Buch lesen: «Blondinenrettung»
Volker Müller
BLONDINENRETTUNG
Geschichten aus einem nahen fernen Land
Engelsdorfer Verlag
Leipzig
2019
Die in diesem Buch vorkommenden Personen, Orte und Geschehnisse samt aller damit verbundenen Namen und Bezeichnungen sind frei erfunden. Eventuelle Übereinstimmungen oder Ähnlichkeiten mit möglicherweise tatsächlich existierenden Dingen oder Sachverhalten wären reiner Zufall.
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Copyright (2019) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte beim Autor
Lektorat: Dr. Martin A. Völker
Cover- und Autorenfoto © Karsten Schaarschmidt
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2019
… ich begehrte der weiten, geliebten Erde ganzes Rätsel in der Hand zu halten, Wort für Wort und handfest wie eine Münze geprägten Goldes. (aus Thomas Wolfes autobiografischer Erzählung „Mein Onkel Bascom“)
Dieses Buch ist im Besonderen Brigitte und Rudolf Kuhl gewidmet.
Inhalt
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Tastenspiele
Dichterbüsten
Bachkonzert
Intermezzo
Teilstörungen
Traumtänze
Sparfüchse
Herrennachmittag
Mondsüchtig
Kampfgefährten
Blondinenrettung
Langzeitfolgen
Schicksalstage
Abgesang
Zum Autor
TASTENSPIELE
Verdammt … Jan Salfrank sah vor Wut und Empörung alles doppelt. Lampen, Leute, den Steinway.
Er war ja einiges von seinem Chef Professor Raffa Minkow gewohnt. Nur was er eben beim Atlas-Wettbewerb, dem alljährlichen Kräftemessen der Klavierstudenten des Königlich Privilegierten Heinz-Rogersson-Musikinstituts, erlebt hatte, war einfach zu viel gewesen. Weshalb er Minkow auch prompt zur Rede stellte. Doch der Professor für künstlerisches Klavierspiel, zugleich Prorektor für die Sektoren Meisterklassen, Sonderstudien, Begabtenakquise und zentrale Wettbewerbsbeschickung, meinte nur: „Aaach, nun mach mal halblang mein guter Jan. Wollen das doch mal alles nicht unnötig dramatisieren. Ha … entweder die beiden werden damit fertig oder nicht. So einfach ist das.“
„Aber …“
„… oder nicht.“
„Aber …“
„Nichts mit aber. Es geht im Leben nicht … immer der Nase nach, ganz und gar nicht.“
Unter den vier Finalisten war der neunzehnjährige Ferenc Meyer klar der beste gewesen. Vom barocken Fugengehämmer bis hin zu den zwanzig Finger und mehr verlangenden impressionistischen Lautmalereien – alles kam bei ihm wie gestochen, hatte Charakter, strahlte etwas ganz Eigenes aus, eine seltsame Leichtigkeit, etwas im besten Sinne Galantes, Bestrickendes, Elektrisierendes. Es war wie alles Außerordentliche in der Musik schwer abschließend in Worte zu fassen. Salfrank konnte sich, seine sechsjährige Studienzeit und die Jahre als Aspirant bei Minkow eingerechnet, nicht erinnern, Vergleichbares schon einmal gehört zu haben. Und was musste er erleben? In der Sitzung der Jury, bei der er Protokoll führte, erwähnte Minkow den jungen Mann mit keinem Wort. Mit keinem Wort bedachte er ihn, mit keinem Wort, keiner Silbe! Da wie nicht anders zu erwarten niemand wagte, in die Bresche zuspringen, Minkow galt in jeder Beziehung als der ungekrönte König des Instituts, ging Meyer am Ende leer aus. Total leer. Den Atlas-Preis bekam Sonja Wanderbilt zugesprochen, eine sicher durchaus talentierte Studentin, der eine respektable Technik und auch eine gewisse Ausstrahlung nicht abzusprechen waren, die es aber in nahezu allen Belangen noch weit hin hatte zum Stand ihres Konkurrenten. Unendlich weit. Um das mitzukriegen, musste man nicht studiert haben, das lag selbst für einen blutigen Laien nach drei Takten auf der Hand. Nein, nein, nein und nochmals nein …
Nach der Verkündung des Ergebnisses stapfte Meyer wutblitzend aus dem Saal. Die Kommilitonen sahen sich entgeistert an, murmelten eine Weile untereinander und gingen dann nach und nach auch. Zum Anstoßen auf den Sieg, zur traditionellen spontanen Contest-Feier blieb nur die Hand voll der anwesenden Dozenten und zwei Freundinnen der im Übrigen alles andere als glücklich dreinschauenden Siegerin.
