Die Wiedergewinnung des Heilens

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Änderungen tun not

Schauen wir nun auf die Aufgabe, im Namen einer christlichen Medizin die geschilderten Verhältnisse wieder in eine ethisch-moralische Haltung einzubetten und sie damit neu zu gestalten, dann wird eine erste grundsätzliche Notwendigkeit ganz deutlich: Die Veränderungen müssen von Einzelnen ausgehen, von jedem von uns! Das grund-christliche Motiv ist die Nächstenliebe, und aus ihr kann ich eine neue Medizin entwickeln. Und das heißt an erster Stelle Selbsterziehung, und davor noch Selbsterkenntnis. Jeder müsste sich fragen, inwieweit er durch sein Verhalten an der Misere mitgewirkt hat. Habe auch ich als Arzt Leistungen manipuliert, mir ein Arzneimittel besorgt, das ich brauchte, im Austausch mit einem, das auf dem Rezept stand, das ich aber nicht wollte? Oder als Patient: Habe ich mich krankgemeldet, obwohl ich hätte arbeiten können?

Die Zulieferer der Medizin, an erster Stelle die Arzneimittelhersteller, müssen sozialisiert werden, womit ich meine: Ihnen muss klar werden, dass ihr Platz in der Gesellschaft ein dienender ist, dass sie im Dienste des krank gewordenen Menschen arbeiten müssten, ihn nicht als Kunden missverstehen, durch den der Gewinn des Unternehmens maximiert werden kann. Die Gewinne der Hersteller müssten Stiftungen zufließen, durch die wiederum medizinische Forschung gefördert werden kann. Es müssten Präventionsprogramme finanziert werden, um sich von einem Motto für das 21. Jahrhundert leiten zu lassen, das ich so formulieren möchte: „Es muss immer wichtiger werden, Gesundheit zu erhalten, als Krankheiten zu behandeln“. Es muss eine präventive Medizin ausgearbeitet werden, die diesen Namen verdient, die sich nicht in Impfungen und Vorsorgeuntersuchungen erschöpft, sondern mit der Gesundheitserziehung schon in der Kindheit beginnt. Welche die Arbeitswelt so gestaltet, dass nicht immer mehr Menschen wegen „psychischer Ursachen“ (deren wichtigste wohl das weite Feld der Depressionen ist) „krankgeschrieben“ werden müssen. Wir müssen Arbeit wieder als zentralen Anteil eines gesunden Menschenseins definieren, dürften als solidare oder eben christlich-geprägte Gesellschaft Jugendarbeitslosigkeit überhaupt nicht zulassen, müssten ein Recht auf Arbeit festschreiben.

Doch zum Anfang zurück: Diese Veränderungen können nur von Einzelnen ausgehen, jeder von uns kann damit anfangen. Und das Element der Liebe kann uns dabei leiten. Liebe zu uns selbst, zu unserem uns so treu ein Leben lang dienenden Leib, den wir zu pflegen lernen müssen, dem wir zu danken lernen müssen. Liebe auch zu unserem Nächsten, Liebe zur Natur und zur ganzen Erde und letztlich auch zu den göttlichen Kräften, die uns, die Welt, ihre Gesetzmäßigkeiten geschaffen haben und ihren Blick auf alles gerichtet halten, auf dass es Zukunft habe, im Zentrum den Menschen als eine einmal gedachte Krone der Schöpfung. Christus hat die Liebefähigkeit in unsere Welt getragen, er ist substanziell Liebe und durch ihn in Verbundenheit mit der Menschheit kann die Erde zum Planeten der Liebe werden.17

Hier möchte ich wieder zurücklenken auf die Medizin und meine Blickrichtung als Arzt, dem Menschenliebe als die zentrale Kraft, aber auch als Befähigung für seinen Beruf notwendig ist. Aus der Kraft vieler Einzelner wird immer mehr Kraft für das Ganze entstehen. Das wird dauern, nicht schnell gehen, aber es wird Veränderungen bewirken, wie sie schon heute erlebbar sind. Es gibt ein reales Bild dafür: Ein steter Tropfen höhlt den Stein.

3.
Vom Heilen

Heilen ist für mich ganz und gar mit Christus verbunden und von ihm unabhängig weder zu denken noch faktisch möglich. Das ist mein persönliches Bekenntnis, der Mittelpunkt oder das Herzstück dieses Buches. Das möchte ich im Weiteren darstellen und begründen.

