Klor bi Anker! Oder Weitere Geschichten vom ersten und wahrhaftigen Leben des Kaftains Blaubeer (Band 2)

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Daher resultierte im Nachhinein nun eine gewisse Hektik am Wrack: Jedes Fahrzeug, das die Unglücksstelle passieren wollte, wurde lange vorher über Funk befragt, ob ihm die Unglücksposition bekannt wäre. Außerdem lagen eine französische Fregatte und ein britischer Wächter stand-by und sorgten mit ihrer Gegenwart für Ordnung und Beachtung. Verständlich, wenn auch das Wrack dicht an oder sogar in den belgischen Hoheitsgewässern lag, wurde extra eine französische Gesellschaft gegründet, die das Abwracken und die Entsorgung leitete. Das erklärte die Anwesenheit der französischen Fregatte, wie mir der Lotse erklärte.

Der leuchtendrote Schiffskörper wurde nun vor Ort in sieben ‚handliche‘ Teile von dreitausend Tonnen zerschnitten, übrigens mit der gleichen Methode, wie auch schon die „Kursk“ ihrer Nase beraubt wurde: Ein mit Diamanten gespickter Spezialdraht mit sägenden Eigenschaften wurde unter dem Wrack in zuvor ausgespülten Kanälen hindurchgesteckt und dann wurde dieser Draht unter Spannung hin und her gezogen, zwar sehr langsam, aber sehr wirksam und effektiv. Die Ladung bestand aus dreitausend hochkarätigen Personenwagen der Marken Volvo, Saab und BMW mit einem Gesamtwert von runden fünfzig Millionen Dollar.

Als wir später die Schleuse passierten und im Hafen ankamen, konnten wir unweit unseres Liegeplatzes eine abgesägte wuchtige Sektion vom Achterschiff des Wracks auf einem Ponton erkennen. Dort am Ufer wurde dann der Rest erledigt, das Kleinschneiden, Auftrennen und Sortieren. Zu diesem Zweck war extra ein Liegeplatz geschaffen worden. Und immer noch wurden die Pkws da rausgeschnitten, sehr teurer Schrott. Außerdem waren große Mengen an Brenn- und Schmierstoffen an Bord gewesen, die noch ganz andere und besondere Vorkehrungen benötigten. Es würde eine gute Weile brauchen, bis das Wrack und seine Ladung endgültig verschwunden waren. Die Versicherungsgesellschaft hatte es zur Bedingung gemacht, dass absolut nichts an der Unfallstelle zurückbleiben durfte, alles musste abgeborgen werden. Auch hier wurde das Geld zur treibenden Macht, denn den Versicherungen könnte es eigentlich schnurz und piepe sein, wie die Umwelt darunter litt, wenn da nicht ihr Geld dranhinge. Es wurde bekannt, dass Tausende verendeter Wasservögel Opfer dieses Unglücks wurden.

Der Zugang zum Hafen von Zeebrugge ist nur nach Passage einer sehr großen Schleuse möglich. So brauchte man sich keine Sorgen zu machen, dass das Wasser infolge Gezeiten ‚verschwand‘ und man auf dem Trockenen säße, was anderenfalls zusätzliche Vorkehrungen seitens des Schiffes und der Verladeeinrichtungen notwendig machen würde.

Wir löschten die Kiwis mit vier Gangs und das ging schön schnell. Geruhsam lagen wir so im Hafen, als ich dann an einem Nachmittag mal wieder von meinem guten, alten Kumpel Hiob kontaktet wurde, oder besser, er suchte meine Nähe. War das nicht nett? Und hatte abermals eine Botschaft für mich vorbereitet: Laderaum 4D, der bewusste, stänke wieder nach Schweröl! Verstärkt und nicht weglüftbar!

Nein! – Nicht schon wieder!

Das Telefon stand nicht still. Reeder und Charterer mussten unverzüglich von der Sachlage informiert werden! Wir bestellten für uns einen Besichtiger. Dazu noch einen, der für den Charterer arbeitete und einen, der dem Ladungsempfänger diente, jeder hatte für sich einen eigenen unabhängigen Besichtiger angefordert. Außerdem musterten noch sieben Leute ab, deren Papiere und Gehälter ich auch noch fertigzumachen hatte. Es war schon etwas Trubel um mich rum. Zu allem Überfluss war der neue Chief Mate eine trübe Tasse und kein helles Licht, so dass ich mich um vieles selber kümmern musste, obwohl eigentlich er hätte sein Licht leuchten lassen müsste. Na ja, ein Russe. Und weil das noch lange nicht reichte, erschien unglücklicherweise der neue – deutsche – Chief Ingenieur ohne gültiges US-Visum.