Da hatte es Salfrank gereicht. Er war zu Minkow gegangen und hatte so leise, dass die anderen es schwerlich mithören konnten, gesagt: „Mach mit mir, was du willst, aber das war doch eben … ich weiß gar nicht, wie ich sagen soll … eine glatte … also, das könnt ihr doch nicht machen, der Meyer war doch klar der Bessere …“ Um dann zu hören, dass es im Leben nicht immer der Nase nach ging.
Man musste endlich etwas unternehmen. Dieser Mann ruinierte langsam, aber sicher das gesamte Institut. Wie hat er sich nur zu dieser Sonderstellung aufschwingen können? Wenn er hustete, hatte das Gesetzeskraft, nein, das konnte nicht normal sein. Dabei hat er, seit Salfrank am Institut war, keinen Ton mehr selbst gespielt. Nicht einmal im Unterricht ließ er sich dazu herab. Das war allgemein bekannt. Was konnte er überhaupt? Salfrank hielt in seiner Empörung alles für möglich.
Zu Hause angekommen, er hatte noch immer sein Studentenzimmer im ein wenig bieder, um nicht zu sagen rechtschaffen verschlafen anmutenden Äußeren Pfingstbergviertel, konnte Salfrank schon beinahe wieder lachen. Es war nicht das erste Mal, dass ihn der Gang durch den Park der Medizinischen Akademie und die stillen Gassen der Nordstadt mit Postillionplatz und Weberbrücke auf andere Gedanken brachte.
Seltsam. In dem Saal, wo vorhin der Contest so wenig sinnstiftend zu Ende gegangen war, hatte er vor zwei Jahren sein Konzertexamen abgelegt. Und wie. Nach dem letzten Ton des knapp zweistündigen Programms wollte der Beifall nicht verstummen. Er musste sieben Zugaben spielen, sage und schreibe sieben Zugaben, bis das Auditorium endlich Ruhe gab. Sieben Zugaben. Nicht zu glauben. Es folgte eine rauschende Feier, denn im Grunde war alles klar. Es konnte nur ein „Mit hervorragender Auszeichnung bestanden“ geben, verbunden mit der Empfehlung für ein anschließendes Meisterstudium in der Landeshauptstadt Mantribur, bei dem am Ende der Titel „Nationaler Kammervirtuose“ winkte, in aller Regel Grundstein für eine von staatlicher Seite aus großzügig geförderte Solistenkarriere. Mein Gott, er hatte es geschafft! Es sah jedenfalls ganz danach aus.
Salfrank bekam die Bestnote, aber mit dem Meisterstudium wurde es nichts. Minkow nahm ihn im Audimax nach der Übergabe der Diplome beiseite und sagte: „Ordentliches Examen, um es noch mal zu sagen, Kompliment, hast mich nicht enttäuscht, na, das wäre auch allerhand gewesen, aber … das alles ändert nichts dran, dass du schwerlich, nimm mir’s nicht krumm, wirklich das Zeug zum, hm, reisenden Virtuosen hast. Dir fehlt dafür, glaub mir, die originäre robuste künstlerische Statur, das Unverwechselbare, noch nie Dagewesene, das halbe Pfund Genie, wenn du so willst, ohne dass es nun mal nicht geht. Junge, ich will dir was sagen: Du läufst im Falle des Falles Gefahr, schlussendlich vor einem gewaltigen Scherbenhaufen zu stehen. Ich kenne eine Menge Leute, die konnten am Ende kein Klavier mehr sehen. Um es klipp und klar zu sagen: Die Empfehlung für Mantribur, da hab ich noch nichts veranlasst. Wenn du unbedingt darauf bestehst, gut. Aber hör zu: Was würdest du sagen, wenn ich dir statt der Geschichte eine Stelle als außerordentlicher Aspirant anbieten würde? Mit der Perspektive, in zwei, drei Jahren per Sonderacklamation zum künstlerischen Fachdozenten ernannt zu werden. Hast du das verstanden? Ja? Gut. Also vielleicht überlegst du dir das mal. Du hast ein sicheres Auskommen, erfüllst eine Aufgabe und dir bleibt auch, das garantiere ich dir hier und heute, genügend Zeit, um selbst noch weiter voranzukommen.“
Salfrank schlug, nachdem er eine Nacht darüber geschlafen hatte, in die Hand ein. Nach der ersten Enttäuschung – was Minkow ihm da an den Kopf geworfen hatte, war ja nicht ohne gewesen – sah er mit einem Schlag auch die andere Seite. Es gab tatsächlich nicht wenige einst verheißungsvoll gestartete Unglücksraben in seinem Fach. Wirkliche Erfolgsgeschichten waren rar.