Christus ist das Heil der Welt, womit vor allem Erde und Mensch angesprochen werden, er ist der Heiland. Er stellt für das Heilen den Heiligen Geist in seinen Dienst, der deshalb auch der heilende Geist genannt werden kann. Denn Heilung geht immer vom Geist aus, weil dieser urgesund ist. Steiner sagt, dass es töricht sei, von Geisteskrankheiten zu sprechen, „weil der Geist immer gesund ist und eigentlich nicht erkranken kann“.18 Das gilt auch für den geistigen Kern des Menschen, unser Ich. Deshalb muss jede Krankheit heilbar sein, wenn es gelingt, das Ich in seine Herrschaft von Seele und Leib so zu integrieren, dass es gesundend wirken kann. Und so trägt auch jeder Mensch seinen eigentlichen Heiler in seinem Ich in sich selbst. Carl Gustav Carus hat schon im 18.Jahrhundert gewusst und ausgesprochen, dass Heilung immer vom „Spriritus“ ausgeht, eine heilenwollende Medizin eine spirituelle sein muss.19 Und Steiner weist in einem seiner wichtigsten medizinisch-menschenkundlichen Vorträge mit dem Thema „Der unsichtbare Mensch in uns“ darauf hin, dass von Heilen durch Menschenkunst eigentlich nicht gesprochen werden könne, da der Heiler in jedem Menschen selber vorhanden sei.20 Ich verstehe das auch so, dass jedem Menschen der Christus innewohnt. Darauf soll später hingeschaut werden.

Der oben bereits zitierte Bernard Lown spricht von der verlorenen Kunst des Heilens. Ich habe vor langen Jahren in einem Editorial im „Deutschen Ärzteblatt“ gelesen, dass, wer noch vom Heilen in der Medizin spräche, ein Scharlatan sei. Leider habe ich den Text nicht aufgehoben, zu groß war das Entsetzen in mir, denn ich erlebte mich als einen Arzt, der angetreten war, heilen zu wollen. Und nun sollte ich ein Scharlatan sein!? Es ist aber so, dass die moderne Medizin in ihrer naturwissenschaftlichen Ausgestaltung das Heilen aus sich heraus verbannt hat, wie es Lown gut begründet dargestellt hat. Geradezu blasphemisch oder einfach zutiefst zynischbösartig wurde der Begriff des Heils im nationalsozialistischen Gruß missbraucht, wenn Millionen von Menschen „Heil Hitler“ riefen oder brüllten.

Den Inhalt dieses Begriffs „Heil“ oder „Heilen“ zu entdecken, führt uns in die Mysterien des Christuswesens. Und in den Evangelien wird ja überdeutlich, dass Heilen ein wesentlicher Anteil seines Wirkens ist, dass er auch seine Jünger beauftragt, heilend in seinem Namen und Kraft tätig zu werden, von denen keiner der Profession eines Heilers entstammte. Dieser Anteil am Verständnis des Heilens soll weiter unten in Betrachtungen zu den Heilungen in den vier Evangelien folgen, denn sie können Leitbilder für eine neue Form des Heilens werden.

Ist Heilen eigentlich eine Kunst? Ist oder war die Medizin eine Heilkunst, oder sollte sie dieses wieder werden? Ich denke, Heilen ist mehr als eine Kunst. Medizin ist zu einem Anteil erst einmal auch Handwerk, wovon die Behandlung abgeleitet ist, also etwas praktisch mit den Händen zu tun. Und es ist wichtig und gut, wenn sich die Geschicklichkeit mit dem Künstlerischen verbindet. Ein guter Möbeltischler wird immer auch ein Künstler sein, ebenso ein Schuhmacher oder der Bäcker, der auch Konditor ist. Handwerk und Kunst sind sicher Elemente des Heilens, so wie auch die vorausgehende Erkenntnis des spezifischen Heilbedarfs. Heilen möchte heute ganz individuell vollzogen werden, ganz mit dem Blick auf die besondere Individualität. Und ich muss auch das Wesen (den Kern) des Krankseins, der vielfältigen Krankheiten kennen, wenn ich sie heilen will.

Zweierlei Kranksein

Folgt man Rudolf Steiners Darstellungen über die Menschheitsevolution und ihre Zusammenhänge mit der Entwicklung von Natur, Erde und Kosmos, entdeckt man, dass es zweierlei Kranksein geben muss: ein menschheitliches und ein persönliches.

