Manila oder Revolution und Liebe

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Was also sollte er tun?

2. KAPITEL: IM SÜDCHINESISCHEN MEER

1899. Einige Zeit später. Hunderte von Seemeilen entfernt.

Mit acht Knoten pflügt das Kanonenboot Iltis mit seinen beiden qualmenden Schornsteinen unter einer erbarmungslos brennenden tropischen Sonne durch die sanften, tiefblauen Wellen des Südchinesischen Meeres. Auf der Brücke schaut der Erste Offizier Hans Thomsen immer wieder besorgt an den Horizont. Mittlerweile kennt er die tropische Idylle. Sie trügt. Schon innerhalb kürzester Zeit kann das Wetter völlig unvermittelt umschlagen. Ehe man sich versieht, befindet man sich inmitten eines gefährlichen Taifuns mit meterhohen Wellen. Wenn man darauf nicht vorbereitet ist, kann es für Mannschaft und Schiff tödlich ausgehen.

Auf der anderen Seite kann Thomsen sich nicht nur auf seine Mannschaft, sondern auch auf sein Schiff verlassen. Iltis ist ein nagelneues Kanonenboot, das sich auf der mittlerweile monatelangen Reise, die hinter ihnen liegt, bewährt hat. Neben Schießübungen vor der malaiischen Insel Langkawi hat Iltis auch schon in der Straße von Malakka mit scharfer Munition erfolgreich auf Piratenschiffe gefeuert. Zwar gehört es mit seinen neunhundert Tonnen Wasserverdrängung nicht zu den großen Kampfschiffen, aber mit seinen 8,8 cm Schnellfeuerkanonen und 3,7 cm Revolverkanonen ist es ein durchaus ernst zu nehmender Gegner. Außerdem ist die knapp einhundertdreißig Offiziere und Mannschaften umfassende Besatzung bestens ausgebildet und hoch motiviert, so wie es sich für ein Schiff Seiner Majestät Kaiser Wilhelms II. eben gehört.

Trotzdem wäre Thomsen wohler, wenn sein Kapitän Wilhelm Kurz auf der Brücke wäre. Noch nie in seiner Seemannskarriere ist Thomsen, auch wenn sie noch nicht allzu lange währt, unter einem seemännisch und persönlich so anerkannten Kapitän auf hoher See gewesen. Umso ehrlicher ist Hans Thomsens Wunsch, seinen Kapitän wieder bei voller Gesundheit zu sehen.

Zwischendurch lässt Thomsen sich immer wieder vom Schiffsarzt Dr. Brandt Bericht über den Zustand seines Kapitäns erstatten. Jedes Mal völlig angespannt lauscht er den Worten des Arztes.

Dabei ging alles so plötzlich. Gerade als sie aus dem Hafen von Singapur ausliefen, passierte es. Zusammen standen sie noch auf der Kommandobrücke, als urplötzlich Kapitän Kurz an allen Gliedern zu zittern anfing. Schweiß stand ihm auf der Stirn und er begann zu wanken. Dann gelang es Thomsen nur noch geistesgegenwärtig den Sturz seines Käpt´ns zu verhindern. Sofort ließ Hans Thomsen den Schiffsarzt rufen, der veranlasste, dass Wilhelm Kurz in die Krankenstation gebracht wurde. Seitdem liegt der Kapitän dort und Dr. Brandt kümmert sich mit den recht bescheidenen Mitteln eines Bordarztes rührend um seinen Kapitän, den der Arzt auch persönlich sehr schätzt. Kapitän Wilhelm Kurz ist kein sturer Kommisskopf, sondern jemand, dem seine ihm anvertrauten Leute wirklich am Herzen liegen.

In seinem Büro im Government House in Singapur sitzt Gouverneur Sir Charles Mitchell an dem aus Mahagoni gefertigten dunklen Schreibtisch. Hinter ihm thront eine Statue von Königin Victoria. Genauso dunkel wie der Schreibtisch ist auch die Miene des Gouverneurs. Sogar die vier Brandy, die er schon zu sich genommen hat, können seine Stimmung nicht aufheitern. Dabei dauert es eigentlich noch zwei Stunden, bis die Zeit für den traditionellen Sundowner in den Tropen angebrochen ist. Die Wangen des zweiundsechzigjährigen Sir Charles haben eine glühend rötliche Farbe angenommen, die nicht nur der Tropensonne geschuldet ist.