Zwei Jahre ist das her. Er war heute, mit vierundzwanzig, eine feste Größe im Musikleben der Heimatstadt, das durfte er ohne Übertreibung von sich sagen, galt als ausgezeichneter Lehrer, dazu als hundertprozentig zuverlässiger, im Grunde durch niemand anderes mehr auf die Schnelle zu ersetzender Korrepetitor und seine Soloabende zogen ein ums andere Mal vermehrt auch Zuhörer von außerhalb an. Ja, er war drauf und dran, sich einen Namen zu machen. Wer hätte das gedacht, alles in allem und überhaupt … Außerdem würde er, ehrlich gesagt, auch nicht mehr gern auf den täglichen Weg durch die Anlagen der Medizinischen Akademie und die Gassen der Nordstadt verzichten wollen.
Aber … nichts mit aber …
DICHTERBÜSTEN
Die Bildhauerin Anna Hahn amüsierte sich wieder einmal köstlich. Eine Schulfreundin hatte geschrieben, eine der wenigen aus ihrer Klasse, die in Grincana, der kleinen Stadt im Norden des Grünen Berglands, hängengeblieben waren. In dem Brief steckte, versehen mit der in Schönschrift prangenden Anmerkung „Das dürfte Dich sicher interessieren, nochmals herzliche Grüße Deine Rosalie“, ein Zeitungsausschnitt, der unter der Überschrift „Die Leiden des alten Broeder in G.“ eine mit Vogelkot bespritzte und auch sonst ziemlich unappetitlich ausschauende Büste aus Sandstein zeigte. Dem Bildtext war zu entnehmen, dass das leidige Problem mit den Denkmalen in der Anlage „Bürgererholung“ den Mitarbeitern des städtischen Grünamts bekannt sei und man in Kürze auch Abhilfe zu schaffen gedenke. Es müsse lediglich ein abschließender Bescheid der Unteren Denkmalbehörde abgewartet werden betreffs der Chemikalien, die bei der anstehenden Säuberung verwendet werden dürfen. Diesbezüglich gebe es seit kurzem neue Richtlinien.
Bei der Zeitung wussten sie wohl wieder mal nicht, worüber sie schreiben sollten, und haben die Geschichte mit den Büsten ausgegraben, die ewige Geschichte, dachte die Bildhauerin und strich den Ausschnitt glatt. So sah man sich alle Jubeljahre wieder …
Das Drama, anders kann man die Sache beim besten Willen kaum nennen, hat eine lange und ziemlich vertrackte Vorgeschichte. Gut sechzig Jahre, nicht zu glauben, ist das alles her. Damals war der letzte große Krieg zu Ende gegangen und das Städtchen Grincana wie so viele andere Orte auch unter sarkundische Besatzung gekommen. Vier Jahre zuvor waren die Machthaber in Talanta auf die Idee verfallen, nachdem sie schon eine Reihe kleinerer Nachbarländer erobert hatten, sich nun auch Sarkundien, das große Reich im Osten, vorzunehmen. Nach ersten spektakulären Erfolgen, der Gegner war von dem Angriff in einem ungünstigen Moment überrascht worden, geriet der irrwitzige Feldzug jedoch schnell ins Stocken und allmählich kehrten sich die Verhältnisse auf geradezu fatale Weise um. Zug um Zug mussten die talantesischen Truppen zurückweichen. Die Sarkundier erwiesen sich wider Erwarten als tüchtige Soldaten, das zu Zeiten raue Klima in dem Riesenland tat ein Übriges. Als sich die Front schließlich auch der ruhigen, idyllischen Gebirgsgegend um Grincana näherte, wurde dort die Furcht vor dem, was sich in Kürze ereignen würde, von Tag zu Tag größer. Wie würden die Sieger mit den Einheimischen verfahren? Nicht allein, dass Sarkundien allem Anschein nach aus heiterem Himmel überfallen worden war, es musste, war durchgesickert, dort auch unvorstellbare Verluste an Menschen und Material gegeben haben. Ganze Städte waren ausradiert, Hunderte von Dörfern niedergebrannt worden. War da anderes zu erwarten als Rache und Vergeltung?
