Mach's gut? Mach's besser!

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Was genau wir begründen müssen, das hängt von den historischen und sozialen Umständen ab. Als Amerika von Europäern noch nicht entdeckt war, konnte man Floridas Strände nicht als Reiseziel wählen. Also war die Auswahl der Reiseziele begrenzt. Aber die Europäer konnten anderswo herumziehen.

Jeder Mensch ist prinzipiell frei, aber er lebt in einem historisch entstandenen System von Freiheiten und Unfreiheiten, die er angesichts seiner prinzipiellen Freiheit gestalten muss. Das ist seine Chance … und seine Pflicht.

Warum ist das so?

Damit habe ich einen kleinen Freiheitsbeweis versucht. Aber ich habe nicht die Frage beantwortet, warum das so ist. Ich hatte schön verschleiernd geschrieben, dass dem Menschen „Freiheit zukommt“. Wer lässt sie ihm zukommen? Und nun bin ich in arger Bedrängnis. Ich muss offenbaren: Ich weiß es nicht. Ich glaube es zwar zu wissen, aber ich weiß es nicht sicher. (Davon später.)

Denn wenn man sagt, dass der Mensch von Natur aus frei sei, hilft das auch nicht wesentlich weiter: Wer oder was ist „Natur“? Warum sollte diese personifizierte Natur ein Wesen hervorbringen, das sich gegen eben diese Natur (die es doch hervorgebracht hat) wenden kann? Was hat die Natur davon, dass sie ein Wesen herausmendelt, das sie, die Natur, abschaffen kann – z. B. durch extensive Nutzung, Verschmutzung oder Zerstörung? Schauen wir in der Bibliothek nach einer Antwort.

Kakerlaken (Buchausleihe)

Manche Ethikbücher der Bibliothek enthalten Evolutionstheorien oder suchen Hilfe bei der Verhaltensforschung („Ethologie“). Sie legen nahe, dass sich freie und vernünftige Wesen besser an die jeweiligen Umstände anpassen können als unfreie Wesen. Die Evolution habe den freien Menschen hervorgebracht.

Da habe ich nun große Zweifel. Wenn man nämlich in zoologischen Fachbüchern nachschlägt, erfährt man, dass die liebenswürdigen Kakerlaken älter als die Menschheit sind und fähig, unter fast allen Umweltbedingungen zu überleben. Nur wenn man mit dem Hammer draufschlägt, bekommt man sie klein. Dann stehen aber schon zehn neue Kakerlaken zur Vermehrung bereit. Es sind wahre Überlebenskünstler. Sie sollen zudem resistent gegenüber radioaktiver Bestrahlung sein. Sie können nicht anders als zu überleben.

Noch ist die Geschichte nicht zu Ende, und wir wissen nicht, ob am Ende die Erde von Menschen oder von Kakerlaken bevölkert sein wird. Bleiben am Ende die Kakerlaken übrig, dann hätte nicht die Vernunft, sondern die Determination in der Evolution gesiegt. Unfreiheit kann viel erfolgreicher in der Evolution sein als Freiheit. Sollen wir so werden wie die Kakerlaken, weil sie sich am besten an die Umwelt angepasst haben?

Sie ahnen vielleicht, dass eine naturwissenschaftliche Begründung der menschlichen Freiheit einige Schwierigkeiten bereitet. Sie setzt voraus, dass Überleben gut ist. Ist es das? Und sie setzt voraus, dass in der Geschichte das Gute siegt. Ist das so? Oder umgekehrt, dass das, was in der Geschichte siegt, das Gute sei. Im Hinblick auf die Kakerlaken können einem Zweifel an diesen Voraussetzungen kommen.

Kurz: Ich habe vorläufig keine Antwort auf die Frage, warum wir Menschen frei sind. Ich weiß nur, dass alles Denken und Planen ausschließlich dann einen menschlichen Sinn haben kann, wenn Denken und Planen die Freiheit voraussetzen. Wenn wir so leben, als ob wir frei wären.