Ersteres entstammt dem evolutionären Augenblick, als der Mensch sich vom Göttlichen trennte oder auch getrennt wurde, um seinen Weg zur Freiheit anzutreten. Diese „Sonderung“ vom Zusammen- oder gar Einssein mit Gott wird christlich der Sündenfall genannt. Dieser Begriff hat viel Verwirrung und manche Irrwege bewirkt, weil Sünde und Krankheit zusammengeworfen wurden, Krankheit als Strafe angesehen wurde, ja sogar ein Ablasshandel der Kirche entstand, fast ein Vorentwurf unserer Ökonomisierung der Medizin. Einssein mit Gott tauchte im Bild des Paradieses auf, die Vertreibung daraus leitete den schon genannten Gang zur freien Person ein, die im Erkennen Gut und Böse zu unterscheiden lernte. Die Gegenkräfte oder Widersacher Gottes wirkten mit im Symbolum der Schlange, die interessanterweise „aufgerichtet“ auch am Merkurstab des Arztes auftaucht. Und noch etwas können wir bemerken. Dem Sündenfall voraus geht die Trennung des Menschen selbst in Mann und Frau. Das göttliche Geschöpf Mensch im Paradies war eine Einheit des Männlichen und des Weiblichen, im Bild der Mythologie ein Hermaphrodit. Nun ist der Mensch in zwei Hälften getrennt, und wenn er sich äußerlich in Ehe oder Partnerschaft vereint, nennt er – oder nannte er früher zu mindestens – den anderen gerne seine bessere Hälfte.An die Einheit erinnert noch die embryologische Entwicklung und auch die Tatsache, dass Androgene und Östrogene in jedem Menschen, ob Frau oder Mann, vorhanden sind, wenn auch in der Menge unterschiedlich.

Dieses Getrenntwordensein, diese Unvollständigkeit des heutigen Menschen, diese Einseitigkeit von Frau und Mann, bewirkt die eine Form des Krankseins, die auch „Sündenkrankheit“ genannt wurde, aber besser und unmissverständlicher „Sonderungskrankheit“ heißen müsste. Sie entsteht als ein notwendiger Schritt der Entwicklung, sie ist Durchgang der Entwicklung und wird in fernen Zeiten „geheilt“ sein, wenn die Trennung aufgehoben, das Getrennte wieder vereint sein wird. Doch diese menschheitliche Urkrankheit, auf die wir hier schauen, hatte Konsequenzen in der harmonischen Gestaltung des Menschen, von Leib, Seele und Geist. Das hat Rudolf Steiner in großartigen Vorträgen mit dem Titel „Die Welt der Sinne und die Welt des Geistes“21 ausführlich und anschaulich dargestellt. Deren Inhalte stellen in meinen Augen für eine zukünftige Medizin eine einzigartige Inspiration dar Jedenfalls hätte ich ohne sie nicht so Arzt werden können, wie ich es sein wollte. Der Hauptgedanke Steiners ist, dass durch das Einwirken der Schlange (ein Bild Luzifers, des Verführers) der Mensch „gestaucht“ wird, so dass die verschiedenen leiblichen und seelischen Glieder fester und tiefgreifender miteinander verbunden wurden, als die Götter es ursprünglich veranlagten. Steiner nennt es Verschiebungen der vier Leibesglieder. Es entstanden dadurch neue, auch organische Anlagen, z.B. Ernährung und das Verdauungssystem, das Drüsensystem; es entstanden aber auch Disharmonien, die sich als Hindernisse, Widerstände gegen die gewollte Entwicklung zur „auf sich selbst gegründeten, freien Persönlichkeit“22 erweisen sollten. Insofern ist der Mensch heute und noch über lange Entwicklungsphasen „krank“, was auch Ungleichgewicht oder Disharmonie genannt werden kann. Früher sprach vor allem die Kirche von „sündig“, ein – wie sich zeigte – sehr missbräuchlicher Begriff. In der Menschenweihehandlung der Christengemeinschaft wird dieses Menschsein kurz vor der Kommunion so ausgesprochen: „Krank ist die Behausung, in die DU eintrittst, aber durch DEIN WORT wird meine Seele gesund“. Die Gesundung durch das Sakrament ist ein Auf-den-Wegbringen.

