Buch lesen: «Hitler 1 und Hitler 2. Das sexuelle Niemandsland»

Schriftart:

Volker Elis Pilgrim

Hitler 1 und Hitler 2

Erstes Buch

Das sexuelle Niemandsland


Erste Auflage 2017

© Osburg Verlag Hamburg August 2017

www.osburgverlag.de

Alle Rechte vorbehalten,

insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags

sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen,

auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systeme

verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Lektorat: Ulrich Steinmetzger, Halle (Saale)

Umschlaggestaltung: Judith Hilgenstöhler, Hamburg

Satz, Layout: Hans-Jürgen Paasch, Oeste

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-95510-140-4

eISBN 978-3-95510-147-3

Inhalt

Zwischen Autobiografie und Hitler-Biografie

Auftakt

Introduktion – »Induziertes Irresein«

ONANO

HETERO

ORALO

NEUTRO

AMORO

ANALO

PERVERSO

Schlussnote

Werke und Zeugnisse

Bildnachweis

Personenverzeichnis

Für Aotearoa, ohne deren unerschöpfliche

Spiritualität ich die Entdeckung »Hitler war ein

Serienkiller« nicht hätte machen und den »Ring«

darüber nicht vollenden können.

Zwischen Autobiografie und Hitler-Biografie

Hitler 1 und Hitler 2 ist das Ergebnis einer Jahrzehnte-lang unternommenen Biografiearbeit. Am 12. April 2017 las ich den Begriff »Biografiearbeit« im Tagesspiegel und freute mich, dass er Allgemeingut geworden ist. (Sergon) Ich benutze ihn manchmal sogar in der Kombination mit Bio(grafie)analyse, um den antiquierten und aus manchen Perspektiven sogar zweifelhaft gewordenen Begriff Psychoanalyse zu verdeutlichen. Bei der Biografiearbeit, ja der Bioanalyse handelt es sich um die Arbeit mit der eigenen Lebensgeschichte oder mit der Geschichte anderer Personen.

Als ich im Herbst 1994 die Szene des Büchermachens verließ, geschah das um ausschließlich (Auto)Biografiearbeit zu unternehmen, was für eine öffentliche Person nicht möglich ist. Ich musste für eine Weile unöffentlich werden. Dass diese Phase meines Lebens ein Vierteljahrhundert dauern würde, konnte ich mir nicht vorstellen.

Ich hatte zwischen 1971 und 1994 fast 25 Jahre lang nonstop Bücher, Aufsätze und Artikel veröffentlicht. Zugleich war ich permanent auf Publikums-Veranstaltungen und in TV-Programmen präsent. Beide vermuteten Gründe für mein plötzliches Verschwinden – Erfolglosigkeit und Schreibunfähigkeit – trafen nicht zu. Mein 15. Buch »Du kannst mich ruhig ›Frau Hitler‹ nennen« startete kurz nach seinem Erscheinen im Oktober 1994, zum Bestseller zu werden, den ich mit meinem Ausstieg abwürgte. Mir war zum zweiten Mal geglückt, eine Welle in Bewegung zu setzen – nach dem »neuen Mann« und der Männerbewegung 1971/73 diesmal die Nazifrauen-Buch-Bewegung, ein Thema, das mindestens ein Jahrzehnt lang boomte. (Zur Nieden 01) Ich überließ Kolleginnen und Kollegen den Erfolg mit ihm und stieg in die tiefsten Gründe eines Nazisohnes ein. Als solchen hatte mich ein mir persönlich unbekannter Nachbar in meinem Kindheitsdorf tituliert und damit zugleich begründet, warum er mich nicht kennenlernen wollte. Er hatte gute Gründe dafür, war er doch vor Jahrzehnten das bei Freunden versteckt überlebende Baby seiner deportierten und ermordeten jüdischen Eltern gewesen.