Die meisten von den Oberen setzten sich deshalb auch – oft in letzter Minute noch – aus Grincana ab, flüchteten gen Westen, wo sie vielleicht auch nicht gänzlich ungeschoren davon kommen würden, jedoch wohl kaum das zu befürchten hatten, was ihnen von den Sarkundiern drohte. In dem Land hatte es zu allem Unglück vor einiger Zeit nämlich auch noch eine sämtliches Alte und Bewährte radikal hinwegfegende Revolution gegeben. Es war eine neue Ordnung aus dem Boden gestampft worden, in der man als Adelsspross, Fabrikant, Gutsbesitzer, Börsenspekulant etc. keine guten Karten hatte. Wer sich dort seinerzeit nicht rechtzeitig davonmachte, konnte ohne weiteres in die Lage kommen, sich fortan sein Brot als einfacher Arbeiter verdienen zu müssen. Nicht wenige zuvor vom Schicksal Begünstigte wurden gar eingesperrt oder landeten in einem Straflager. Dass mit dergleichen Existenzen in einem besiegten Land mindestens das Gleiche, womöglich noch Schlimmeres passieren würde, lag auf der Hand.
Als es soweit war, die Sarkundier einzogen, ihnen hatten sich nur zwei Panzer entgegengestellt, die binnen weniger Minuten in Flammen geschossen waren, sollten sich die schlimmsten Ängste und Vermutungen nicht bewahrheiten. Es war vielmehr so, dass der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung kaum etwas geschah. Auf den zwei großen Plätzen der Stadt, dem Prinzenanger und dem Alten Markt, standen Gulaschkanonen, wurden von den fremden Soldaten Suppe und andere Lebensmittel verteilt. Im Rathaus hielt ein sarkundischer Militärkommandant Einzug, der in den nächsten Tagen und Wochen allerlei Aushänge veranlasste. So wurde die vorübergehende Einführung eines Notgelds bekannt gegeben, Maßnahmen zur Abwendung von Seuchen angeordnet und die Bevölkerung aufgefordert, alle eventuell noch in Privatbesitz befindlichen Waffen unverzüglich abzugeben. Dem Kommandanten stand eine Gruppe Einheimischer zur Seite, meist Leute, die der Sozialistischen Arbeiterpartei angehört hatten, jener Organisation, die im verflossenen grausamen Radara-Regime verboten gewesen und deren Mitglieder unerbittlich verfolgt worden waren.
In den folgenden Wochen und Monaten geschahen dann Dinge, über die sich die meisten Grincaner nicht genug wundern konnten und an die man sich in späteren Jahren nicht selten mit einer gewissen Wehmut erinnerte. Binnen kurzem spielte auf Veranlassung des fremden Kommandanten nämlich das Theater wieder, was angesichts der beschränkten und in vielem noch ungeordneten Verhältnisse einem kleinen Wunder gleichkam. Das städtische Sinfonieorchester, dessen Arbeit in den letzten Kriegsmonaten gleichfalls geruht hatte, begann wieder zu proben, eine Musikschule wurde gegründet, es fanden in loser Folge Buchlesungen, Vorträge, Kammerkonzerte statt. Nie wieder, hieß es später, habe es so viele und so gut besuchte Kulturveranstaltungen in Grincana gegeben. Und je mehr Zeit ins Land ging, umso mehr fragte man sich, wie das möglich gewesen war, wo doch damals alles am Boden lag, und warum heutigentags das Leben so gemächlich, ohne rechte Höhepunkte, Freude und Bewegung verlief.