Auch der Blick aus dem jalousieartigen Fenster, der an den standbildhaften Säulen vorbei auf die an die berühmten englischen Gärten erinnernden imposanten Außenanlagen geht, muntert Sir Charles nicht auf. Seine Stimmung ist düster, sehr düster. Seine ohnehin enganliegenden Augen mit den dunklen, dichten Augenbrauen scheinen nur noch schmale Schlitze zu sein. Immer wieder fährt er sich mit den Fingern seiner linken Hand nervös über seinen Vollbart, der mit dem Schnauzer zusammengewachsen seinen länglichen Kopf umrahmt.

Ihm gegenüber sitzt sein Stellvertreter Francis Burton, dem die Sorgenfalten auch deutlich auf die Stirn gezeichnet sind.

Mit zusammengezogenen Augenbrauen und tiefer, ernster Stimme wendet sich Sir Charles an seinen Stellvertreter: „Diese verdammten Deutschen. Davongeschlichen haben sie sich. Aus meinem Singapur“, dabei haut Sir Charles wutentbrannt mit seiner rechten Faust auf den Schreibtisch. Francis Burton schrickt hoch.

„Alle haben versagt! Jawohl, versagt!“, setzt der Gouverneur aufgewühlt seine Tirade fort.

„Fort ist er, der Geheimbericht. An Bord von Iltis. Eine verfluchte Sauerei ist das. Alle haben versagt!“, wiederholt Sir Charles, weiterhin wutentbrannt.

„Unsere Agenten, die Chinesen, die wir für teures Geld angeworben haben. Verdammte Schlitzaugen. Was soll ich jetzt nur nach London berichten? Peinliche Angelegenheit“, bei diesen Gedanken etwas kleinlauter werdend.

„Erzählt der verfluchte Kurz unserem Hafenkommandanten von Penang etwas von Schießübungen, die die Deutschen vor der benachbarten Insel Langkawi abhalten wollen. Der glaubt das auch noch und ist froh, dass das Abfeuern der Schiffsgeschütze außerhalb von Penang stattfindet und er seine Ruhe hat. Und was hat der teuflische Deutsche im Sinn?“

Die kurze Pause nach dieser Frage, die Burton zu Recht als eine rhetorische interpretiert, nutzt der Gouverneur, um an seinem Glas Brandy zu nippen.

„Natürlich, er will auskundschaften, ob Langkawi für das Deutsche Reich als Marinestützpunkt geeignet ist. In unserem Einflussgebiet. Konkurrenz zu unserem Penang. Damit die Deutschen auch den Eingang zur Straße von Malakka kontrollieren können. Und das alles für seinen angeberischen, bei jeder Gelegenheit tönenden Kaiser Wilhelm. Man darf das von einer kaiserlichen Hoheit eigentlich nicht sagen, aber ein Großmaul ist Seine Majestät schon. Jawohl!“

Und haut, wie um diese Worte zu unterstreichen, mit der Faust wieder auf den Tisch.

„Von der Empfehlung von dem Kurz hängt es ab, ob die Teutonen Langkawi in ihren Besitz bringen wollen. Wir müssen erfahren, ob er diese Insel als geeignet ansieht oder nicht, damit wir handeln können. So nahe waren wir an dem Geheimbericht schon dran. Hier in Singapur. In unserer Kronkolonie. Und dann macht der verdammte Deutsche Tabularasa und entkommt aus der Falle, die wir ihm in Chinatown gestellt haben. Serviert der Kurz doch tatsächlich die Kerle, die ihm aufgelauert haben, ab. Na gut, Respekt. Muss man ihm schon lassen. Gegen eine Übermacht. Dabei sind diese dummen Schlitzaugen dort zu Hause. Außer am Hafen stehen und der davondampfenden Iltis irgendwelche Flüche hinterher zu rufen, fällt denen dann auch nichts mehr ein. Dummköpfe!“, ruft Sir Charles unwirsch aus und schüttelt den Kopf.

Von seinem Redeschwall erschöpft, lässt er sich nach hinten an die Lehne seines Sessels sinken. Seine Arme rudern hilflos hin und her.

„Alles, was meine Agenten mir dann berichten können, ist, dass ihnen aufgefallen ist, dass in der Entourage von Prinzessin Irene, der Ehefrau von Prinz Heinrich, dem Bruder dieses Angebers Wilhelm Zwo, anscheinend jemand fehlt und nicht mit abgereist ist. Angeblich die erste Hofdame. Das fanden die sehr merkwürdig. Und hatten nichts Besseres zu tun, als mir davon zu berichten. Ja, und wenn schon. Interessiert mich nicht. Diese Luschen. Mich interessiert nur dieser verdammte Ge - heim - be - richt“. Dabei jede einzelne Silbe betonend.