 

Der andere Anteil daran ist die persönliche Arbeit jedes einzelnen Menschen, was ich Läuterung oder eben Harmonisierung der Seele in Denken, Fühlen und Wollen nennen möchte. Das bewirkt Harmonisierung oder Gleichgewichtung von Leib und Seele, damit der urgesunde Geist ungehindert in beide hineinwirken kann, oder – anders angeschaut – seine intakten Werkzeuge jederzeit zu seiner eigenen Gestaltung und der Arbeit an der Welt einsetzen kann. Hier ist Heilung keine Aufgabe von Arzt oder Priester, hier wird Heilung aus der ich-bewussten Verbindung des Menschen mit Christus erreicht – eine Verbindung, wie sie als erster Mensch Paulus vollzog.

Oft kann man der Frage begegnen, wie Gott denn den Menschen auf so einen schwierigen, ja durchaus gefahrvollen Weg schicken konnte? Wie er ihn durch die Widersacher so angreifbar machen konnte? Im Alten Testament gibt das Buch Hiob eine verschlüsselte Antwort. In unserer Zeit hat Goethe in seinem „Faust“ nicht nur eine ebenso rätselvolle Antwort einer „Erlösung“ gegeben, sondern den ganzen mühevollen, unrechten, abschweifenden Weg des Menschen in großen Bildern voller Mythologie gezeichnet, sodass man diese Dichtung auch als das Buch der Einweihung des Menschen auf dem Weg zur Verwirklichung der Freiheit erleben kann. Und er skizziert, welche Rolle das sogenannte Böse, die Widersacher, übernehmen, als „Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und doch das Gute schafft“.23 Vielleicht noch einen Blick auf das Wort Erlösung: In ihm verbirgt sich auch anschaulich, dass das zu tief ineinander Gestauchte von Leib und Seele wieder voneinander gelöst werden muss, um in Harmonie miteinander tätig zu sein, immer im Dienste und als Werkzeuge des Ich.

Haben wir bisher auf die menschheitliche Dimension des Krankseins geschaut, richten wir jetzt den Blick auf das persönliche Kranksein. Dieses ist das Feld der Medizin, des Arztes, der Pflegenden, Therapeuten und aller anderen medizinischen Berufe, die gemeinschaftsbildend am Heilen mitwirken. Hier sammelt sich die Fülle der spezifischen Krankheiten, die den Menschen aufsuchen können und mit denen er sich ganz persönlich auseinandersetzen muss. Und die er lernen sollte zu überwinden, um dadurch neue Kräfte zu gewinnen. Im Überwinden begegnet er dem Widerstand, den Widersachern. In einem weiteren Vortragszyklus „Die Offenbarungen des Karma“24 beschreibt Steiner, wie Gott die Fähigkeit zum persönlichen Kranksein dem Menschen schenkt als Kraft gegen die Versuchungen und Abirrungen auf seinem Wege zum freien Menschen, zur inneren, harmonischen Vereinigung von Geistesmensch und Erdenmensch. Er differenziert dieses Geschenk zum einen in Krankheit als Kraft, Luzifer nicht zu erliegen, und zum anderen in Karma oder Schicksalsgesetz, um gegen Ahriman zu bestehen. Beide Kräfte repräsentieren die Trennung von Licht und Finsternis in ihren Einseitigkeiten von Erdflüchtigkeit und Erde-werden in Form des Materialismus. So offenbart sich uns der Weg zum Vatergott in dem Meditationstext, der zum Motiv für dieses Buch gewählt wurde: Dass ich den Weg gehen werde, der mich zum Vater führt, der die Krankheit zum Ausgleich des Karma schickt. Dazu kann gleich die weitere Aussage Steiners gestellt werden, dass man nie gegen das Karma werde heilen können bzw. dürfen.25

Legen wir diese alles übergreifende Gesetzmäßigkeit im persönlichen Kranksein den weiteren Betrachtungen zugrunde, so finden wir immer erkennbarer eine Systematik und in ihr eine Ordnung der unterschiedlichen Arten der Krankheiten und des Krankseins. Das soll hier nicht ausgearbeitet werden, das habe ich einführend und ausführlich in meinem Buch „Intuitive Medizin“26 dargestellt, und darüber gibt es eine umfassende Literatur in Vorträgen Rudolf Steiners, seinem Buch mit der Ärztin Ita Wegman und vielen anderen Autoren der Anthroposophischen Medizin. Doch einige Hinweise möchte ich hier noch anfügen.