Mitten in dieser turbulenten Aufbauzeit, inzwischen hatte der sarkundische Major seinen Platz im Rathaus bereits wieder geräumt und dort jetzt die kürzlich landesweit gegründete Geeinte Sozialistische Arbeiterund Bauernpartei das Sagen, wurde wie es nachmals so schön hieß die Idee geboren, aus der „Bürgererholung“, einer kleinen Parkanlage am Bahnhof, einen Dichtergarten zu machen. Unter den mächtigen Kastanien, Linden und Ahornen, die einst fleißige Gärtnergesellen gesetzt hatten, war im Grincanaer Amtsanzeiger zu lesen, sollten bald schon in Reih und Glied Büsten großer Männer des Wortes stehen. Bedingung war: Sie mussten sich zu Lebzeiten auch als große Humanisten und beispielhafte Vorkämpfer einer sozial gerechten Ordnung ausgezeichnet haben. Allen voran war dabei an die beiden Klassiker der Weltliteratur Jost Henry von Broeder und Ferenc Karl von Schaller gedacht. Aber auch eine Reihe weiterer Dichter, Schriftsteller, Philosophen, Literaten, namentlich solche, die den revolutionären Strömungen ihrer Zeit nahestanden, kämen in Frage. Auf diese Weise, hieß es in dem Beschluss des Stadtrats weiter, solle der notwendige geistige Neuanfang in Grincana dokumentiert und zugleich weiter befördert werden, solle unmissverständlich deutlich gemacht werden, dass man fest gewillt sei, im täglichen Leben und Wirken den von tiefer Menschlichkeit geprägten Idealen dieser großartigen, beispielhaften, stets dem gesellschaftlichen Fortschritt verpflichteten Dichter und Denker gerecht zu werden. Der Erklärung war außerdem zu entnehmen, dass in jenem Dichtergarten regelmäßig literarisch-musikalische Veranstaltungen stattfinden sollten, vornehmlich zu den Geburts- oder Todestagen der dort geehrten Bannerträger der Gerechtigkeit und Völkerverständigung, aber auch anlässlich ausgewählter Höhepunkte im gesellschaftlichen Leben.
Die junge Bildhauerin Anna Hahn, die knapp ein Jahr vor Kriegsende ihr Studium abgeschlossen und danach in einer Munitionsfabrik gearbeitet hatte, wurde in jenen Tagen überraschend ins städtische Kulturamt bestellt. Was hat das zu bedeuten, fragte sie sich, und ging mit einem doch recht mulmigen Gefühl zur angegebenen Zeit ins Rathaus. Sie war in der Radara-Ära in keiner Weise hervorgetreten, hatte sich gleich gar nicht, wie sie meinte, in irgendeiner Form schuldig gemacht. Aber wenn man etwas finden wollte, wer weiß … Andererseits: Würde man sie in einem solchen Fall ins Kulturamt bestellen? Dafür waren vermutlich andere Stellen zuständig. Nach allerlei treppauf treppab stand sie schließlich immer noch tüchtig hin- und hergerissen vor der Tür mit der Aufschrift „Die Ämter Kultur, Volkserziehung, Gesundheit.“
Doch alles kam besser als gedacht.
„Sie können sich freuen, junge Frau. Genosse Döring hat, so viel darf ich Ihnen sagen, viel mit Ihnen vor“, sagte freundlich lächelnd die Mitarbeiterin im Vorzimmer, eine hochgewachsene ältere Dame, deren gepflegte Erscheinung zutiefst im Widerspruch zur spartanischen Einrichtung des Raums stand, den zwei wackligen Stühlen, dem abgewetzten Küchenbüfett, das als Aktenschrank diente, einem sich schon bedenklich zur Seite neigenden Tisch, dem verbeulten Kanonenofen, der fleckigen und verschiedentlich sich hässlich wellenden Tapete.
„Herr Döring sitzt hier, das hab ich ja gar nicht gewusst …“
„Ja, Genosse Döring, wäre gut, wenn Sie sich künftig so ausdrücken würden, ist seit einigen Wochen Stadtrat für Kultur, das sollte ihnen aber eigentlich bekannt sein“, bekam sie da von der Mitarbeiterin zu hören. Anna kannte Döring. Er war, bis ihn die Radara-Leute wegen seiner Ansichten, er war Mitglied der Sozialistischen Arbeiterpartei gewesen, aus dem Schuldienst entließen, ihr Kunstlehrer in Grincana gewesen. Sie glaubte auch zu wissen, dass er mehrere Jahre in einem sogenannten Umerziehungslager schlimmen Repressalien ausgesetzt und erst nach Kriegsende wieder freigekommen war.
Da stand Döring auch schon in der Tür und bat sie in sein Büro, in dem es um keinen Deut besser aussah als im Kabuff seiner Mitarbeiterin, die im Übrigen auch noch für die Ämter Volkserziehung und Gesundheit zuständig war. Döring, der trotz seiner schlohweißen Haare und seines erschreckend bleichen Gesichts etwas erstaunlich Biegsames, Jugendliches ausstrahlte, sagte: „Schön dich zu sehen, Anna. Hoffe, dir geht’s gut. Kollegin Brandner hat dir sicher schon eine kleine Andeutung gemacht, weswegen du … aber ehe wir dazu kommen, wie ist’s euch ergangen, wie geht es euch?“
Anna schrak zusammen. Eine solche Frage hatte sie nicht erwartet. Sie entschloss sich, die Wahrheit zu sagen. Das war immer noch das Beste. Sie erzählte, dass die Eltern, als sie zu Besuch bei Verwandten in der großen Stadt Kitumen waren, bei einem Bombenangriff ums Leben kamen. Der Bruder sei gleich zu Beginn des Krieges gefallen. Sie habe noch eine Tante und zwei Cousinen, aber die wohnten alle weit weg. Sie sei in Grincana geblieben, weil sie den Eltern versprochen hatte, das Haus am Waldberg um keinen Preis in Stich zu lassen.