Mit seinem Taschentuch wischt sich Sir Charles den Speichel aus den Mundecken und fährt anschließend mit demselben Tuch über seine schweißnasse Stirn. Mit einem weiteren kräftigen Schluck Brandy versucht er seine Nerven zu beruhigen.

Stille im Raum. Nur das hastige Atmen von Sir Charles ist zu hören. Selbst draußen stellen die Zikaden ihr ansonsten ohrenbetäubendes, scharfes schnarrendes Rasseln vorübergehend ein.

Mit betont ruhiger Stimme bemerkt Francis Burton nur: „Sir Charles, Sie haben vollkommen recht.“

Diese wohlgesetzten Worte - schließlich kennt Francis Burton seinen Chef schon lange - scheinen eine beruhigende Wirkung zu haben.

Mit leiser, ja überraschend sanfter Stimme, fragt der Gouverneur seinen Stellvertreter seufzend: „Was schlagen Sie vor, Francis?“

„Was meinen Sie?“, fragt der Erste Offizier seinen Steuermann. „Wie lange können wir diesen Kurs fortsetzen, bis wir uns entscheiden müssen, ob wir Hongkong anlaufen oder direkt nach Tsingtau fahren?“

„Nicht mehr lange, Käpt´n. Vielleicht noch drei oder vier Stunden. Dann müssen Sie eine Entscheidung treffen.“

Ruhig dampft das Kanonenboot Iltis durch die noch sanft rollenden Wellen des dunkelblauen Südchinesischen Meeres. Nur in Hans Thomsens Kopf ist es nicht ruhig. So manche Gedanken schwappen durch sein Gehirn.

Thomsen steht mit seinen Gedanken alleine auf der Kommandobrücke. Entscheidung treffen, geht es durch seinen Kopf. Die Krankheitslage seines Vorgesetzten Kapitänleutnant Wilhelm Kurz ist alleine ausschlaggebend. Wo kann er am besten behandelt werden? Die richtige Antwort steht eigentlich außer Frage. Natürlich in Tsingtau von unseren tüchtigen deutschen Ärzten.

Selbstredend.

Aber es schleichen sich Zweifel in diesen Gedankengang ein. Was ist, wenn sich der Gesundheitszustand vom Kapitän verschlechtert? Zurück nach Singapur? Noch ist Iltis nicht allzu weit entfernt. Eine Umkehr wäre jederzeit möglich. Oder doch Zwischenstation in Hongkong machen? Dort soll es auch recht gute Hospitäler und Ärzte geben. Wenn auch nur Engländer.

Quälend nisten sich diese Gedanken in Hans Thomsens Kopf ein.

Zurück nach Singapur wäre die schnellste Möglichkeit.

 

Kurzes Nachdenken.

Ja, das sollte, nein, das müsste Thomsen im Hinblick auf den besorgniserregenden Gesundheitszustand von Kapitänleutnant Wilhelm Kurz befehlen. Also gut. Umkehr nach Singapur.

Schon will er den Befehl geben, als ihn ein anderer Gedanke zögern lässt.

Hans Thomsen denkt noch einmal an die Abreise aus Singapur. Irgendetwas war anders, ja geradezu ungewöhnlich, wenn er jetzt genauer darüber nachdenkt.

Seit der Abreise aus Kiel im Februar des Jahres hat Hans Thomsen seinen Kapitän Wilhelm Kurz als einen ruhigen und umsichtigen Kapitän kennen und schätzen gelernt. Geradezu unaufgeregt hat er alle Beschwernisse, wie das mühselige und demütigende Kohlen im englischen Colombo auf der Insel Ceylon, hingenommen. Auch seinen Geheimauftrag zur Erkundung der Insel Langkawi als möglichen deutschen Stützpunkt am Eingang zur strategisch wichtigen Straße von Malakka hat er bravourös gemeistert. Doch dann muss irgendetwas in Singapur vorgefallen sein.

Kapitän Kurz hat sich in den Tagen in Singapur verändert. Er war kaum an Bord. Klar, als Kapitän der kaiserlich-deutschen Marine hatte er zahlreichen Verpflichtungen nachzukommen. Außerdem wollte er einen alten Schulkameraden, der bei dem dortigen Handelshaus Behn, Meyer & Co. angestellt war, treffen. Hinzu kam noch der Besuch Ihrer Königlichen Hoheit Prinzessin Irene von Hessen-Darmstadt, Gemahlin des Kaiserbruders und Kommandeurs des Ostasiatischen Kreuzergeschwaders, Prinz Heinrich von Preußen.