Sollte sich irgendwann einmal am Ende der Geschichte herausstellen, dass wir Menschen letztlich doch nicht frei waren, so war diese Voraussetzung dennoch richtig – denn eine andere hätten wir gar nicht annehmen können (weil wir ja unfrei waren). Sollte sich jedoch irgendwann definitiv herausstellen, dass wir Menschen frei sind, so war die Voraussetzung auch richtig (weil wir ja tatsächlich frei sind). Wir stehen also immer auf der richtigen Seite, wenn wir immer so denken, entscheiden und handeln, als ob wir frei wären.

(9) Nur wenn wir frei sind, brauchen wir eine Ethik; jede Ethik setzt Freiheit voraus.

Wenn unser Denken determiniert sein sollte, brauchen wir uns keine Gedanken mehr zu machen. Dann lassen wir uns denken. Dann denkt irgendetwas für uns. Dann tun wir, was wir tun, ob mit oder ohne Denken. Dann ist alles gleichgültig. Dann könnten wir Forschungsmittel auch für Freikarten in Vergnügungsparks verwenden. Wenn es kommt, wie es kommen soll, kommt es nicht drauf an. Wenn allerdings der Mensch frei ist, dann brauchen wir eine Ethik.

Du lebst nicht zweimal

Sittliche Entscheidungen beinhalten nun nicht nur das, was wir tun, sondern auch das, was wir nicht tun. Wenn ich das Wechselgeld zurückgebe, kann ich es nicht gleichzeitig behalten. Etwas zu wählen heißt, etwas anderes nicht zu wählen. Man kann die Optionen manchmal eine gewisse Zeit lang offenhalten, aber einmal muss man sich dann doch entscheiden. Dann macht man etwas, und etwas anderes macht man dann nicht. Gebote sind also umgedrehte Verbote.

(10) Etwas zu tun heißt, etwas anderes nicht zu tun.

Wir handeln in diesem Sinne immer endgültig. Eine Vorläufigkeit des Handelns gibt es nicht. Unsere Zeit ist unwiederbringlich. Wir Menschen leben in der Geschichte. Wir vergehen in der Zeit. Für uns ist unser Leben unumkehrbar.

(11) Wir können immer nur einmal handeln.

Wir leben nicht probeweise. Man kann nur einmal handeln. Und dieses eine Mal muss es richtig gut sein. Wir können vielleicht die Folgen einer Handlung neu behandeln; aber wir können eine Handlung nicht ungeschehen machen: Wer eine Autobahnausfahrt verpasst hat, kann zwar die nächste nehmen … Aber den Zeitverlust kann er nicht ungeschehen machen.

Gebote sind Verbote

Wenn wir uns etwas erlauben, verbietet sich etwas anderes – nämlich die Sache nicht zu tun. Aber ist das noch tolerant, wenn man etwas verbietet? Ist das Pluralismus, wenn wir etwas nicht zulassen? Und wollen wir nicht alle tolerant sein und sollen den Pluralismus schätzen? Haben wir nicht aus Gotthold Ephraim Lessings Ringparabel (aus dem Theaterstück Nathan der Weise, 1779) gelernt, dass niemand weiß, wer der richtige Gott, was also die Wahrheit ist? Mag sein, aber Lessings Parabel setzt voraus, dass es den richtigen Ring immer noch gibt.

Es ist nicht alles gleich gültig. Wer sagt: „Alles ist gut“, müsste selbstverständlich auch Hunger und Krieg akzeptieren. Wer sagt: „Ich will, dass die Menschen so sind, wie sie sind“, müsste auch diejenigen Menschen akzeptieren, die ihn töten wollen. Eine schöne Konsequenz!