Tatsächlich war meine Bio-Sozio-Psycho-Basis eine Nazifamilie »mit langem Arm nach oben«, wie andere Nachbarn mein aristokratisches Herkunfts-Milieu noch in den 1970ern kennzeichneten. Geboren 1942 hatte dieses Milieu auf mich bis zu meiner Trennung von ihm 1978 eine prioritäre Wirkung. Doch auf diese »U-Ebene« setzte sich die Gemeinschaftlichkeits-Gesinnung des DDR-versuchten Sozialismus, dazu die geistige Schulung in Marxismus. 1960 kam es wider meinen Willen zur Flucht der Familie in die BRD. Dort wurde ich ab 1963 Kind der Frankfurter Schule und trieb es bis zum »Äußersten« der Duz-Freundschaft mit Adorno, dessen Geliebte Eva ich 1969 heiratete – ja, genau die geheimnisvolle Artisten-in-der-Zirkuskuppel-ratlos-Verlobte Alexander Kluges.

Dieser Sud bis Sumpf von Widersprüchen in meiner Jugend machte es mir möglich, Anfang der 1970er Jahre zu einer Nach-68er Kultfigur zu erblühen. Das gelang mir deswegen, weil ich neben der Befreiung des Mannes aus seinen Verstrickungen ins »Patriarchat« auch um die Befreiung des Kindes und des »Tieres« aus den unsäglichen Umgangsweisen der Menschen mit den Schutzlosen kämpfte. Im Zuge der Verfechtung einer neuen Kind-Eltern-Beziehung trennte ich mich von meinem gesamten Ursprung bis zum kompletten Erbverzicht und der Aufgabe meines bürgerlichen Namens. Denn Befreiung geschieht nicht, wenn sie nur gedacht und nicht auch mit der eigenen Biografie gelebt wird – die entscheidenden Gründe dafür, warum die Erneuerer vom Großkaliber eines Marx und eines Freud notorisch erfolglos blieben. Sie verbreiteten ihr falsches Credo: Befreiung müsse nur bei anderen geschehen, nicht bei sich selbst. Wegen dieser anti-autobiografischen Attacke geschieht Befreiung dann bei anderen ebenfalls nicht.

Mit der Beibehaltung meines hebro-germanischen Künstlernamens falle ich nicht etwa in alte Stadien zurück. Sie geschieht wegen des dreißig Jahre lang gestanzten Markenzeichens, das in unzählbaren Artikeln über mich bis zu Time Magazine in Rotation gegangen ist. Unter meinem neuen Namen auf die Dauer publizistisch zu firmieren, wie ich es 2009 versuchte, hätte wegen des digitalen Zeitalters eine schwächende Zweinamens-Spaltung der Person bedeutet.

Zehn Jahre nach meinem Abschied vom privaten Ursprung wurde ich von deutsch-österreichisch-polnisch-jüdischen Emigranten in Melbourne adoptiert, aus denen ich mir eine Zweit-Familie schuf. 1988 war ich als permanent resident dorthin gezogen und hatte 1989 die australische Staatsbürgerschaft erworben. Die neun Melbourner jüdischen Wahlverwandten ersetzten mir meine neun Primärpersonen, in deren Großfamilie ich aufgewachsen war.

Mit der historischen und geografischen Weitenschau auf alles Deutsche – nicht nur auf mich selbst – konnte ich ungewöhnliche Perspektiven einnehmen, die mir wissenschaftliche Entdeckungen und die Bearbeitung neuer Themen ermöglichte. Vier Beispiele:

1. Ein Buch-Zyklus über Kleists Leben und Werk,

2. Missbrauch und Botschaft in der Eltern-Kind-Beziehung,

3. die genetischen Ursachen des Tätertyps Serienkiller,

4. die psychischen Konditionen des Täterinnentyps Gattenmörderin.

Bei jedem Thema konnte ich auf frühe Erfahrungen aufbauen:

1. Zwei Jahrzehnte Theaterspielen,

2. meine achtjährige Psychoanalyse,

3. mein Jura-Studium – Schwerpunkt Kriminologie,

4. meine Bekanntschaft mit der Pionierin im Frauen-Strafvollzug, Helga Einsele.

Für jedes Thema entstanden mehrere Manuskripte – das folgenreichste Hitler 1 und Hitler 2, eine psychoanalytische, sexualwissenschaftliche, sozio- und kriminologische Auseinandersetzung mit dem deutsch-österreichischen Täter des (20.) Jahrhunderts.