Die Hauptforderungen des persönlichen Krankseins und dazu gehörender Krankheiten zeigen, wie sie sich als Gegenkräfte gegen die Widersacher einsetzen lassen. Es gibt solche, die mehr der Überwindung der Vererdung, der Verfestigung, dem Verfallen in den Materialismus dienen, wozu alle Sklerose- und Geschwulstkrankheiten (wobei nicht die Krebsgeschwulst gemeint ist, sondern gutartige Geschwülste), aber auch Hypochondrie und Depression, Neurasthenie und andere Verhärtungskrankheiten im Leiblich-Lebendigen zählen. Und es gibt die mehr auflösenden, erdflüchtigen Krankheiten wie Entzündungs- und Allergiekrankheiten, Hysterie und Wahnkrankheiten, die sich mit dem Illusionären, der Wunschnatur im Menschen verbinden.

Eine dritte Art des Bösen oder Widerstands ist erst später in der Entwicklung aufgetaucht und tritt in unserer Zeit mehr und mehr auf. Ihr Einwirken ist nicht Versuchung oder Verführung des Menschen, sondern Zerstörung, und zwar unseres Kerns, unseres Ichs. Ich habe es deshalb auch das absolut Böse genannt, weil in seinen Angriffen kein Anteil mehr von Förderung liegt, sondern Vernichtung das einzige Ziel ist. Politisch wurde das deutlich im Nationalsozialismus, Bolschewismus und Maoismus, heute auch im religiösen Fundamentalismus. Gesellschaftlich zeigt es sich mehr und mehr im Krieg Jeder gegen Jeden, in zerstörerischer Egozentrik. Und in der Krankheit zeigt es sich in den Besonderheiten von Krebs, AIDS und auch z.B. der Hepatitis C. Auch hier haben ich oder andere an anderer Stelle Darstellungen verfasst, die diese Aussagen verständlicher machen.

Doch möchte ich eine kurze Einfügung folgen lassen, um die angesprochene Dreiheit des Bösen soweit zu charakterisieren, dass der Leser versteht, warum ich immer wieder auf sie hinweise. Ohne ihr Verständnis ist eine spirituelle Medizin nicht denkbar. Sie haben eine evolutionäre Funktion, die sich auch durch Krankheiten Ausdruck verschaffen kann. Ich möchte etwas von der hinter ihnen liegenden Ordnung zeigen, ihrer Sinnhaftigkeit auf dem Weg zum freien Menschsein, ihrer Möglichkeit, dass durch sie Karma wirksam wird. Denn es wird auch bei der Kürze der Darstellung ablesbar, dass es falsch, ja für den Erkrankten eine Art Diebstahl sein kann, ihm die Krankheiten einfach nur wegzunehmen. Er selber soll sie überwinden lernen, er sollte den Gewinn neuer Kräfte und Fähigkeiten durch seine Auseinandersetzung mit ihnen haben. Und deshalb ist es unsere Aufgabe, Krankheiten zu heilen, was wieder zurückführt zu der Frage, was Heilen ist, wodurch es sich unterscheidet von Gesundmachen. „Die Krankheit bekommt erst ihren Sinn, wenn sie geheilt wird“27, wieder so eine tief wirkende Aussage Steiners, die ein Leitgedanke einer ethisch-christlichen Medizin werden könnte.

Die Realität des Bösen

Das Böse und dessen Wirken tritt an wirklichen Schlüsselstellen der christlichen Religion auf. Im Paradies als der Versucher in Gestalt einer Schlange, in den Evangelien immer wieder als Satan, schon in Christi Versuchung am Ende seiner Fastenzeit nach der Menschwerdung durch die Jordantaufe, auch mit Blick auf Judas Ischariot oder sogar Petrus. Und in dem Zentralgebet aller Christen, dem Vaterunser, heißen die beiden letzten Bitten: „Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen“.