Unbegrenzte Toleranz kann nicht richtig sein. Wer eine Ethik fordert, die alles zulässt, befindet sich im Prozess der Selbstauslöschung. Die Proklamation der Beliebigkeit („Alles ist möglich“) leitet die eigene Amtsenthebung ein. Sie überlässt die Welt der Herrschaft der Mächtigen. Sie fördert Gewalt. Krieg. Denn wenn alles erlaubt ist, dann siegt faktisch der, der die Macht hat. Dann siegt die Gewalt.

Die Proklamation von Freiheit bedeutet immer auch die Deklaration von Unfreiheiten. Wer Demokratie einführt, verbietet die Monarchie. Wer Pluralismus fordert, lehnt Einheitlichkeit ab. Das hat Folgen:

Die Freiheiten dürfen nämlich nicht so weit gehen, diejenigen zu beseitigen, die diese Freiheiten proklamieren. Man kann als Sittengesetz nicht aufstellen, dass das Verbieten verboten wird. Jedenfalls kann man solch ein Gesetz dann nicht aufstellen, wenn man sich selbst nicht widersprechen will.

Es ist also nicht richtig zu behaupten, dass das Verbieten ausschließlich Ausdruck von Macht ist und damit illegitim. Ein Verbot kann Ausdruck von Freiheit sein und Freiheit sichern.

Wenn wir voraussetzen, dass sich die Menschen durch Freiheit definieren, entsteht die Verpflichtung, diese Freiheit zu achten und zu bewahren. Andernfalls würde man ihre Entstehungsbedingung zerstören. Und es ergibt sich die Verpflichtung, die Freiheit dort einzufordern, wo sie nicht beachtet wird. Wir können ja schlecht etwas voraussetzen, was wir dann in unseren Handlungen nicht achten, die diesen Voraussetzungen folgen. Das wäre ein Widerspruch zwischen Denken und Tun. Man kann nicht sagen, dass die Menschen frei sind – aber eben diese Freiheit nicht leben dürften. Wenn wir frei sind, dann müssen wir auch frei denken und handeln können.

Wenn wir für jeden Menschen Freiheit voraussetzen, dann ist die prinzipielle Unfreiheit verboten. Sie ist der logische Gegner. Unfreiheit muss man verbieten. Das ist eine sittliche Pflicht. Die Freiheit hat also – logisch betrachtet – Verbote zur Folge. Damit haben wir eine weitere Regel gefunden, die sich aus dem Gedanken der Freiheit ergibt:

(12) All unser Denken und Handeln muss sich an das halten, was es voraussetzt: die Freiheit.

Alle Menschen sind gleich

Wer also sagt: Ich bin so frei, dir zu verbieten, dass du frei bist – befindet sich in einem Selbstwiderspruch. Denn er missachtet die Grundvoraussetzung für alle Menschen. Damit ist vorausgesetzt, dass in Hinsicht auf die Freiheit alle Menschen gleich sind. Die Freiheit gilt für alle Menschen. Kein Mensch darf die Freiheit des anderen als prinzipiell eingeschränkt ansehen. Und so haben wir einen weiteren Grundsatz gefunden:

(13) Ethische Prinzipien müssen immer für alle Menschen gelten, weil alle Menschen im Grundsatz gleich sind: Alle Menschen sind frei.

Man kann demnach keine gruppenspezifische Ethik schreiben. So etwas hat man in der Tat versucht! Aristoteles (384–322) hatte (in seiner Politik) zwischen Bürgern und Sklaven unterschieden und nur den Bürgern Freiheit zugesprochen. Sklaven seien lebende Werkzeuge, mithin so unfrei, wie es Werkzeuge eben sind. Werkzeuge sind Gegenstände, die nur deshalb da sind, weil sie einen Zweck erfüllen. Ein Hammer ist nicht frei. Er ist nur für den da, der ihn gebraucht. Aber wer ihn gebraucht, der ist frei. Zum Beispiel seien dies – so Aristoteles – die Bürger Athens. Denn sie könnten Zwecke setzen. Sie könnten einen Hammer oder Sklaven zur Bearbeitung von Steinen für den Tempel oder aber zur Bearbeitung von Steinen für die Stadtmauer einsetzen.