Soweit ist alles nachzuvollziehen, sinniert Hans Thomsen vor sich hin. Aber dennoch.

Irgendetwas war anders.

Irgendetwas stimmte nicht.

Aber was?

Ja, schießt es Thomsen urplötzlich durch den Kopf.

Diese Koffertruhe. Auf einem Mal wurde ein kleiner Trupp Soldaten abkommandiert, um sich ins Hotel de L´ Europe zu begeben, wo Ihre Königliche Hoheit logierte. Dann kamen sie mit drei schweren Koffertruhen zurück an Bord. Auf ausdrücklichen Befehl von Kapitänleutnant Kurz musste eine sofort in den Kühlraum des Schiffes gebracht werden. Dann sollte dieser verschlossen und der Schlüssel unverzüglich vom Wachhabenden an den Kapitän nach dessen Rückkehr an Bord übergeben werden. Ausdrücklicher Befehl des Kapitäns. So hieß es klar und deutlich.

Schon merkwürdig. Eine Koffertruhe im Kühlraum.

Aber in Ordnung. Befehl ist Befehl. Außerdem gab es viele andere wichtige Dinge an Bord vor dem Auslaufen zu organisieren und zu kontrollieren. Da hatte er, Thomsen, keine Zeit, sich Gedanken zu machen.

Aber jetzt. Wenn er darüber nachdenkt. Eigentlich schon sonderbar.

Dann die doch überhastete Rückkehr von Kapitänleutnant Wilhelm Kurz. Zwar versuchte er seine übliche Haltung zu wahren, doch er schien durcheinander zu sein. Ungewöhnlich für ihn.

Anschließend der Befehl, sofort auszulaufen. Obwohl wir noch einige Tage hätten in Singapur bleiben sollen. Dringender Befehl vom Kommandeur Prinz Heinrich, so Kapitänleutnant Kurz.

Sonderbar. Es gab keinen ersichtlichen Grund für die überstürzte Abreise.

Immer wieder schaute Kapitän Kurz sich nach dem Auslaufen um. Richtung Hafen. Der Käpt´n wirkte anders, aufgekratzt, aufgewühlt. Ja, dachte Hans Thomsen, diese Worte treffen den Zustand des Käpt´ns am besten.

Und dann dieser urplötzliche Zusammenbruch auf der Kommandobrücke. Gerade noch rechtzeitig gelang es Hans Thomsen seinen Kapitän aufzufangen, bevor er zu Boden stürzte.

Seitdem liegt der Kapitän auf der Krankenstation und der Schiffsarzt kümmert sich hingebungsvoll um ihn.

Aber anscheinend ist keine Besserung in Sicht.

Also doch Umkehr nach Singapur, denkt sich Thomsen.

Schon will er den Befehl geben, da kommt der Schiffsarzt auf die Brücke und meldet außer Atem: „Kreislauf des Kapitäns stabil. Atmung wieder gleichmäßig.“

„Dr. Brandt, gute Nachricht. Bin erleichtert. Tun Sie weiterhin alles für unseren Käpt´n.“

Also doch nicht Singapur. Wäre wohl auch nicht im Sinne des Kapitäns gewesen, sagt Hans Thomsen zu sich.

„Kurs beibehalten!“, befiehlt er mit entschlossener Stimme.

„In aller Bescheidenheit erlaube ich mir, Ihnen vorzuschlagen, zweigleisig zu verfahren“, sagt Francis Burton mit sonorer Stimme.

„Mmh, zweigleisig also“, wiederholt Gouverneur Sir Charles wie abwesend.

„Zum einen sollten wir den Sachverhalt so neutral wie möglich an unseren Kolonialminister in Whitehall telegrafieren. Mit dem Hinweis, dass wir bald Genaueres mitteilen können.“

„Können wir doch nicht, Francis. Verstehen Sie es doch“, will sich Sir Charles schon wieder aus seinem Sessel erbost erheben.

Doch es genügt, dass Francis Burton kurz die Hand hebt, und Sir Charles sinkt in seinen Sessel zurück.

„Zum anderen telegrafieren Sie an Ihren Kollegen Gouverneur Sir Richard Henderson in Hongkong, Sir Charles.“

„Ja, soll ich ihm auch noch mitteilen, was für Schwachköpfe wir hier in Singapur sind?“, presst Sir Charles halblaut hervor, hält dann aber erschöpft inne.

„Gouverneur Henderson soll Iltis ein Schiff entgegenschicken, um …“

Weiter kommt Francis Burton nicht, denn nun ist Sir Charles außer sich.