Nach unzähligen Telefonaten mit der Reederei fiel dann die finale Entscheidung: Der Chief musste wieder nach Hause fahren, sich ein US-Visum besorgen und käme dann, wenn alles gut ging, nach Panama nachgeflogen, um dort abzulösen. Das rief nicht gerade eitel Freude bei dem auf dem Sprung sitzenden alten Chief hervor. Dessen Haussegen hing nun in der Distanz recht schief, konnte man sich ja leicht ausmalen: Die Frau hatte bereits eine Auszeit genommen, alles war bei denen auf Urlaub geschaltet, die Koffer gepackt, der Geist schon längst weit voraus bereits zu Hause und nun das! Verständlich, aber nicht zu ändern! Das war die echte Seefahrt! Keine Chance für Sentimentalitäten, das war Seefahrt und kein Streichelzoo.

Einen der von diesem Umstand direkt Betroffenen kannte ich ja recht gut: Das war nämlich ich selbst! Denn in den nächsten zehn Tagen hatte ich den ungnädigsten, unwirschesten und ungerechtesten Mann neben mir am Tisch drei Mal täglich auszuhalten! Ohnehin ein spezieller Spezialist. Ein Abendbrot ohne ein Glas Spreewaldgurken auf der Back war keines. Ich sprach ihn daraufhin an, weil das ja nun nicht gerade angenehm aussähe: ein Konservenglas mit Schraubdeckel auf der Back zwischen allerfeinstem Porzellan. Sowas kannte ich von zu Hause so gar nicht.

Er schon, wie er mir versicherte, denn nichts wäre schlimmer, als die sauren Grünlinge profan mit der eigenen Gabel zu entnehmen oder sie in eine extra Schale zu legen, gefällig, dem Auge angedient. Nein! Um Gottes willen bloß das nicht! Denn die Keime und der beschleunigte Verderb des Glasinhaltes durch die Einführung einer ‚Fremdgabel‘ wären leicht vorhersehbar. Dazu gab es hier nun ein Extraglas, in dem die Gurkengabel geparkt wurde. Nur mit der, und ausschließlich mit der und keiner anderen, war der Inhalt der Konserve zu entnehmen! Ein Freak! Aber hatten wir nicht alle einen an der Klatsche? Irgendwie und irgendwo? Verhaltensgestörte Seeleute, so nannte meine Frau mit einem Augenzwinkern uns Typen, und hatte damit sicherlich mehr als nur Recht.

Die Inkarnation dieser Gurkenmanie erlebte ich, als ich eines Abends das Etikett der Konserve studierend („Echte Spreewälder …“) und einen Blick auf unseren Wandkalender werfend, etwas lakonisch im Raum stehen ließ, dass genau mit dem heutigen Tag das Verfallsdatum des Glases erreicht wäre. Wie witzig und so ein Zufall, denn eigentlich guckte ja kein Aas (außer den Filipinos, denen so ein aufgedrucktes Datum trotz Unverständnis um die Unterschiede zwischen mindest haltbar bis und zu verbrauchen bis ebenso ein sehr heiliger Gral war) auf diese Angabe. Bestürzt griff sich der Chief den Behälter, und lesen und nach dem Steward rufen waren eines. Sofort verlangte er ein neues Glas, das bitteschön kein abgelaufenes Datum aufweisen dürfe. Seine Stimme klang echt zornig und überaus entrüstet, als wenn ihm jemand ans nackichte Leder wollte. Beschwichtigend redete ich ihm zu, dass es da doch immer Karenzzeiten gäbe und von dieser Konserve, solange schmeckend, keine lebensverkürzende Gefahr ausginge. Barsch ließ er mich wissen, dass nicht umsonst solche Daten da drauf wären und er seine Erfahrungen hätte! Okay?

Meine Nerven wurden in der Folgezeit bis zum Panama Kanal auf keine geringe Probe gestellt. Bei allem Verständnis für seine Lage reichte mir seine ewige Litanei über die Ungerechtigkeit der Welt und insbesondere gegen die Kleinen bald bis Oberkante Unterlippe, so dass wir die letzten Tage kaum mehr als das notwendig Dienstliche miteinander bekakelten.

Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, wurde dann nicht auch noch der Koch abgelöst! Himmel, Herr Gott, hilf! Nun also keine europäische Cousine mehr, sondern eine uns sattsam bekannte von den Philippinen! Das ging auch gleich richtig am Auslauftag schon los, mit Schmackes und Caracho!

Hatte doch der neue Teufel aus der Bulettenschmiede in der Fleischlast die Leber nicht gefunden, dafür aber das Schweinsblut, das die Filipinos zu gerne aßen: Aufgekochtes dickes Blut als Suppe mit Bauchspeck- oder Pansenstückchen als Einlage. Leider mit einem so sehr üblen Gestank verbunden, dass mein Körper darauf nur mit heftigem Würgereiz oder Flucht antworten konnte. Weil der Koch aber sehr wohl wusste, dass der europäische Leckertähn auf dererlei Köstlichkeiten aus Asien gerne verzichtete, gab’s für uns irgendwas anderes, ich glaube, es war Bratwurst oder so. Also was völlig anderes und durchaus ebenso ‚gesund‘.

Blöderweise hatte der Chief nun aber vorher einen Blick in die Kombüse geworfen und das Blut gesehen. Daraufhin strafte er uns durch strikte Nahrungsaufnahmeverweigerung für die nächsten zwei Tage; er wurde nicht mehr an unserer Back gesehen. Weil es ihm zu sehr ekelte, wenn auf einem Herd solche und unsere Gerichte zugleich zubereitet würden, wie er mich wissen ließ. Der Koch könnte ja mal versehentlich die Kellen beim Umrühren vertauschen! Na ja, in diesem Stil ging es dann bis zuletzt.

Der neue Koch wusste gar nicht, wie ihm geschah. Wollte er es doch allen nur recht machen. Er bot dem Chief sofort eilfertig an, alles so zu machen, wie er das auch mochte, wenn er es ihm nur vorher mitteilen würde. Er war offensichtlich über seinen ungewollt schlechten Start ziemlich betrübt. Zu Recht, aber man kann ja nicht in die Nasen reingucken, um sich rechtzeitig auf spezielle Eigenarten vorzubereiten. Schon leicht besorgt habe ich ihn dann beiseite genommen und ihm verklickert, dass der Chief eine besondere Situation zu bewältigen hätte, weil sein Urlaub gekanzelt worden war und dass solche Situation besonders bei Familie Chief seine mitfühlende und vergebende Milde erforderlich machte.

Übrigens war der neue Koch der einzige und wirklich echte Schiffsopa mit seinen dreiundsechzig Jahren. Nicht der Beste, gewisslich das nicht, aber einer der saubersten Köche, die ich je kennenzulernen die Ehre hatte. Der hatte öfter den Putzlappen als den Kochlöffel in der Hand! Was doch auch nicht zu verkehrt war. Zugegeben war doch das Gros seiner Gerichte recht schmackhaft und man musste ja nun auch wirklich nicht alles essen, was aus der Schmiede kam. Wir sollten hier doch nur überleben! Satt machte uns ganz was anderes! Zum Beispiel Lukenprobleme.

 

Wir erhielten noch einen Haufen Ausrüstung und Ersatzteile und Öl aus Deutschland, wo ich auch immer noch ein halbes Auge drauf habe musste, um nichts in die Grütze gehen zu lassen. Und tatsächlich musste das Bier nachgeordert werden, weil irgendwo die beiden Paletten nicht bestellt oder aufgeladen worden waren. Also schnell noch bei einem anderen Schiffhändler nachgefasst und das „Einzig Wahre“ anliefern lassen.

Aber zurück zu unserem Lukenproblem im Hafen von Zeebrugge.

Doch, so stellten die Besichtiger fest, es stänke im bewussten Laderaum auffallend nach Schweröl und auch die Früchte aus diesem Deck würden etwas anders schmeckten. Prophylaktisch wurden auf die Schnelle vierzehn Leer-Container angefordert, die auch bald an der Pier standen, worin die Ladung aus diesem Deck verstaut wurde, um sie von der anderen Ladungsteilen zu separieren. Auch mir reichte man zwei Früchte zum Kosten und ich sollte sagen, welche aus dem bewussten Deck stammte. Ich schmeckte ebenfalls den Unterschied heraus. Die eine Frucht schmeckte nun nicht gerade nach Schweröl, sondern eher unbestimmt nach etwas Chemie, aber definitiv wahrhaftig störend. Tja, wat war ich nich ’n Pechvogel!