 

Es darf aber nicht eine Ethik für kultivierte Athener und eine für bärtige Barbaren aus dem Norden geben. Eine strenge Ethik für Deutsche und eine lockere für Amerikaner, eine für Gläubige und eine für Atheisten, eine für Christen und eine für Muslime. Es gibt nur eine Ethik, und die muss für all jene Wesen gelten, deren Erkennungsmerkmal es ist, frei zu sein – also für alle Menschen. Es darf also keine Ethiken (im Plural) geben, sondern es kann nur eine Ethik (Singular) geben. Sie gilt für alle. (Gäbe es mehrere Ethiken, dann müsste es eine Oberethik geben, die zuteilt, wann für wen warum welche Ethik gilt. Also gibt es doch wieder nur eine Ethik.)

(14) Es kann nur eine Ethik geben.

Die Bibliothek im Philosophischen Institut, Abteilung Ethik, könnte daher sehr überschaubar bleiben. Es dürfte – wenn man es recht bedenkt – nur ein einziges Buch darin stehen, jenes nämlich, das für alle gilt. Denn wenn alle Menschen gleich sind (weil sie alle frei sind), dann muss für alle das Gleiche gelten. Dieses Buch zu lesen, wäre machbar, vielleicht sogar, wenn man in der Warteschlange eines Supermarktes steht.

In der Tat hat der gebürtige Schweizer Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) als sparsamer Mensch diese Auffassung vertreten und dieses letzte Buch zu schreiben versucht. Immerzu. Es sollte das einzige Buch sein, das noch in der Bibliothek, Abteilung Ethik, stehen bräuchte. In diesem Buch sollte nachgewiesen werden, dass man gar keine Bücher braucht, um sittlich handeln zu können. Das letzte Buch sollte die Abschaffung aller (ethischen) Bücher empfehlen.

Weit hergeholt

Nun scheint eine solche Forderung vielleicht rhetorisch brillant zu sein, aber sie widerspricht all unseren Erfahrungen. Wieso sollte die gleiche Ethik für Einwohner in armen Entwicklungsländern wie für Einwohner in reichen Industriestaaten gelten? Niemand kann doch fordern, dass alle das Gleiche tun sollen! Menschen, die in der Sahelzone, und solche, die im Polarkreis leben, müssen doch unterschiedlich leben. Männer sind anders als Frauen, Erwachsene sind anders als Kinder. Die Welt der Spruchweisheiten bestärkt uns darin, dass jedem das Seine zukommen muss: Lehrjahre sind keine Herrenjahre. Quod licet Iovi, non licet bovi. („Was dem Gott Jupiter erlaubt ist, ist dem Rindvieh noch lange nicht erlaubt.“) Wat den eenen sin Uhl, is den annern sin Nachtigall!

Die These, dass für alle Erdenbewohner das Gleiche gelten soll, scheint so offenbar unsinnig zu sein, dass man versucht sein könnte, jenes Buch aus der Bibliothek zu werfen, das dies behauptet. Aber warten Sie bitte mit der Entsorgung noch ein paar Zeilen: Die Unterschiede, die Sie gerade zitiert haben, gibt es aus einem einzigen Grund, nämlich dem, dass alle Menschen gleich sind. Die Menschen können nur unterschiedlich leben, weil sie sich darin gleichen, dass sie alle frei sind.

In Bezug auf die Freiheit sind alle Menschen gleich. Freilich sind die Menschen nicht gleich in Bezug daraufhin, wie sie mit dieser Freiheit umgehen. Da macht jeder, was er will. Dieser Wille hat auch das Recht dazu, nämlich zu machen, was er will. Dazu ist er da. Dieser Wille, zu tun, was man will, und nicht zu bleiben, der man schon immer war, macht die Würde des Menschen aus. Er ist der innerste Kern jenes Lebewesens, das sich mit diesem Willen von allen anderen Lebewesen unterscheidet. Er ist Gattungsmerkmal des Menschen. Der Mensch besteht aus seinem Willen. Er ist frei. Sein Wille ist sein Himmelreich.