„Burton, ich weiß, was Sie sagen wollen, aber das kann nicht Ihr Ernst sein. Natürlich will ich um fast jeden Preis diesen Geheimbericht von dem Deutschen in die Hände bekommen. Aber wir können doch nicht ein Kanonenboot Seiner Deutschen Majestät in Friedenszeiten auf hoher See durch eines unserer Schiffe stellen! Wissen Sie, was das bedeuten kann? Krieg, Burton! Krieg mit Deutschland! Und ich bin dafür verantwortlich? Nein, Burton und nochmals nein! Basta!“, entscheidet Sir Charles aufgebracht.

„Wer sagt denn, dass es unser Schiff sein wird?“, fragt Burton trocken.

Ungläubig starrt der Gouverneur seinen Stellvertreter an.

„Der Chinesenclan von Heng Wan Chu aus Singapur hat noch eine Rechnung mit dem Kurz offen. Genau wie wir. Das macht uns weiterhin zu natürlichen Verbündeten. Ich habe mir bereits erlaubt, das Clanoberhaupt zu kontaktieren. Gegen etwas Entgelt hat er sich bereit erklärt, über einen engen Verwandten in Hongkong Verbindung mit dem Piratenchef Weng aufzunehmen.“

„Was, den?“, ruft Sir Charles entgeistert aus.

„Sind Sie vollkommen von Sinnen? Der ist doch der meistgesuchte Piratenkönig in der Umgebung von Hongkong. Wenn ich mich recht erinnere, haben wir ein nicht unbeträchtliches Kopfgeld auf den Kerl ausgesetzt. Der greift auch immer wieder unsere Handelsschiffe an.“

„Genau den meine ich, Sir Charles. Er ist - nun wie soll ich sagen - sehr zuverlässig in bestimmten Dingen.“

„Sie sind wahnsinnig geworden, Burton.“

„Nicht unbedingt, Sir Charles. Nur effektiv. Wie immer, in aller Bescheidenheit. Wollen Sie den Geheimbericht haben oder nicht, Sir Charles?“, fragt Francis Burton mit betont ruhiger Stimme und fährt fort: „Sir Charles, alles, was Sie nur tun müssen, ist, ein streng vertrauliches Telegramm an Ihren Gouverneurskollegen Sir Henderson in Hongkong zu senden und darum zu bitten, dass er Anweisung erteilt, dass unsere Kriegsschiffe drei Tage im Hafen von Hongkong bleiben und in dieser Zeit nicht auf Piratenjagd gehen. Den Rest überlassen Sie mir. Was können wir dafür, wenn Iltis auf seinen Weg nach Hongkong in eine Falle gelockt und ganz überraschend Opfer von einer chinesischen Piratenflotte wird? Nur der Geheimbericht überlebt und gelangt auf wundersame Weise zu Ihnen nach Singapur. Natürlich entrüsten wir uns ob der barbarischen Attacke auf ein deutsches Schiff, kondolieren und bieten unsere uneingeschränkte Unterstützung im Kampf gegen diese Unholde der Meere an. Ja, machen sogar den Vorschlag, eine internationale Streitmacht zur Befriedung der Gewässer im Südchinesischen Meer aufzustellen. Vielleicht sogar unter deutschem Kommando. Wie wär´s damit? Da sagt der geltungssüchtige deutsche Kaiser nie und nimmer nein. Und alles ist in Butter.“

Mit diesen Worten endet Francis Burtons Vortrag.

Wieder Stille im Büro. Nur draußen stimmen Millionen von Zikaden ihr Sägen an, als ob sie dem Vorschlag von Francis Burton Beifall zollen wollen.

Mit seinen eng beieinanderliegenden Augen sieht Sir Charles seinen Stellvertreter direkt an.

„Das bewundere ich an Ihnen, Francis. Keine moralischen Skrupel. Ganz und gar erfolgsorientiert.“

Dann nickt Sir Charles und fährt fort: „Das Telegramm an Sir Henderson werde ich sogleich absenden. Von allem anderen weiß ich nichts.“

„Selbstverständlich, Sir Charles. Wie immer.“

3. KAPITEL: DIE FALLE

Auf seinen kräftigen Oberarmen prangen schwarzgeschwungene Drachen mit offenen Mündern und heraushängenden Zungen vor rotem Hintergrund. Sein gedrungener Körper mit dem runden Kopf und den kleinen strichförmigen Augen strahlt förmlich vor Energie. Beim Erteilen der Befehle schwingt sein kahlgeschorener Kopf mit dem langen Zopf am Hinterkopf wild hin und her. Kapitän Weng erteilt seiner Mannschaft den Befehl zum Auslaufen. Sofort macht sich eine rasante Aktivität bemerkbar. Niemand möchte unter den martialischen Blicken des Kapitäns unliebsam auffallen. Um keinen Preis. Dann lieber vor Erschöpfung tot ins Meer stürzen. Zugleich ist auf dem ein Dutzend anderer Schiffe die gleiche Hektik zu beobachten.