„Das hat sich ja nun anderweitig erledigt“, sagte Döring trocken. Die Villa war von der Besatzungsmacht zum Allgemeinbesitz erklärt und dort durch Krieg und Nachkrieg obdachlos gewordene Kinder untergebracht worden.
„Nun setz dich aber erst mal. Wo wohnst du jetzt?“
„Hab’s noch ganz gut getroffen. Kann mich nicht beklagen. Bin bei Otto Mörike untergekommen.“
Anna hatte sich vorsichtig gesetzt, während Döring stehen blieb.
„Der Steinmetz. Na, der hat sich sicher was gedacht dabei.“
„Nach der Arbeit in der Weberei helf ich bei ihm.“
„Du arbeitest in der Weberei? Ja? Na gut, es kommen auch wieder mal andre Zeiten. Und da sind wir eigentlich schon beim Thema. Ich habe mich in der Sache Dichtergarten ja nicht ohne Grund für dich stark gemacht. Wäre schön, wenn du uns in Zukunft treu bleibst und nicht wie mancher andere kluge Kopf einfach so davonschwirrst. Wir wollen ja wieder eine Kunst- und Kulturstadt werden.“
„Dichtergarten, ich versteh nicht …“
„Nun, du hast doch sicher gelesen, was wir in der ‚Bürgererholung‘ vorhaben …“
„Ja, hab ich, dort sollen irgendwelche Büsten aufgestellt werden.“
„Ja meine liebe Anna, und da …“
„… soll ich mitmachen, ich, nein, das glaub ich nicht, das …“
Döring lächelte und nickte.
„Ich hab dich nach reiflicher Überlegung vorgeschlagen und man ist, ich will es einmal so sagen, bis dato auch nicht abgeneigt, es mit dir zu versuchen.“
„Was heißt mit mir zu versuchen, doch nicht etwa …
„Doch doch. Du sollst das in die Tat umsetzen, von Anfang bis Ende, hast ja schließlich Kunst studiert …“
„Ich … weiß doch gar nicht, ob ich das … also …“
„Machst du schon. Ich trau dir das zu. Hab meine Erkundigungen eingezogen und da hab ich viel Gutes gehört …“
Anna hielt es kaum auf dem schmalen, bei der geringsten Bewegung knackenden Stuhl. Immer wieder wippte sie mit dem Rücken gegen die gefährlich nachgebende Lehne.
„Also, ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll, wo haben Sie sich denn erkundigt über mich, am liebsten würde ich gleich anfangen, es stimmt, bei den Büsten war ich nicht schlecht, die Zweitbeste im Kurs …“ Anna war aufgestanden. „Ich müsste in die Bibliothek, ich hab einiges an Vorlagen zu Hause, aber das reicht nicht, ich fang heut noch an, ja, ich will heut noch anfangen, wieviel Köpfe wären das eigentlich, können Sie mir eine Liste geben, müsste ja wissen, wer da alles …“
Döring bedeutete ihr mit flatternden Händen, sich wieder zu setzen. „Alles gut Anna. Dein Elan in allen Ehren. Hab das auch nicht anders erwartet. Aber so schnell geht das nicht, so schnell geht das nicht. Ich möchte, wenn du’s nicht weitersagst, beinahe sagen: Leider. Aber wir leben nun mal in einer aufregenden, alles andere als einfachen Zeit. Es gibt, um es klar zu sagen, zum Projekt Dichtergarten noch einigen Diskussionsbedarf. Da ist noch einiges zu bedenken, grundsätzlich zu bedenken. Es steht bei weitem noch nicht fest, um bei dem, was du zuletzt gefragt hast, anzufangen, wer eigentlich alles gewürdigt werden soll. Es ist aber schön, dass ich jetzt weiß, dass du dabei bist, mit dem Herzen dabei bist. Das kann ich an betreffender Stelle schon mal zu Protkoll geben. Du hörst von uns so in drei, vier Wochen, denk ich. Frühestens. Kann auch länger dauern. Mach dir aber keine Gedanken. So lang ich hier bin, brauchst du dir keine Gedanken zu machen, da bist du der Kandidat Nummer eins.“
Als Anna wieder aus dem Rathaus heraus war, prangten die Linden, die den Markt säumten, im schönsten Grün. Als die Blätter knallgelb waren, gab es noch immer keine Einigkeit darüber, wer alles in dem Dichtergarten kommen sollte. Döring hatte Anna ein ums andere Mal vertröstet. Sie erfuhr von ihm allerdings, dass man nicht mehr wie zunächst gedacht sechzehn Büsten haben wollte. Jetzt war von acht die Rede. Bis zum Frühjahr, ja, so viel Zeit verging noch, reduzierte sich die Zahl weiter. Schließlich kam man bei einem kaum noch zu unterbietenden Minimum an, wollte sich schlussendlich auf die beiden großen Klassiker von Broeder und von Schaller beschränken.