Es wurde die Frage gestellt: An wen die Schuldzuweisung zu adressieren sei? Das Schiff? Und wenn ja, warum? Was hatten wir falsch gemacht, die wir doch unsere handwerklichen provisorischen Reparaturen von der Klassifikationsgesellschaft Germanischer Lloyd sogar haben abnehmen lassen! Also versammelten sich schließlich drei Besichtiger, der Kapitän und der Chief Mate in der Luke. Und rochen dort an dem Rohr, welches es als mutmaßliche Ursache des Schadens in die engere Wahl der Jury geschafft hatte. Die undichte Stelle war ja damals in Bolivar mit einer strengen 1:1-Zementmischung abgedichtet worden. Na, ich roch zwar etwas, einen leicht fremdartigen Geruch, hütete mich aber, dieses in Gegenwart der gegnerischen Besichtiger zuzugeben. Auch mein Besichtiger roch nix. Die anderen rochen etwas und der Dritte im Bunde auch wieder nix. Nun konnte es durchaus sein, dass die Chemikalie, die wir zum Anlösen des ausgelaufenen Schweröls verwandten, selbst in die Isolation gesickert war und mit Warmwerden des Laderaumes wieder flüchtig wurde und austrat. Denn definitiv hatten wir während der Überreise nichts gerochen. Und unser Augenmerk war auf diesen Umstand in diesem Deck definitiv fokussiert gewesen! Die täglichen Kontrollrunden des Chiefs Mates (Pulptemperatur) waren nachgewiesen und wir selbst hatten ja ein übergroßes Interesse, Mängel sofort zu beseitigen oder aufzuspüren. Und nun das!

Übrigens erfuhr ich später, was der Flug der anderthalb Container Reparaturmaterialien nach Ecuador und die beiden Spezialisten gekostet hatten: rund sechshundert Riesen! Netter Spaß, wenn sich das nun wiederholen sollte! Not haben war immer auch teuer, da konnte man schon zulangen, wenn der andere gar nicht anders konnte als den Preis zu zahlen.

Schließlich entnahmen sie Luftproben vom Laderaum, die an der Uni von Antwerpen untersucht werden sollten, deren endgültige Ergebnisse aber binnen Wochenfrist nicht zu kriegen sein würden. Schöne Aussichten!

Weil unsere Meinungen soweit auseinanderdrifteten, was den Geruch anbetraf, dort der Verfechter des Ladungsempfängers, der sagte, dass durch Schuld des Schiffes die Ladung dieses Decks verdorben worden sei, hier wir, die wir auf dem Standpunkt standen, dass es gar nicht röche oder nur vernachlässigbar gering, wenn überhaupt. Als Dritter der Besichtiger des Charterers, der meinte, dass er ebenfalls nichts riechen könne, so musste eine finale Entscheidung her! Der Empfänger ließ durchklingen, dass er durchaus eine gerichtliche Entscheidung anstreben würde, wenn wir auf unserem Punkt beharren würden. Ich ließ mich aufklären, weil ich davon viel zu wenig verstand, dass dies bedeuten würde, dass ein vom Gericht bestellter Gutachter hier seinen vereidigten Riechkolben reinstecken würde, um mal reinzuriechen und zu Protokoll zu geben, dass es stänke oder dass es eben nicht stänke. Sein Urteil wäre dann bindend für alle Besichtiger und Gutachter, egal welchen Coleurs als Richtlinie. Da würde es dann nix mehr dran zu rütteln geben.

Aber es war wieder einmal Wochenende, und da solche Gerichtsbarkeiten schon gar nicht an Wochenenden – ganz im Gegensatz zu Elefanten und ehrlichen Seeleuten – arbeiteten, musste das Schiff, bis man denn weiterkönnte, arrestiert werden. Also ab an die Kette!

Sagt man so, bedeutete in unserem Fall, dass es dem Schiff per gerichtlichen Strafbescheid polizeilich verboten wurde, den Hafen zu verlassen. Was ja hier eh nicht ging, von welcher Warte man das auch betrachten wollte, denn die Schleuse, durch die wir immer mussten, stand ja eh nicht unter meiner Fuchtel. Insofern hatte dieser Arrest eher nur eine theoretisch-juristische Seite, denn eine praktische.