Weng ist Chef der berühmt-berüchtigten chinesischen Triade der Roten Bande, die ihren Ursprung in der Hafenstadt Shanghai hat. Kein Verbrechen ist ihnen fremd. Neben der Kontrolle des Opiumhandels und der illegalen Prostitution widmen sie sich vornehmlich der Piraterie. Aber auch vor Auftragsmorden und anderen Schandtaten schrecken sie nicht zurück. Wohlwissend, dass sie sich auf ihre Partner, die britische Handelsfirma Jardine, Matheson & Co. in Hongkong und die britische Geheimpolizei, verlassen können. Währenddessen arbeiten ihre Rivalen von der Grünen Bande mit den Franzosen im Rauschgift- und Geheimdienstgeschäft zum gegenseitigen Nutzen zusammen.

Doch für den aktuellen Auftrag hat Piratenkapitän Weng nicht nur auf die Engländer gesetzt. Natürlich sind diese rotbramsigen Rundköpfe wie immer bereit, ein schönes Sümmchen Silber zu zahlen. Doch dieses Mal ist der Auftrag wirklich außergewöhnlich und extrem heikel. Seine Flotte soll ein deutsches Kriegsschiff in eine Falle locken und um jeden Preis an einen Geheimbericht seines Kapitäns gelangen. Wie sie das anstellen, ist den Brits vollkommen egal. Deshalb bieten ihm die Engländer eine Summe an, die exorbitant ist. Obwohl er sich selbst als verliebt in Silber bezeichnen würde, hätte er diesen Auftrag normalerweise nie angenommen. Ein deutsches Kriegsschiff abfangen. Ein Himmelfahrtskommando.

Aber dann traf quasi zeitgleich mit dem Angebot der Rundaugen ein dringendes Hilfeersuchen von den lieben Vettern der Heng Wan Chu Kaufmannssippe aus Singapur ein. Der verdammte deutsche Kapitän dieses Kriegsschiffes soll die Tochter des Clanoberhaupts Heng gegen deren Willen geschwängert haben.

Wie niederträchtig! erregt sich Weng.

Ihm wurde glaubhaft versichert, dass der Clan alles, aber auch wirklich alles unternommen habe, um diesen schändlichen Verführer in Singapur zur Strecke zu bringen. Doch alle Tricks hätten versagt. Chang, der Schreiber der bedeutenden deutschen Handelsfirma Behn, Meyer & Co. hat versucht, den Deutschen in Chinatown in eine Falle zu locken. Resultat war, dass es zahlreiche Tote auf Seiten der Chinesen gegeben hatte. Der verfluchte Deutsche konnte entkommen. Selbst das letzte Mittel von Onkel Chu, den deutschen Kapitän zu verfluchen, hat wohl nicht richtig funktioniert.

Merkwürdig, denkt Weng, das klappt doch sonst immer.

Nur diese Kombination, dass eigentlich nicht ausschlagbare finanzielle Angebot der Briten und zugleich die Bitte des Familienclans zu helfen, hat den Ausschlag gegeben. Das wird nicht einfach. Darüber ist er sich im Klaren. Es wird viele Verluste in den eigenen Reihen geben. Die finanzielle Kompensation an die Familien muss er in seine Kalkulation einbeziehen. Aber viel wichtiger ist es, einen vernünftigen Plan zu haben. Ein direkter Angriff auf ein stählernes Kriegsschiff mit überlegener Feuerkraft kann eigentlich nur fatal enden.

Nein, ein besonderer Plan muss her. Es gilt, das deutsche Schiff in die vielen verwirrend kleinen Inseln mit ihren Untiefen vor der chinesischen Küste zu locken, kurz bevor es Hongkong erreicht. Dafür haben die Engländer ihre Unterstützung zugesagt.

Auf Kommando von Wengs Flaggschiff beginnen nun auch die anderen mehrmastigen Dschunken langsam ihre Segel zu setzen. Die Besegelung besteht aus Dschunkensegeln, die mit Bambus-Stangen durchgelattet sind. Diese durchgelatteten Segel sind von Deck aus leicht zu bedienen. Die kurzen Pfahlmaste sind üblicherweise nicht durch Wanten und Stage verspannt, so dass die Segel rundum geschwenkt werden können.