Schon vorchristlich finden wir eine Dualität des Bösen, die sich Gott entgegenstellt, Luzifer, der gestürzte Engel, und aus der persischen Kultur Ahriman, der Herr der Finsternis als Gegenspieler des Lichtes, Ahura Mazdao. Beide Gegenkräfte fokussieren sich auf die Menschen, wollen sie in ihre Macht bekommen, von dem Weg der göttlichen Evolution oder Vorsehung ablenken. Sie sind auch untereinander Gegner, denn der eine strebt mit allem Wesen weg von der Erde, will auch keinen Fortschritt; der andere wirkt aus den Erdtiefen durch die Materie und will die Evolution so beschleunigen, dass sich alle Entwicklung vorzeitig und die göttliche Ordnung verwirrend vollzieht. Wunschdenken, Täuschung, Illusion und die Lüge sind gewichtige Werkzeuge dieser Kräfte. Und obwohl sie völlig Entgegengesetztes anstreben, haben sie sich verbündet, um zusammen stärker zu wirken. Sowohl Luther als auch Goethe haben deshalb diese Zweiheit als Einheit benannt, obwohl in der Bibel mit Diabolos und Satanas zwei unterschiedliche Namen existieren. Mephistopheles im „Faust“ ist beides, schwerpunktmäßig allerdings mit ahrimanischen Zügen. Dabei müssen wir beachten, dass die beiden eine Polarität schaffen, deren Mitte „das Gute“, das Ausgleichende bildet. Das ist die Aufgabe Christi seit dem Mysterium von Golgatha. Das wird als künstlerische Imagination in der Holzplastik von Rudolf Steiner und Edith Maryon deutlich, die im Goetheanum in Dornach/Schweiz aufgestellt ist und „Der Menschheitsrepräsentant“ genannt wird. Oder auch in Dürers berühmtem Kupferstich „Ritter zwischen Tod und Teufel“, wo mehr der Mensch als ritterliches Wesen die Mitte bildet. Und so müssen wir es auch verstehen: Jeder von uns ist mit seinem Ich in diese polaren Kräfte gestellt, seit der Mensch vom Baum der Erkenntnis gegessen hat und das Gute vom Bösen unterscheiden kann oder könnte. Steiner hat vielfach aufgezeigt, wie verbunden der Mensch sowohl in seinem Leib als auch in seiner Seele mit Ahriman und Luzifer ist, wie er auch von ihnen begabt wird. Sie sind ja Teil von einer Kraft, die stets das Böse will und doch das Gute schafft (Faust!). Sie sind Widersacher, die uns ins Böse, das heißt in ihre Welten bannen, wenn wir ihrer nicht achten. Wir überwinden sie, indem wir sie erkennen! Ein Bild dafür sehe ich immer in Saint Exupérys kleinem Prinzen, wenn der Fuchs den Prinzen bittet, ihn zu zähmen. Und weil der kleine Prinz nicht weiß, was zähmen ist, fragt er nach. Und der Fuchs antwortet: „Zähmen heißt sich vertraut zu machen“. Nichts hilft Ahriman und Luzifer so sehr, als wenn wir ihre Existenz ignorieren und sie unentdeckt bleiben, wir sie in die Welt der Mystifizierung, des Aberglaubens aussondern.

Nun ist die Frage nach dem Bösen jedoch vielschichtiger geworden. Denn es tritt ein drittes Element des Bösen auf, das zweihörnige Tier, das aus den Tiefen der Erde aufsteigt (Apokalypse des Johannes, Kap. 12 und 13), und das dort mit der Zahl 666 benannt wird, die auch die Zahl des Menschen sei. Traditionell wird diese Kraft des Bösen der Antichrist genannt.28 Steiner charakterisiert diesen als Sonnendämon und nennt als seinen Namen Sorat.29 In der nordisch-germanischen Mythologie der Edda finden wir diese Dreiheit wieder: die Mitgardschlange, der Fenriswolf und der aus der Erde im Feuer aufsteigende Surtur. Thor, Odin und Freyr werden ihre Opfer und die Götterdämmerung tritt ein.

Ich denke, dass aus der eigentlichen Polarität des Bösen durch das Christusgeschehen eine Dreiheit wurde, die Steiner „das Mysterium von Golgatha“ nennt, das jedoch mit der Menschwerdung Christi, der Jordantaufe, ihren Anfang nimmt. Die Versuchung Christi ist bereits eine dreifache, und es ist für mich aufschlussreich, wenn Steiner sagt, dass die dritte Versuchung („Steine zu Brot“) von Christus nicht vollständig zurückgewiesen wurde, sodass eine Kraft des Bösen blieb, die erst mit Golgatha überwunden wurde, nach ihrem letzten Angriff auf Gethsemane.30 Sorats Angriff zielt auf das Ich, den eigentlichen Menschen. Diesem Ich hat Christus jedoch sein Ich-Bin eingepflanzt, in ihm finden wir die Urgesundheit und auch die Auferstehungskräfte. Und mit jedem Angriff auf ein Menschen-Ich greift der Antichrist Christus an. Er ist der größte Gegner des Christus, sagt Steiner. Er bezeichnete Christus auch als höchsten Sonnengeist, der sich nun aber mit der Erde verbunden hat. – In Sorat sehe ich kein förderndes Prinzip wie bei Luzifer und Ahriman, er ist nicht Widerstand, er ist Zerstörer. Deshalb nenne ich ihn den Vertreter des absolut Bösen.