Zu guter Letzt erhielt aber der Riechende einen Anruf, der alles klärte. Die ersten flüchtigen Ergebnisse, bei Gott nicht die gesamte Spektralanalyse, der Geruchsproben besagten, dass die und die Kohlenwasserstoffe, die eben nur im Schweröl zu finden wären, in dem und dem Maß vorlägen. Und die schienen eindeutig und zweifelsfrei über den zulässigen EU-Werten zu liegen. Na, das war es ja dann wieder mal! Für die betroffene Ladung wurde eine Bankbürgschaft verlangt, die die Reederei hinterlegen musste und damit wurde der Arrest aufgehoben und wir durften wieder auslaufen.

Wie ich später erfuhr, konnte aber die gesamte Ladung zu ihrem vollen Wert und unter dem Strich ohne Schaden für die Reederei verkauft werden. Auch die Bürgschaft wurde voll zurückgezahlt. Die Ladungsempfänger begasten die betroffene Kiwi-Partie und behandelten sie mit Ozon und konnten so die Kohlenwasserstoffe fein rauskriegen. Wie genau das geschah, entzog sich natürlich völlig meiner Kenntnis. Aber wer mit Insektiziden, E-Nummern, Pestiziden und Nahrungsmitteln handelte, dem war sicherlich kein Trick unbekannt, aus brauner Paste Köstlichkeiten zu zaubern und somit auch ein solches Wunder möglich zu machen.

Nachdem ich meine sechs Leute ab- und sieben angemustert hatte, die Ladung gelöscht und Ausrüstung an Bord genommen worden war, konnten wir endlich ungestraft und ungestört auslaufen. Und mal ehrlich: Es fiel mir nicht schwer, diesem Hafen meinen Rücken zu kehren. Bloß wech! So schön es auch war, wieder mal in Europa zu sein, Besuch und Zeitungen zu kriegen, so schön war es doch immer wieder, dem Ganzen „Auf Wiedersehen“ zu sagen. Das Allerschwerste beim Abschiednehmen war ja immer, die aufkommende Freude darüber zu verbergen, dass man abhauen durfte. Am Schlimmsten war noch immer Deutschland. Denn da kamen zusätzlich auch immer noch Leute der Reederei mit klugen Fragen und Ratschlägen, die kaum Rücksicht auf die privaten Belange des Einzelnen nahmen. Nee, Europa: Gut und schön, aber einfach war das nicht.

Nun volle Pulle wieder zurück zum Krummfruchtholen nach Puerto Bolivar. Dort, in unserem zweiten ‚Heimathafen‘, ließ man uns wenigstens mehr in Ruhe, was jedoch auch nicht immer die beste Lösung war, besonders, wenn man irgendwelche Hansels mal wirklich dringend brauchte. So gesehen waren wir schon Gefangene des ewigen Ying-Yang-Dingens, nie war alles gut, nie war alles schlecht. Es kam darauf an, wie man sich selbst eingestellt hatte und gewillt war, es zu betrachten, dass man neben all dem alltäglichen Frust auch immer noch etwas Schönes und Bewahrenswertes für sich herauspickte, das zählte dann unterm Strich! Nicht etwa der Ärger und die liebe Not mit irgendwelchen Ländern und Leuten!

Hansa Victory (2003/04)

Landgang in Guayaquil

Lukenprobleme #3

US-Port State Control in Hueneme

Wo bleibt das Wasser?

Der legendäre Long Island Ice Tea

Rechnen bis 100 mit Richard

Werftzeit in Dalian

Landgang in China

Einige Macker der Neuzugänge stellten sich schon nach kurzer Zeit als Glücksgriff der feinsten Sorte heraus. Der dritte Nautiker, der sogar ein ganzes Kapitel für sich selbst in Anspruch nehmen wird, und der zweite Nautiker, Elektriker sowie der neue dritte Ingenieur waren allerdings nur für eines gut: Gesprächsstoff zu sein für den Chief und mich. Wenn wir uns täglich austauschten, was die nun schon wieder angestellt hatten. Nee, wat warn doch die beiden Russen gut gewesen, die bislang hier waren! Es war nun dunkelste Nacht da, wo vorher eine pralle, satte Sonne schien.