 

Die kastenförmigen Boote besitzen keinen Kiel. Ihre flachen Böden und die Seitenwände sind fast senkrecht hochgezogen. Dadurch scheinen sie über das Wasser zu fliegen und schneiden nicht hindurch. Der Rumpf ist aus weichem Holz gebaut, das sich leicht biegen lässt und trotzdem seine Form bewahrt. Die Dschunken zeichnen sich durch ihre hochgezogenen Enden aus, die ihnen eine fast bananenähnliche Form verleihen.

Sie sind robuste, sichere und schnelle Segelschiffe. Einige haben ein Fassungsvermögen von fünfhundert Registertonnen und sind für Hochseefahrten geeignet. An die dreihundert wildaussehende und entschlossene Chinesen können die Besatzung einer solch großen Dschunke bilden. Bis zu acht Geschütze warten auf ihren Gegner. Zufrieden blickt Piratenkapitän Weng auf seine Flotte, die sich langsam in Bewegung setzt, um das deutsche Kriegsschiff in die Falle zu locken. Es muss in einer der Untiefen auflaufen. Verluste wird es trotzdem geben, da ist er sich sicher. Doch das gehört nun einmal zum Piratendasein dazu. Die Beute lockt dafür umso stärker.

Kurze Zeit vorher. Gouverneurspalast Hongkong.

Das Government House befindet sich in der Upper Albert Road. Von dort blickt man auf den Victoria Peak, mit über fünfhundertfünfzig Metern die höchste Erhebung der britischen Kronkolonie Hongkong. Auch sonst entsprechen die Ausmaße denen einer wichtigen Residenz im Britischen Empire. Die Grundfläche des Anwesens umfasst imposante annähernd zweieinhalb Hektar oder etwas mehr als zwei Fußballfelder.

Der Bau des Hauptgebäudes begann im Oktober 1851, im achten Jahr nachdem Hongkong zur britischen Kolonie erklärt worden war. Nach vier Jahren intensiver Bautätigkeit konnte die Fertigstellung an Ihre Königliche Hoheit Königin Victoria in London gemeldet werden.

In den folgenden Jahren änderte sich der Stil der Residenz mehrfach. Jeder neue Hausherr ließ das Gebäude nach seinen eigenen Vorstellungen renovieren. Das Hauptgebäude besteht nun aus einer Mischung aus reichhaltigem kolonialem Renaissancestil mit britischen, meist gregorianischen, und asiatischen Stilrichtungen. Willkommen im Reich der obersten Kolonialherren, die glauben, einzigartig zu sein.

Vor zehn Jahren wurde ein Seitengebäude an der östlichen Seite für gesellschaftliche Aktivitäten errichtet. Das Obergeschoss beherbergt einen Ballsaal, in dem Bankette für hohe ausländische Würdenträger veranstaltet werden. Bis zu einhundertfünfzig Gäste finden dort Platz.

Aber auch für den Schutz des Gouverneurs und seiner Gäste ist gesorgt. Am Haupteingang an der Upper Albert Road befinden sich zwei Wachgebäude mit einem eisernen Tor. Hier stehen die Government House Guards Wache, um für Sicherheit zu sorgen. Es ist eine Ehre für die in Hongkong stationierten Einheiten der Königlichen Armee, Soldaten für den Wachdienst abzustellen.

In diesem Anwesen residiert seit November letzten Jahres Gouverneur Sir Richard Henderson. Henderson stammt aus Limerick in Irland und hat unter anderem schon Erfahrungen als Gouverneur von den Bahamas und Neufundland gesammelt. Nun also Hongkong. Auf diesen Posten ist Sir Richard besonders stolz. Ist das doch die Anerkennung, die er meint, verdient zu haben.

Mit einer Zigarre im Mund, der von einem buschigen, leicht herabhängenden Schnurrbart fast umrahmt ist, sitzt er in seinem bequemen Sessel in seinem Arbeitszimmer. Neben ihm mit einem Glas Scotch in der rechten Hand hat es sich Kapitän Andrew Rochester bequem gemacht.

„Wie ich Ihnen bereits mitgeteilt habe, Kapitän Rochester, hat mich mein werter Kollege aus Singapur, Sir Charles Mitchell, informiert, dass es in dieser Angelegenheit um eine äußerst wichtige und geheime Mission im Rahmen der Sicherheit unseres Empires geht. Ich bin mir Ihrer absoluten Verschwiegenheit als Marineoffizier Ihrer Königlichen Hoheit vollkommen sicher, Kapitän Rochester?“

Dabei blickt Sir Henderson sein Gegenüber mit zusammengekniffenen Augen direkt an. Seine blaugrünen Augen mustern den Kapitän gründlich und dulden keinen Widerspruch.