Hitler 1 und Hitler 2 ist eine Studie – verfasst worden im Stil eines Matches mit der Hitler-Biografik. Neben Hitler sind mehr als zwanzig Autorinnen und Autoren in der Hitler-Forschung die Protagonisten, mit denen es zum Teil hoch hergeht, weil sie sich Angriffen ausgesetzt sehen werden, die noch nie gegen sie geritten wurden.

Ich habe mein historisches Handwerk auf dem Schoß meines mütterlichen Großvaters erworben – des Mittelalter-Spezialisten Dr. Wilhelm Smidt. Hinzu kommt meine Ausbildung in Aristokratologie – ermöglicht durch die mit dem Ur-Adel verzweigte väterliche Familie, ein Rüstzeug, dass bei der Beschäftigung mit Hitler nicht zu unterschätzen ist. Denn gewöhnlich hat die bürgerliche Geschichtsschreibung keine Kenntnisse von der feudalistischen Gesellschaft mehr erworben, der Vorform der kapitalistischen, in der wir heute leben. Hitler entstammte feudal-bäuerlichen Vorfahren im österreichischen Waldviertel, in dem seine miteinander verwandten Eltern aufgewachsen waren.

Der Kampf mit der Hitler-Biografik ging um etwas Dramatisches, das ich vor meiner siebenjährigen Hitler-Forschung nicht für möglich gehalten hätte. Meine Existenz spannte sich zwischen dem Mich-Vertiefen in zehn deutsche Spezial-Archive und dem Verarbeiten des Quellenmaterials, meinen Niederschriften in Neuseeland, wo ich seit 1999 lebe – mit Ausnahme eines Bonner Intervalls von 2009 bis 2012, währenddessen ich 2010 meine Hitler-Forschung begann.

Die Drei-Länder-Wirkung auf mich erbrachte nicht nur unentwegt Neues über Hitler, sondern auch das Gewahrwerden: »Etwas ist faul im Staate Dänemark!« (Hamlet) Etwas stimmt nicht mit der Hitler-Rezeption, wie sie hauptsächlich in Deutschland betrieben wird. Ich war schockiert von der Herausgabe des Hitler-Buchs Mein Kampf durch das Münchener Institut für Zeitgeschichte. Das IfZM ist eines meiner geachtetsten Archive, in dem ich viele Stunden für meine Hitler-Forschung zubrachte. Wie konnte es dieser Institution, deren Ethos die Bewältigung der Nazizeit ist, passieren, »dass sich antisemitische Perspektiven in den Kommentar [von Mein Kampf] einschleichen«? So formulierte es der Londoner Professor Jeremy Adler am 5./6. Januar 2017 in der Süddeutschen Zeitung.

Auch machte mich stutzig, wie in Deutschland mit dem Neonazitum umgegangen wird: Lässigkeit gegenüber dem politischen Agieren der extremen Rechten, aber höchste Rechtsschutz-Achtsamkeit, falls jemand als »Neonazi« geziehen wird, was sich als eine Art Holocaust-Leugnung mit umgekehrten Vorzeichen ausnimmt. Sowie gegen jemanden die Vokabel »Neonazi« fällt, hat der Plakateur den Staatsanwalt im Haus. Unter solchen Adenauerzeit-»restaurativen« Gegenwärtigkeiten war es für mich definitorisch kompliziert, die momentane Hitler-Rezeption zu attackieren, was sein muss, sobald sie in braune Abwässer schliddert. Wenn schon der Gral der Dritte-Reichs-Forschung vor diesem Ertrinken nicht gefeit ist, was soll man dann gegen schlichtere Abwracker sagen?!