Mit dem dritten Leutnant freundete ich mich auch gleich ‚herzlich‘ an, weil ich schnell merkte, dass der, wie schon sein Filipino-Kollege auf der „Dagobert Maersk“, des kleinen Einmaleins nur dürftig – und auch nur in Ansätzen – mächtig war. Der Leser vermag es sich nicht vorzustellen, wenn er das jetzt liest: Ein Nautiker, der ein richtig ausgewachsen-großes, stählernes Schwimmschiff durch die Meere steuerte, dem zwanzig Leute, Ladung und das Schiff selbst im Wert von, na sagen wir mal insgesamt so vielleicht hundertfünfundfünfzig Millionen Dollar, anvertraut wurden, der wirklich und wahrhaftig siebzehn mal drei nicht im Kopf ausrechnen konnte! Im Zwanzigsten Jahrhundert, wo Lese/Schreibunkundige und Rechenschwächler nur noch in geringverdienenden Schichten gehäuft auftreten konnten!

Na gut, zugegeben, das mit ‚siebzehn mal drei‘ war schon etwas schwierig, wie wär’s mit Sieben mal Sechs? Tja, da grübelte der Teufel dann für eine lange Weile und antwortete fragend: „Fourty-eight?“ Das war ein echtes Fragezeichen am Schluss, richtig! Okay, gaaanz ruhig! „Wie viel wäre also einmal die Sechs?“ Richtig! Und immer schön loben, wenn das Hündchen das Stöckchen zurückgebracht hat! „Fein gemacht! Gut. Und jetzt! – Aufgepasst! Was gibt uns – Zwei mal Sechs?“ – „Twelve!“ Auch richtig! Das war ja suuuuper! Da war ja ein ganzer „Euler“ oder „Gauß“ im Stück an ihm verloren gegangen! Gut so! Also dann: … und so weiter und so fort. Und bei Sechs mal Sechs muss man doch nur noch eine Sechs hinzuzählen! Und? – Und? – „Fourty-two!“ Ein strahlendes Gesicht stand vor mir. Dieser Tag war nicht umsonst! Er hatte etwas richtig – und ganz allein! – herausgefunden. Stimmte schon, nicht wirklich ganz allein, aber dafür auch schon mit einer recht komplizierten und trickreichen Berechnung! „Yes, well done, buddy!“ So einfach war also das Malnehmen - Pardon: Rechnen bis fünfzig! War das zu glauben? Da stand ich wut- und schaumgebremst vor so einem abgebrochenen mathematischen Genie und fragte den das kleine Einmaleins ab? Nur weil einer meiner Vorgänger, ein Berufskollege, den ich, nebenbei bemerkt, eigentlich als sehr ackurat und gewissenhaft kannte, ich war mit dem lange vor der Wende für viele Monate zusammen Wache gegangen, diesen Kretin als für beförderungswürdig befunden hatte? Weiß der Geier, warum ausgerechnet diesen hier und nicht den Koch oder zur Abwechslung mal einen Analphabeten? Könnte sich der Alte ja mal drum kümmern, hatte ja sonst nix zu tun.

Ja, war ich denn völlig bekloppt?

Um ehrlich zu bleiben, Richard, so sein Vorname, war immer freundlich und stets bemüht, den Anforderungen gerecht zu werden. Nur eben, dass er ihnen nie gerecht werden konnte, weil sein Gehirnschmalz von unzureichender Qualität und darüber hinaus auch noch quantitativ völlig unzureichend vorhanden war. Mit ihm hatte ich später noch wirklich einen Affentanz, dazu dann weiter unten mehr und ausführlicher. Man kam jedoch nicht umhin, sich zu fragen, wie konnte es geschehen, dass dieser junge, zukunftsorientierte Mensch einen Abschluss auf einer maritimen Schule erreichen konnte?

Hatten die da nie rechnen müssen, nie Zahlen bis fünfzig? Oder waren die mit implantiertem Taschenrechner zur Welt gekommen, der bei ihm nur wegen schwacher Batterie die Ergebnisse so holperig ausgab? Es war mir völlig schleierhaft, wie so ein lebendes Vorkommnis das Studium erfolgreich absolvieren konnte! Zum ersten Mal in meiner Karriere konnte ich mich langsam tatsächlich mit dem Gedanken anfreunden, weil das Problem nun ein fassbares, freundliches und gemütliches Gesicht hatte, nämlich dass man Patente auch einfach kaufen konnte. So weit hergeholt schien das wohl nicht zu sein. Sei’s drum, ich hatte somit wieder den schwarzen Peter, täglich bis Mitternacht aufzubleiben, um den Teufel zu beobachten und mal nach vorne aus dem Bulleye zu gucken, dass bloß ja kein Fahrzeug zu dicht käme.