„Aber sicher doch, Sir Henderson. Bei meiner Ehre als Offizier, Sir!“, entfährt es Kapitän Rochester militärisch knapp.

„Gut, gut, Rochester. Noch wissen Sie nicht, was auf Sie zukommt. Aber gut, dass Sie so selbstsicher sind. Offiziere von Ihrem Schlag hat das Empire leider viel zu wenige“, setzt Sir Henderson nun schon fast schmeichelhaft hinzu.

„Auf mich können Ihre Exzellenz jederzeit setzen“, meint Kapitän Rochester noch hinzufügen zu müssen.

„Also dann los. Die Ausgangslage ist folgende: Das deutsche Kanonenboot Iltis hat Kurs auf Hongkong genommen, um den Zielhafen die deutsche Kolonie Tsingtau anzusteuern. Sein Kapitän hat in einem geheimen Auftrag für den Kaiser erkundet, ob sich die Insel Langkawi als deutscher Marinestützpunkt eignet.“

„Potzblitz!“, entfährt es Rochester und fährt aus seinem Sessel hoch. Um ein Haar wäre ihm das Glas Scotch aus der Hand gefallen. „Diese verdammten Deutschen.“

„Ganz meine Meinung, Kapitän. Aber unterbrechen Sie mich nicht.“

Wie ein zurechtgewiesener Schuljunge sackt Kapitän Rochester in seinen Sessel zurück.

„Leider ist es Sir Charles trotz Aufbietung aller Reserven nicht gelungen, an den Geheimbericht des deutschen Kapitäns in Singapur zu gelangen. Neben eigenen Kräften hat er auch einen dieser Chinesenclans für sich gewinnen können, weil sich der Deutsche wohl mit der Tochter des Clanchefs eingelassen hat. Jeder, der die Chinesen auch nur einigermaßen kennt, weiß, dass das mehr als nur verrückt ist. Das gleicht einem Todesurteil.

Aber wie auch immer, wir müssen unbedingt in Erfahrung bringen, ob diese verdammten Deutschen Langkawi tatsächlich als einen möglichen Stützpunkt betrachten, um rechtzeitig im Vorfeld tätig werden zu können.

Ihnen kommt eine Aufgabe von äußerst hoher Bedeutung zu, Kapitän Rochester. Hier nun der Plan: Wir gehen folgendermaßen vor …“

Während Sir Henderson das Vorhaben ausbreitet, wird Kapitän Rochester immer bleicher, will Widerspruch einlegen, wird aber energisch von Sir Henderson zurechtgewiesen, versinkt immer tiefer in seinen Sessel und stürzt das dritte Glas Scotch hinunter.

Als Kapitän Rochester etwas später den Gouverneurspalast verlässt, verschmäht er die bereitgestellte Kutsche und begibt sich stattdessen zu Fuß durch die noch immer anhaltende nächtliche tropische Hitze Hongkongs. Schon bald ist seine Uniform schweißdurchtränkt. Doch das bemerkt er nicht. Er ist zu aufgewühlt.

„Das darf doch nicht wahr sein“, entfährt es ihm kopfschüttelnd.

„Das darf doch nicht wahr sein“, murmelt er wiederholt gedankenverloren mit gedämpfter Stimme und zusammengepressten Lippen vor sich hin. Eine Kutsche mit hohem Tempo rast an ihm vorbei. Er schrickt hoch. Fast wäre er überfahren worden. Vielleicht sogar besser so, denkt er sich.

Eigentlich geht der Auftrag des Gouverneurs gegen seine Ehre. Als Kapitän der stolzen Royal Navy soll er nun gemeinsame Sache mit einem Piratenunhold machen.

„Pfui Teufel“, entfährt es Kapitän Rochester und spuckt in bester chinesischer Manier auf die Straße.

Aber auf der anderen Seite hat der Plan schon etwas, muss er nach einigem Überlegen zugeben. Wie sonst soll man von unserer Seite an den Geheimbericht kommen? Schließlich kann er, Rochester, ja schlecht mit seinem Schiff, dem Leichten Kreuzer Iphigenia, das deutsche Kriegsschiff auf hoher See angreifen. Das würde unweigerlich Krieg zwischen den beiden Nationen bedeuten. Das will natürlich niemand.