Jahre später erzählte Anna jemand, der damals mit am Tisch saß, was die Partei bewegte, nach und nach die anderen Großen der Literatur letzten Endes doch besser außen vor zu lassen. Als erste sonderte man jene Männer aus, die sich aus welchen Gründen auch immer das Leben genommen hatten. Ihre Ehrung, das leuchtete Anna ein, hätte kaum in Einklang mit dem von Optimismus und Tatkraft geprägten Aufbaugeist der Zeit gestanden. Als nächste blieben jene auf der Strecke, die waschechter adliger Abkunft waren, ihr „von“ also nicht wie Broeder und Schaller auf Grund ihrer Verdienste irgendwann einmal verliehen bekamen.
Den übrigen Unsterblichen, die keinen Platz in der „Bürgererholung“ haben sollten, wurden ihr bedenklicher Lebenswandel oder ihre allzu radikalen gesellschaftlichen Veränderungsideen, manchmal traf beides zusammen, zum Verhängnis.
Selbst gegen von Broeder und von Schaller, musste Anna hören, waren Bedenken laut geworden. Weil: Der Erste hing einer seltsamen, zentrale Fragen der gesellschaftlichen Entwicklung gänzlich offen lassenden, somit auch jedermann, selbst Fürsten, Feldherrn und Fabrikanten, ein Lebensrecht zugestehenden Naturphilosophie an. Der Zweite hatte im letzten Drittel seines Lebens jeder Art von Volksaufständen eine schroffe Abfuhr erteilt und sich statt dessen dafür stark gemacht, Königen, Herzögen und anderen gekrönten Häuptern eine angemessene Erziehung und Bildung zuteil werden zu lassen. So wären die Sorgen und Probleme des Landes noch am ehesten in den Griff zu bekommen. Letztlich gab die unumstrittene Weltgeltung der beiden den Ausschlag. Gerade in Sarkundien galten der Schöpfer der „Geschichten des Dr. Faustus Agricolanus“ wie der Verfasser der „Göttlichen Ode auf die Erde“ als das Nonplusultra der Literatur, ja, jeglichen künstlerischen Schaffens überhaupt, wurde von einer exemplarischen Vorbildrolle beider für die Besten der eigenen sarkundischen klassischen Dichtkunst gesprochen.