(15) Tu, was du willst!

Dieser Wille ist freilich keine Beliebigkeit. Denn zumindest eines darf der Wille nicht wollen: Er darf sich nicht gegen sich selbst wenden und sich abschaffen. (Er kann es auch nicht wollen. Vielleicht ist das ein Indiz für eine Krankheit, wenn ein Wille nicht mehr kann? Krankheit wäre dann die Unfreiheit, wollen zu können.) Deswegen hatten wir gesagt, Freiheit (also der freie Wille) hat eine Grenze, nämlich das Verbot, sich selbst abzuschaffen. Man darf nicht im Widerspruch zu seinen Voraussetzungen leben. Und ich vermute, dass Sie mir zustimmen, dass dieser Satz für alle jene Wesen gilt, die einen freien Willen haben – und das sind, nach derzeitigem Wissensstand, alle Menschen. Für sie gilt eine Ethik.

Du willst, was du willst!

Ethik kann sich also gar nicht auf das Unterschiedliche, sondern nur auf das Gemeinsame richten, und das ist die Freiheit. Der freie Wille. Der freie Wille ist der Regent in jedem Einzelnen, jenes Organ, das die Freiheit umsetzt. Ich tu, was ich will. Ich will so werden, wie ich will. Aber …

… aber was auch immer ich tue, muss ich so tun, dass ich tun kann, was ich will. Der freie Wille schränkt sich durch seine vorausgesetzte Freiheit selbst ein.

Vielleicht wollen Wüstenbewohner etwas anderes als Siedler am Polarkreis, Arme etwas anderes als Reiche, Kinder etwas anderes als Erwachsene, Männer etwas anderes als Frauen. Aber ihnen gemein ist, dass sie etwas wollen können. Daher müssen alle etwas wollen, und es muss etwas gewollt werden, was diesen ihren Willen nicht zerstört. Weil sie sonst ihr Menschsein (ihren freien Willen) verlören.

Eine Ethik des freien Willens kann also nicht vorschreiben, wie jemand leben, was er morgens essen, tagsüber arbeiten, abends im TV schauen soll, wen er wie lieben soll, was er in seiner Freizeit machen und wen er wählen soll. Aber sie kann sagen:

(16) Was auch immer du wählst, du musst es so wählen, dass dein freier Wille nicht dabei verloren geht.

Denn es wäre nicht logisch, den freien Willen zu seiner Abschaffung zu nutzen. Das ist ein Argument dafür, warum Drogensucht nicht nur medizinisch bedenklich ist, sondern auch sittlich. Drogen machen ihre Konsumenten abhängig. Sie machen ihre Konsumenten zu Sklaven, zu Werkzeugen physischer Mechanismen. Ein berühmter Junkie hat dies einmal so beschrieben:

„Die meisten Junkies verblöden. Und das war letztlich der entscheidende Grund, der mich zur Umkehr bewegte. Wir (= die Heroinabhängigen) kennen nur ein Thema, und das ist der Stoff. Geht’s nicht ein wenig intelligenter? Warum hänge ich mit diesen Nullen ab? Die sind langweilig. Schlimmer noch, viele sind absolut intelligente Menschen, die aber alle irgendwie wissen, dass sie sich haben täuschen lassen. Andererseits … warum eigentlich nicht? Jeder lässt sich von irgendwas täuschen, wir wissen wenigstens, dass wir uns zum Affen machen.“

Dieses Bild vom Menschen als Affen zeigt sehr schön, dass (nach Auffassung des Abhängigen) der Mensch sein Menschsein verliert und sich unfrei wie die instinktgebundenen „Affen“ verhält. Aber noch etwas zeigt das Zitat: Der ehemalige Junkie beschreibt eine Wertentscheidung. Die Wahl für die (durch den Entzug schmerzhafte) Freiheit gegen die (physisch angenehme, lustvolle) Abhängigkeit:

„Ich liebte das Zeug. Aber irgendwann reichte es. Außerdem schränkt es den Horizont ein, bis man schließlich nur noch Junkies kennt. Ich musste meinen Horizont erweitern (also frei sein, V. L.). Natürlich erkennt man das alles erst, wenn man den Ausstieg geschafft hat. Dafür sorgt schon der Stoff.“

Dieses Bekenntnis stammt von Keith Richards, dem Gitarristen der Rolling Stones, jener Rockband, die es seit 50 Jahren tüchtig krachen lässt.

Aus Prinzip

Das, was eine Ethik formulieren kann, sind Grundsätze – solche, wie ich sie bisher in den kleinen Kästchen zu formulieren versucht habe. Man nennt sie in der Fachsprache Prinzipien.

(17) Prinzipien sind Regeln, aus denen unmittelbar keine Handlungsanweisungen (Normen) abzuleiten sind, die man aber beachten muss, wenn man handelt.

Prinzipien gelten immer. Sie sind nicht global, sondern universell. Sie sind nicht weit verbreitet, sondern gültig begründet. Sie sind nicht Ausdruck von Macht, sondern Folge der Freiheit.

(18) Prinzipien gelten nicht, weil sie akzeptiert werden, sondern sie müssen akzeptiert werden, weil sie gelten.

Prinzipien sind nicht empirisch, sondern sie ordnen die Empirie. Sie sind nicht geschichtlich bedingt, sondern machen Geschichte erst möglich.

Eine Ethik braucht nicht mehr als diese Prinzipien, und deshalb war Rousseau zu Recht der Ansicht, man könne Geld sparen, viele und dicke Bücher vermeiden, Bibliotheken verkleinern und nur ein Buch schreiben. Das sei dann das letzte Buch. Das Buch der Prinzipien.

Aus Prinzip beispielhaft

Freilich stellte sich dann heraus, dass jede Kultur eine andere Sprache spricht. Dass jede Zeit ihre Vorstellungen in eigenen Bildern malt. Dass jede Tradition ihr eigenes Wissen stapelt und ihre Vorurteile und Gewissheiten sorgfältig kultiviert. Dass jeder Autor seine Vorlieben, seinen Stil und seinen bevorzugten Wort- und Bildschatz bewahren will. Und so können die Prinzipien, obwohl sie überzeitlich gemeint sind und auch als überzeitlich vorausgesetzt werden müssen, immer nur zeitbedingt formuliert werden.

(19) Prinzipien sind überzeitlich. Aber sie lassen sich nur zeithaft formulieren.

Prinzipien sind beispielhafte Formulierungen für etwas, was kein Mensch wird je zeitlos formulieren können, obwohl es zeitlos gültig ist, was er da formulieren will. (Das „Unvorstellbare zu denken“, heißt es in Arnold Schönbergs Oper „Moses und Aron“ [ab 1925].) Das wusste auch Rousseau, und deshalb verfiel er in seinem Bildungsessay Emile (1762) auf die Idee, nicht die Prinzipien aufzuschreiben, sondern Geschichten zu erzählen, aus denen dann jeder Leser, jede Generation neu die Prinzipien aufspüren und selbst suchen musste:

„Meine Beispiele, die vielleicht für ein Individuum richtig sind, werden für tausend andere falsch sein. Wenn man ihre Grundidee (das Prinzip) begreift, kann man sie aber je nach Bedarf variieren; die Auswahl hängt vom Studium der individuellen Begabung ab, und dieses Studium von den Gelegenheiten. An euch ist es, zu erkennen, ob daraus nützliche Betrachtungen über den Gegenstand zu gewinnen sind, um den es sich handelt. Ich unterbreite euch keineswegs die Ansicht anderer oder meine als Richtlinie; ich biete sie euch zur Untersuchung dar.“

Wir können das Ewige immer nur zeithaft formulieren, aber in jedem Zeithaften steckt der Anspruch der Ewigkeit.