 

Vielleicht darf ich ein Beispiel aus der Medizin schildern, um anschaulicher zu machen, wie Sorats Kräfte nur auf Zerstörung gerichtet sind. Die Krebskrankheit habe ich schon eine Krankheit in der Auseinandersetzung mit Sorat genannt. Sie ist Ausdruck des faustischen Ringens des Menschen der Neuzeit um seine Identität. Sie macht ihm die Frage bewusst: „Wer bist du?“ oder „Wer willst du werden?“. Und das sind Fragen unseres Ichs, die es sich nur selbst beantworten kann. Doch diese Entdeckung des Selbst will Sorat verhindern. Krebs ist nicht zufällig eine der häufigsten Krankheiten unserer Zeit, denn das 20. Jahrhundert zeigte in den menschenverachtenden Diktaturen des Nationalsozialismus, Bolschewismus und Maoismus die extreme Intensivierung des zerstörerischen Impulses Sorats.

Schon im 1.Weltkrieg trat etwas auf, was seine Handschrift trug: Giftgas (Stickstoff-LOST) als Vernichtungswaffe. Im 2.Weltkrieg haben die USA die Forschung solcher Giftstoffe als Waffen mit ungeheurer Zerstörungskraft vorangetrieben, neben der Entwicklung der Atomwaffen. Und als ein unmittelbarer Ableger dieser Kampfstoffe entstanden die ersten Zytostatika, schwere Zellgifte, mit denen die Krebsgeschwülste und ihre Zellen vernichtet werden sollten. Die Sprache der Krebsforschung und Krebstherapie wurde eine ganz militärische, man entwickelte Strategien, formulierte „je aggressiver der Tumor, umso aggressiver die Therapie“, und immer wieder die Vernichtung der Krebszellen, „koste es, was es wolle“!

Beeindruckend, dass der große Krebsforscher und Nobelpreisträger Prof. Dr. Günter Blobel in einem Interview sagte: „Wenn wir wüssten, was die wirkliche Ursache der Krebskrankheit ist, bräuchten wir nicht Atombomben auf Krebszellen zu werfen, wie wir es heute tun: wir bombardieren die kranken Zellen, töten dabei aber auch unendlich viele gesunde Zellen und rufen damit schwere Nebenwirkungen hervor, die den Patienten stark belasten“.31 Krebs ist eine menschheitsbezogene Krankheit, ein Zeitenschicksal, dem jeder Mensch ausgesetzt ist, wie ja auch die genetische Forschung zeigt. Deshalb ist der an Krebs Erkrankte immer neben der persönlichen Auseinandersetzung mit dieser Krankheit auch ein Kämpfer für den Menschheitsfortschritt, sein Leiden eines für uns alle.

Die Krebskrankheit als Auseinandersetzung mit einer Kraft, die keine Ich-Entwicklung zulassen will, die den freien Menschen verhindern will, wird beantwortet mit einer der zerstörerischsten Therapien, die es heute in der Medizin gibt. Ist das wirklich eine Lösung?

Ich möchte hier einhalten, weil ich ja nur andeutungsweise darauf aufmerksam machen möchte, dass eine Medizin, die das Geistige wieder zu einem Teil ihrer Wissenschaft machen möchte, sich auch mit der Frage des real wirkenden Bösen befassen muss, ob mit Blick auf die Krankheiten oder moderner Therapien. Eine gute Zusammenstellung vieler Aussagen Steiners zu diesem Thema findet sich bei Erhard Fucke32, meine Anschauung der Krebskrankheit habe ich auch ausführlich dargestellt.33,34 Das Wirken des Bösen ist für mich ein unvermeidbares Thema einer christlichen Medizin, denn die Medizin ist ein wichtiger Schauplatz damit verbundener Kämpfe, und jeder in ihr zum Heil des Menschen Tätige muss sich entscheiden, auf welcher Seite er steht und in wessen Dienst er sich stellt.

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