 

Weil wir in der Deckscrew zwei Leute hatten, die zwar ein gültiges Nautiker-Patent besaßen, aber noch nie als Nautiker gefahren waren, teilte ich dem Chief Mate mit, dass ich es wünschte, dass diese beiden während ihrer Wache etwas mehr in die Arbeit der Nautiker einbezogen werden sollten, wenn sie das denn wollten. Nur so als meine ‚geheime‘ Reserve für den Fall des Falles. Denn ein gutes Gefühl wollte sich bei mir nicht einstellen. Und so geschah es, dass diese beiden begannen, auf der Wache die normalen Wachsarbeiten des Offiziers zu verrichten, die der amtierende Wachoffizier dann nur zu überprüfen hatte, damit sie halt etwas Übung kriegten und alles, was im Laufe der Jahre verschütt’ gegangen war, wieder eine Auffrischung erführe. Natürlich übertrieb der Chief Mate das, indem er seinen Schützlingen auch erlaubte, in Dokumenten zu unterschreiben, was selbstverständlich nicht gesetzeskonform war und ich meinen Einspruch erheben musste, aber die beiden machten sich vielversprechend gut.

In Ballast fuhren wir nach Panama, das war dann schon was anderes, als mit vollem Schiff. Und wer wie ich nämlich gedacht hatte, die gleichen Bedingungen wie hinzu zu haben, sollte sich gründlich getäuscht haben. Denn jüngst hatte man ein Tief wohl gesehen, wie es sich zu einem gefährlichen Wirbelsturm, der später den schönen Namen „Isabel“ erhielt, mauserte, der aller Voraussicht nach über die Stelle düsen würde, an der wir die Karibik entern wollten. Die Meerenge zwischen der kleinen Insel Mona bei Puerto Rico und der Dominikanischen Republik gelegen, die genau nach ihr benannt worden war: die „Mona-Passage“. Und richtig: Das Wetter-Routungs-Büro empfahl uns – immer wieder gerne – eine drastische Kursabweichung, um diesem bösen Finger aus dem Wege zu gehen. Denn es war seit Jahren wieder mal einer der ganz großen Stürme, der sich über Kuba und Florida austoben würde. So liefen wir in die Karibik bei Guadeloupe ein, viel weiter südöstlich gelegen. Dass wir nun trotzdem eine Verspätung eingefahren hatten, stand auf einem anderen Blatt und war uns nicht anzulasten. Leer konnten das Schiff und wir eben nicht viel ab. In Cristobal angekommen, erging an uns die Weisung, draußen zu ankern, das hieß also vor den Molen. Wo der Schwell stand. Bis zum Mittag durften wir warten, ehe wir auf die innere Reede verholen konnten. Nun endlich Ruhe und Beine hochnehmen, denn die Nacht würde kurz werden und die Beine dann immer länger. Es erschien endlich der neue Chief, nun mit gültigem Visum und der alte verholt sich auf der Stelle. Schließlich auch wieder mit breitem Grinsen und zum alten, gemütlichen Sachsenhumor auflaufend. Hatte der’s gut! Es war ihm sehr gegönnt. Nun konnte er sich täglich den Spreewaldgurken hingeben und musste nicht befürchten, dass seine Mami die Kelle beim Kochen versehentlich mal vertauschte. Hofften wir mal, dass die da nicht noch Wäsche auf dem Herd kochten. Das wäre ja gar nicht auszudenken!

Der neue Chief war Anfang fünfzig und lebte eigentlich in Kanada, wo er sich ein Haus gekauft hatte. Kam aber ursprünglich aus der Nähe von Celle. Nun also mitten in der kalten kanadischen Einöde! Das nächste Dorf fünfunddreißig Kilometer weg und er mutterseelenallein in seiner Holzhütte. Ein Mensch, der mir so einige Rätsel aufgab. Was macht ein gesunder, ökologisch denkender, technisch versierter, aus guten Kreisen stammender, eher links denkender, sarkastisch und zynischer, aber humoriger Mann, gut und gerne einsneunzig groß, allein in der Wildnis? Komisch, komisch. Mit ein wenig Fantasie sah er aus wie Alice Cooper in seinen besten Jahren, natürlich ohne schwarzgeränderte Augen und Blutspur an den Mundwinkeln. Später erfuhr ich aus seinen Erzählungen, dass er drei Huskies sein Eigen nannte, seine engsten Freunde, Indianer, in seiner unmittelbaren Nachbarschaft lebten und dass er alle drei Monate mal eben schnell die Grenze zur USA überqueren musste, weil er sich wegen Fehlens einer ständigen Aufenthaltsgenehmigung nicht länger als neunzig Tage am Stück in Kanada aufhalten durfte. Das waren schon abenteuerliche Bedingungen zum Leben! Wasser per Eimer aus dem nahen See, Notdurft in der Wildnis und zum nächtlichen Wärmen die Köter mit ins Bett nehmen! Im richtigen kanadischen Winter den Truck die ganze Nacht laufen lassen, weil man ihn sonst am nächsten Morgen nicht ankriegte, mein Gott, was für Bedingungen! Das formte sicherlich einen solchen Waldläufer, der das lebte, wovon andere, mich nicht ausgeschlossen, heimlich träumten.