Oder sagen wir es so: In jedem Besonderen steckt der Anspruch des Allgemeinen. Die Menschen sprechen nur eine Sprache, aber das tun sie in jedem Land anders. Wir können eine andere Sprache nur deshalb überhaupt übersetzen, weil alle Sprachen auf einer einzigen Sprache fußen, die allen Menschen gemein ist. Nur kann diese Sprache niemand sprechen – und deswegen meinen wir, es gäbe sie nicht. Wir müssen sie aber logisch voraussetzen. Denn wenn man etwas vergleicht, dann muss es ein Drittes geben, das im Verglichenen enthalten ist. Wenn man sich zwischen Bier und Wein, Matjes oder Milchschnitte entscheidet, muss es jeweils etwas Drittes geben, damit man sich überhaupt entscheiden kann. Es ist z. B. unser Geschmack. Aber Geschmack allein gibt es nicht, erst wenn man etwas schmeckt, kann er sich erweisen.

Du

Ich hatte bisher festgestellt:

– Alle Menschen sind frei.

– Die vorausgesetzte Freiheit muss beim Handeln so beachtet werden, dass die Freiheiten oder Verbote die Freiheit nicht aushebeln oder paralysieren.

Nun sollen diese Grundsätze nicht nur für den gelten, der sie aufstellt, sondern auch für den, der sie vernimmt. Denn er ist ja ebenso frei wie der, der spricht. Er ist ihm gleich. Und da entstehen gelegentlich kleinere oder größere Konflikte: Wenn ich mir die Freiheit nehme, eine Party zu feiern, dann könnte es sein, dass ich damit die Freiheit meines Nachbarn einschränke, der zu eben dieser Zeit ungestört seinen Nachtschlaf beginnen möchte. Nach der bisherigen Diskussion hätten wir beide Recht. Aber beides zusammen geht nicht. Was tun?

Wir könnten uns zum Beispiel verabreden. Vielleicht will mein Nachbar am nächsten Tag gar nicht mit den Hühnern schlafen gehen, und ich möchte die Party mit leisem Kuschelrock beenden. Wir beide könnten freiwillig auf Freiheiten verzichten, um die Freiheit des anderen zu achten. Daraus könnte man die Regel – das Prinzip – formulieren:

 

(20) Erlaubt sind anderen gegenüber solche Handlungen, die die Freiheiten des anderen so weit einschränken, wie er dies selbst in freier Entscheidung zulässt.

Damit haben wir das Problem gelöst. Bei Verständigungen entstehen keine Konflikte … Ich spüre Ihre Zweifel. Wer wird schon freiwillig auf alle seine Freiheiten verzichten!? Verzichtet man selbst um der Freiheit eines anderen willen auf seine Freiheiten? Gibt es solche Fälle? Ja, gewiss. Da gibt es viele Beispiele. Hier ist eines:

Eine gute, grausliche Geschichte

Einmal wurde einem sehr populären Philosophen der Prozess gemacht. Am Ende der Verhandlungen waren die Richter zu der Überzeugung gelangt, dass der Philosoph die Jugend vom rechten Wege abgebracht und Gottlosigkeit verbreitet habe. Als Strafe beschlossen sie seine Hinrichtung, die mittels Gift vollstreckt werden sollte. Kurz vor der Hinrichtung schlichen sich nun Freunde zu dem beliebten Philosophen, die alles für seine Flucht vorbereitet hatten. Sie sagten ihm, er könne ganz einfach und ohne Risiko sein Leben retten.

