße Maja,“ sagte die kleine Biene schüchtern, „es freut mich sehr, Sie kennengelernt zu haben.“ Sie betrachtete den Käfer Peppi genau. Er verbeugte sich wiederholt und breitete dabei seine Fühler wie zwei kleine braune Fächer aus. Das gefiel Maja außerordentlich.

„Sie haben entzückende Fühler,“ sagte sie, „einfach süß ...“

„Nun ja,“ meinte Peppi geschmeichelt, „darauf hält man. Wollen Sie auch die Rückseite sehen?“

„Wenn ich bitten darf“, sagte Maja.

Der Käfer drehte die gefächerten Fühler zur Seite und ließ einen Sonnenstrahl darüber gleiten.

„Famos, nicht?“ fragte er.

„Ich hätte so was nicht für möglich gehalten“, entgegnete Maja. „Meine eigenen Fühler sind sehr unscheinbar.“

„Nun ja,“ meinte Peppi, „jedem das Seine. Dafür haben Sie zweifellos schöne Augen und die goldene Färbung Ihres Körpers hat viel für sich.“

Die kleine Maja strahlte vor Glück. Es hatte ihr noch niemand gesagt, dass etwas an ihr schön sei. Sie wurde ganz übermütig vor Lebensfreude und nahm rasch noch ein Klümpchen Honig.

„Es ist eine ausgezeichnete Qualität“, sagte sie.

„Bitte nehmen Sie nur noch,“ sagte Peppi, etwas erstaunt über den Appetit seines Gastes, „es ist Rosenhonig erster Ernte. Man muss sich etwas in acht nehmen, damit man sich nicht den Magen verdirbt. Es ist auch noch Tau da, wenn Sie vielleicht Durst verspüren.“

„Vielen Dank“, sagte Maja. „Ich möchte nun fliegen, wenn Sie erlauben.“

Der Käfer lachte.

„Fliegen und immer fliegen,“ sagte er, „das liegt euch Bienen im Blut. Ich begreife diese ruhlose Art nicht recht. Es hat doch viel für sich, am Platze zu bleiben, finden Sie nicht?“

„Ach, ich fliege so gern“, sagte die kleine Maja.

Der Käfer öffnete ihr höflich den roten Vorhang.

„Ich will Sie noch hinausbegleiten. Ich führe Sie zu einem Aussichtsblatt, von dem Sie bequem abfliegen können.“

„O, danke,“ sagte Maja, „ich kann abfliegen, wo ich will.“

„Das haben Sie vor mir voraus,“ sagte Peppi, „ich habe etwas Mühe mit der Entfaltung der unteren Flügel.“

Er drückte ihr die Hand und schob den letzten Vorhang zur Seite.

„O Gott, der blaue Himmel,“ jubelte Maja, „leben Sie wohl.“

„Auf Wiedersehen“, sagte Peppi und blieb eine Weile auf dem höchsten Rosenblatt sitzen, um der kleinen Maja nachzusehen, die schnell in einer geraden Linie hoch in den Himmel hinaufflog, in den goldenen Sonnenschein und in die reine Morgenluft.

Dann seufzte er heimlich auf und zog sich nachdenklich wieder in den kühlen Rosenkelch zurück. Es wurde ihm etwas warm, obgleich es noch früh war. Er summte sein Morgenlied vor sich hin, das im roten Schein der Rosenblätter und im warmen Sonnenglanz erklang:

Alles steht in gold und grün

warm und sommerlich.

Nur solang die Rosen blühn,

ist es schön für mich.

Meine Heimat weiß ich nicht,

köstlich ist mir dies:

dass ich so im Rosenlicht

meinen Tag genieß’.

Wenig weiß ich von der Welt,

wo ich glücklich bin.

Wenn die Rose welkt und fällt,

muss auch ich dahin.

Und draußen zog langsam der strahlende Frühlingstag über die blühende Erde herauf.

€3,99
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Umfang:
158 S. 14 Illustrationen
ISBN:
9783961183401
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Bookwire
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