Schnell fanden wir jedoch die Drähte, wo wir auf gleicher Wellenlänge arbeiteten. Ein Hauptdraht war dieser: Was wäre, wenn wir die Filipinos nicht hätten. Oder ein anderer: Gute Küche. Oder: Was könnte man gegen Liederlichkeit und Sorglosigkeit der Leute unternehmen. Manchmal musste ich auch bremsend einwirken, wenn er zu viel des Schlechten aus der Maschine an den Abendbrottisch mitbrachte. Es war aber auch nicht immer leicht, mit begriffsstutzigen Insulanern zu arbeiten, die noch nicht mal verstanden, was man von ihnen wollte. Ähnlich ging es uns an Deck. Seine Anspruchslatte lag in der Tat extrem hoch. Da konnten die Filipinos und Russen aufrecht unter durchlaufen ohne sich den Kopf zu stoßen. Ich hatte sie für mich schon ein paar Zentimeter runtergehängt, um überhaupt einige kleine Erfolge bei meinen Spezialisten zu erreichen.

Nun denn, eine kurze Nachtpassage, schon gegen 0030 hatten wir die andere Seite Amerikas erlangt! Fluffig und ohne Pause durch den Graben, hatte man auch zu selten! Herrlich, so früh schon zur Ruhe zu kommen! Auf der anderen Seite, in Balboa, erwischte uns ein so extrem starker Schauer, dass auf dem Radar rein gar nix mehr zu erkennen war und wir in der Nock während der Schleusung nass wurden wie noch nie im Leben, es war, als stünde man unter einem Wasserfall. Nur gut, dass das Wasser angenehm lau war. Aber vom Scheitel bis zur Sohle: Wasser. Das slapstickhafte Ausgießen der Schuhe inbegriffen. So ein Schiet! Aber wat möt – dat möt.

Puerto Bolivar, mein heimlicher zweiter Heimathafen, hatte uns zwei Tage später wieder. Unzählige Male war ich hier nun schon gewesen und höchstens eine Handvoll Male an Land. Diesmal ließ ich mich nicht lange betteln, als sich der Fahrer der Agentur anbot, mich in die Stadt Marchalla mitzunehmen. Keine zehn Minuten Weg, immer am Schmutz und Dreck, der die Straße säumte, vorbei und um waschzubergroße Löcher im Asphalt herum. Wie die hier bloß nachts fahren konnten? Eines der vielen Rätsel Südamerikas. Denn Straßenbeleuchtung gab es so gut wie keine und Licht an den Autos sah man eher ausnahmsweise. Dafür aber jede Menge Hupen! Das war schon abenteuerlich.

In Marchalla brachte er mich zu einem Markt, wo ich ein paar Postkarten und anderen Kleinkram kaufen konnte. Die Straßen verstopft, die Luft angefüllt mit schnatternden Leuten, schreienden Marketendern, Motorenlärm und Mopedgeknatter, über allem aber das nie versiegende Hupenkonzert – unbeschreiblich. Die Götzen der Regierungsmacht in Gestalt hilfloser Verkehrspolizisten, die mit ihrem sinnlosen und lächerlichen, aber um Aufmerksamkeit heischendem Getriller und hektischen Armbewegungen den Verkehr vermeintlich zu regeln versuchten, die bunte Menschenmenge, die scheinbar ziellos hin und her wogte, dazwischen Kinder, die sich an haltende Autos heranpirschten, um Lotterie-Lose oder Tinnef zu verhökern, das alles vermittelte dem Betrachter ziemlich stark: Südamerika am Nachmittag, wochentags gegen halb drei. Nach zwei Stunden bat ich meinem Fahrer, mich wieder zurückzubringen. Das war’s, nichts versäumt, nur eben mal um die Ecke geguckt.