Anna war heilfroh, als sie, es war inzwischen immerhin ein gutes Jahr vergangen, endlich wusste, was genau auf sie zukam. Sie hatte im Vorhinein schon eine Reihe Entwürfe für die zwei Büsten gezeichnet, zugunsten derer nun die Würfel gefallen waren. Sie ging deshalb noch am selben Tag, als sie von der Entscheidung in der Zeitung las, zu Döring und zeigte ihm die Skizzen. Er schaute kurz auf die Bleistifzeichnungen, nickte und sie dachte schon, alles würde seinen Gang gehen. Doch ihr Gegenüber schwieg, schien auf einmal weit weg zu sein und sie bekam es mit der Angst. War etwas passiert? Sollte jemand anders den Auftrag bekommen? Als wüsste er, was ihr durch den Kopf ging, legte Döring seine Hand auf ihre Schulter und sagte in einem seltsam entrückten Ton, der wiederum daran zweifeln ließ, ob er ganz und gar bei der Sache war: „Hast heute die Zeitung gelesen. Ja, es hat sich so und nicht anders ergeben. Nur die zwei sollen in die Anlage kommen. Na gut. Mal ganz davon abgesehen, keine Angst, ist vermutlich alles halb so schlimm, dass mir der Fall Dichtergarten gestern entzogen wurde, jetzt ist Genosse Mäder, Stadtrat für Volksbildung, dafür maßgebend; ich muss dir auch sagen: Das, was du da gezeichnet hast, Mädchen, wird schwerlich durchgehen. Ich rate dir, mach schnell was Neues oder noch besser: Wart erst mal ab. Glaubst mir nicht? Hm, kann ich vielleicht sogar verstehen. Aber ich sag dir: Broeder und Schaller als junge Kerle darzustellen, die Abenteuerlust, das Ungestüme, Brodelnde steht ihnen ja förmlich ins Gesicht geschrieben, das wird unter keinen Umständen durchgehen. Ich kann es mir jedenfalls nicht vorstellen. Wir brauchen jetzt, wie soll ich sagen, vor allem Disziplin, Verantwortung, Bewusstsein. Das steht jetzt oben an, muss es sicher auch. Verstehst du? Man redet sogar wieder von Gesinnung, fester, unbeirrbarer Gesinnung … Dazu passen deine Köpfe nicht, leider. Denn, ehrlich gesagt, je länger ich sie mir so anseh, desto besser gefallen sie mir. Aber darüber bitte zu niemandem ein Wort. Ich hab in der Sache nichts mehr zu sagen. Du wirst sicher demnächst Näheres von anderer Stelle hören.“
Anna war wie vor den Kopf geschlagen, dachte in einer ersten Aufwallung daran, alles hinzuwerfen. Die Skizzen hatten allerhand Mühe und Arbeit gekostet. Sie hatte sich die Aufgabe nicht leicht gemacht. Sie ließ sich jedoch nichts anmerken, dankte Döring für die Ratschläge. Sie werde sich bemühen. Warum er nicht mehr für die Büsten zuständig war, fragte sie nicht. Damals, auch später noch gab es überraschende Entwicklungen, die man am besten stillschweigend hinnahm. Wer da auch nur den leisen Anschein erweckte, etwas nicht zu verstehen oder von der richtigen Seite sehen zu können, musste damit rechnen, selbst bald zum Thema zu werden.
Sie ging nach Hause, stieg hinauf in ihre Dachkammer über der Bildhauerwerkstatt, blies zwei, drei Tage Trübsal, fasste dann aber doch, was sollte sie anders machen, wieder Mut und brachte neue Entwürfe aufs Papier. Broeder war nun ein versonnen blinzelnder, jugendlichen Geist, jugendliche Tatkraft ausstrahlender Alter und Schaller, der bekanntlich früh starb, ein gereifter, vor Energie sprühender, dabei dennoch auch irgendwo noch wohltuend gefasst wirkender Mann in den besten Jahren.
Der Stadtrat für Volksbildung, Fred Mäder, der sie gut zwei Wochen nach ihrem Treffen mit Döring zu sich bestellte, ein großgewachsener Fünfziger mit einem säuberlich gestutzten, kräftigen dunklen Schnurrbart, wollte die neuen Skizzen gar nicht erst sehen. „Nehmen Sie das mal wieder mit, so holterdiepolter geht das nicht. Jedenfalls nicht unter meiner Ägide. Das ist insgesamt eine viel zu ernste Angelegenheit. Hier gilt es von Anfang an, die richtigen sach- und fachgerechten Maßstäbe anzulegen, sonst können wir auf gefährliches Terrain geraten. Und das wollen wir doch nicht oder sehen Sie das anders?“ sagte er nicht unfreundlich, aber mit spürbarer Herablassung. „Also erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Spaß beiseite. Hören Sie zu Genossin Hahn: Das Vorhaben Dichtergarten Grincana, für das Sie der liebe Genosse Döring auserkoren hat, sicher in bester Absicht, zweifellos, nun wir werden sehen, soll und wird in Kürze nun endlich greifbar Form und Gestalt annehmen.“ Nachfolgend schnarrte er herunter, dass zu dem Zweck, was längst schon hätte passieren müssen, eine übergeordnete Kommission ihre Arbeit aufnehmen werde. Das Gremium werde nach gründlicher Erörterung des Gesamtvorhabens ein verbindliches Grundsatzpapier ausarbeiten, das sie, Anna Hahn, zu gegebener Zeit in die Hand bekomme und dann selbstverständlich gründlich zu studieren habe. Danach, und keinen Tag eher, könne man dann an etwaige erste Ideen und Skizzierungen denken.