Ich kann nur sagen: Mir haben drei Länder geholfen, meinen Nazi-Ausgangspunkt Rückstands-los zu bewältigen: die DDR, Australien und Neuseeland. In Neuseeland gibt es das Pflicht-Schulfach »Nazi-Diktatur«, das Deutschland dringend bräuchte. Was Peter Longerich, der aktuellste Hitler-Biograf, 2015 forderte: »Wir dürfen nicht die letzten Opfer der Nazipropaganda werden!«, ist bei dem Schlamassel der Mein Kampf-Herausgabe des Münchener Instituts für Zeitgeschichte längst geschehen, den Jeremy Adler mit den Worten geißelte: »Man sollte wohl in einem Rechtsstaat, da die Volksverhetzung strafbar ist, diese Ausgabe [von Hitlers Mein Kampf] zurückziehen.« Ein schlimmeres Verdikt gegen ein wissenschaftliches Werk ist nicht denkbar. In Bezug auf Adlers vorletzten Satz seines Essays in der SZ: »Das absolut Böse lässt sich nicht edieren!«, muss hinzugefügt werden: »aber erforschen«. Und dabei haben mir die von Nazis am weitesten entfernten Demokratien Australiens und Neuseelands unschätzbar geholfen.

Ehe es losgeht mit dem ersten Buch von Hitler 1 und Hitler 2 soll in einem Prolog das Unterfangen vorgestellt und das geistig-politische Bezugsnetz angesprochen werden, in dem sich das Thema Hitler heute befindet:

Der Spiegel schrieb am 14. Januar 2008 aus Anlass des 75. Jahrestages von Hitlers Machterlangung: »Wäre Hitler am 30. Januar 1933 nicht Reichskanzler geworden, das ist gewiss, sähe unsere Welt anders aus. Und so lautet heute und wohl die nächsten Jahrzehnte, wenn nicht gar Jahrhunderte, die Königsfrage der deutschen Geschichte: Wie konnte es dazu kommen? … Eine letzte Antwort, eine Formel, die alles erklären könnte, steht bis heute aus.« (3/08)

Die Zeit leitete am 24. Dezember 2015 ihre Kritik der neuesten Hitler-Biografie des deutsch-englischen Geschichtsprofessors Peter Longerich mit den Worten ein: »Hitler sells. Dass der ›Führer‹ auf dem Umschlag zu höheren Auflagen verhilft, zeigt nicht nur ein Blick auf die Spiegel-Titel der letzten Jahrzehnte. Der Markt wird geradezu überschwemmt von Büchern und Filmen zu Hitler, von allem Möglichen, wenn es sich nur irgendwie mit Hitler in Verbindung bringen lässt.«

Die Welt vom 30. Dezember 2016 übertrumpfte diese Feststellung mit der Nachricht: »2016 war das beste Hitler-Jahr«. Das Blatt stellte sechs neue deutsche Publikationen zum Thema »Hitler« vor und war bester Hoffnung: »Man darf gespannt sein, ob es auch künftig noch überraschende Ideen [zu Hitler] gibt.«

Die FAZ hatte schon am 22. Juni 2004 nach dem Hitler-Bunker-Film Der Untergang die Hitler-Rezeption in »eine neue Phase« eintreten sehen. Die Ausstellung Hitler und die Deutschen 2010 im Berliner Deutschen Historischen Museum war von Gästen aus aller Welt regelmäßig überfüllt. Das Nachtstudio des ZDF brachte dazu am 1. Februar 2011 seine Sendung Zeitgenosse Hitler. Die 2012 erschienene Satire Er ist wieder da von Timur Vermes katapultierte sich zu einem Weltbestseller – Thema: Adolf Hitler aufersteht im Berlin von 2011.

Der englische Geschichts-Professor Ian Kershaw – die Nummer eins in der Zunft der Hitler-Biografen – publizierte aus Anlass von Hitlers 125. Geburtstag am 20. April 2014 im History Magazine den Aufsatz The Long Shadow of Adolf Hitler. Geradezu verrückt sind die Anglos nach Hitler. In Erinnerung ist, dass Hitler auf dem Sergeant Pepper-Cover der Beatles von 1967 ursprünglich unter den Gästen sein sollte, dann aber mit Jesus und Gandhi herauszensiert wurde. Das hat sich auch bei der Jubiläumsausgabe von 2017 nicht geändert.