Und nun muss man schon genau lesen, warum Sokrates (469–399), so hieß der Philosoph, diese Fluchthilfe ablehnte und seine Freiheit dazu nutzte, auf sein Leben zu verzichten – und dies, obwohl er in einer großen Verteidigungsrede (der Apologie) nachweisen konnte, dass die Vorwürfe nicht zutrafen:

„Allein glaubte ich weder vorher der Gefahr wegen etwas Unedles tun zu dürfen, noch auch gereuet es mich jetzt, mich so verteidigt zu haben; sondern weit lieber will ich mich auf diese Art verteidigt haben und sterben, als auf jene und leben. Denn weder vor Gericht noch im Kriege ziemt es weder mir noch irgend jemandem, darauf zu sinnen, wie man nur auf jede Art dem Tode entgehen möge. Auch ist das ja bei Gefechten oft sehr offenbar, dass einer dem Tode gut entfliehen könnte, würfe er nur die Waffen weg und wendete sich flehend an die Verfolgenden: und viele andere Rettungsmittel gibt es in jeglicher Gefahr, um dem Tode zu entgehen, wenn einer nicht scheut, alles zu tun und zu reden. Allein, dies möchte nicht schwer sein, ihr Athener Freunde, dem Tode zu entgehen, aber weit schwerer, der Schlechtigkeit zu entgehen: denn sie läuft schneller als der Tod.“

Die Flucht wäre ein Bruch mit genau jener Ethik gewesen, für die der Philosoph eingetreten war. Würde er fliehen, dann hätten sich jene Interessenverbände durchgesetzt, die auch bisher immer gegen Recht und Gesetz, gegen das Sittengesetz verstoßen hätten. Seine Flucht, sein Überleben wären deren Sieg. Sein Tod aber ist ihre Niederlage. Sein Tod war der Sieg der Freiheit.

Durch seinen Opfertod zeigt Sokrates, dass es Menschen gibt, die ihre Freiheit freiwillig einschränken. Er demonstriert ein für alle Mal, dass die Sittlichkeit über die Unsittlichkeit siegen kann, dass sie nicht bestechlich sein muss, dass die Sittlichkeit über den Tod hinaus Geltung hat und letztlich Recht behält. Sokrates hat völlig freiwillig eine seiner Freiheiten (die des unversehrten Lebens) eingeschränkt, weil er seine Freiheit bewahren wollte, nämlich sittlich zu leben. Das setzt Maßstäbe. Diese Handlungsweise zeigt, dass es möglich ist, auch dann sittlich zu handeln, wenn es um Leben und Tod geht.

Fallgeschichten

Sokrates könnte Vorbild sein, Beispiel, ein starkes Bild, das zeigt, wozu Menschen in der Lage sind. Menschen sind bereit, auf ihre Freiheiten zu verzichten, wenn sie damit der Freiheit eine Gasse bahnen. Zeitlich etwas später berichten gleich vier Autoren von einem ähnlich gelagerten Fall in einer römischen Provinz. Da habe sich jemand zum Tod am Kreuz verurteilen lassen, um seiner Vorstellung von Sittlichkeit treu bleiben zu können.

Dass solch Verhalten keineswegs ein Charakterzug einer historischen Einzelperson oder ein eurozentriertes Modell ist, erfährt man, wenn man den Worten des Konfuzius (551–479) lauscht: „Ein Mann von Geist und sittlicher Haltung wird nie versuchen, sein Leben auf Kosten seines Charakters zu retten. Er zieht vor, sein Leben hinzugeben, um seinen Charakter zu retten.“

Freiheit heißt also weder Willkür noch Beliebigkeit. Freiheit im ethischen Sinne meint, die Möglichkeit zu haben, sittlich angemessen zu handeln. Diese Freiheit haben viele, auch ungenannte Menschen für sich in Anspruch genommen, indem sie trotz Todesgefahr jenes Sittengesetz nicht brachen, für das sie sich immer eingesetzt hatten. Sittlichkeit ist möglich.

Im Kapitel 5 versuche ich aufzuzeigen, was man macht, wenn der andere nicht fähig oder bereit ist, nach sokratischer Art auf seine Freiheiten zu verzichten, um die Freiheit zu retten.

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