Der brasilianische Journalist Carlos Haag schreibt in seinem Blog The Day on which Hitler cried: Die Faszination der 20.-Jahrhundert-Diktatoren wie Franco, Mao, Mussolini, Pol Pot und Stalin verblasse, die publizistische Wirkung von Hitler jedoch steige.

Die deutsche und englischsprachige Wissenschafts-Literatur um die Jahrtausendwende beschleunigt sich: Alle paar Jahre neue Bücher über Hitler! Die Franzosen bemühen sich jedes Jahrzehnt um neue Perspektiven auf Nachbars blutrünstigen Public-Tycoon. Vier Autoren aus diesen drei Kulturen, die sich im Prinzip die Hitler-Biografik teilen, versuchen noch einmal mit der Größt-Anstrengung einer 1000–2000-Seiten-Gesamtschau, dem Sondermann zu Leibe zu rücken: Der Brite Ian Kershaw (1998/2000 und 2008), der Franzose Bernard Plouvier (2007/08), der Deutsche Volker Ullrich (2013, Englisch März 2016) und der transnationalisierte, in London lehrende Peter Longerich (2015).

Anglo- und deutsche TV-Produzenten planen neue Mammut-Serien über Hitler.

Und doch ist noch immer ein Rest des Unerklärlichen an Hitler hängen geblieben. Der erste Nach-45-Hitler-Biograf von Weltrang, Alan Bullock, sagte gegen Ende seines Lebens zu seinem amerikanischen Kollegen Ron Rosenbaum, je mehr er sich mit Hitler beschäftigt habe, umso unverständlicher sei ihm der Diktator geworden. »Da bleibt«, so auch der britisch-australische Historiker und Bestsellerautor Christopher Clark resignativ, »etwas Unbegreifliches«.

Die alten Versuche der Annäherung an Hitler mit Hilfe von Kategorien aus Psychiatrie und Psychoanalyse haben Hitler nicht enträtselt. Ian Kershaw summierte zur Jahrtausendwende: »Die Interpretationen von Adolf Hitlers Verhalten aus Ursachen frühkindlicher Störungen sind gescheitert.«

Zwei Besonderheiten in Hitlers Wirken und Persönlichkeit überragen alle anderen seiner Abnormitäten:

Erstens. Hitler war ein ungewöhnlicher Serienkiller.

Obwohl Massenmörder und Terroristen ebenfalls wiederholte Tötungen begehen, sind Serienkiller kriminologisch etwas phänotypisch anderes als Massenmörder, Terroristen und auch Amokläufer. Serienkiller leiden unter einer sexuellen Anomalie. Sie haben einen Drang zu morden, um sexuelle Befriedigung zu erlangen. Sie wurden früher »Triebtäter« oder »Lustmörder« genannt – Begriffe, die dieser Eigenart männlichen Mordens sehr nahe kamen und zu Unrecht in der Fach-Terminologie aufgegeben wurden.

Was Serienkiller mit ihren Händen tun, tat Hitler aus seinem Kopf heraus. Er wirkte schon ab 1919 darauf hin, dass Menschen von seinen – um ihn gescharten – Horden gequält und getötet wurden. Er befahl als Staatsführer Quälungen und Ermordungen fließbandhaft sofort von Februar 1933 an und machte damit bis zu seinem Selbstmord im »Führer«-Bunker am 30. April 1945 nicht Schluss. Adolf Hitler als Serienkiller zu definieren heißt deshalb, er tritt diesmal nicht als Psycho path auf – wie jahrzehntelang missverstanden –, sondern als Sexo path.

Es geht in Hitler 1 und Hitler 2 auch immer wieder um »profane« Serienkiller. Ohne ihr Spiegeln des Extrems würde Adolf Hitler nicht klar erkennbar werden. Außerdem sind Serienkiller ebenfalls immer noch eine terra incognita, ein maskulines Rätsel.

Maskuline Rätsel sind seit über vierzig Jahren Gegenstand meiner Untersuchungen. Ich arbeite neben Walter Hollstein, Klaus Theweleit und Wilfried Wieck für die Männerforschung, die universitär nicht etabliert ist. Es gibt an deutschen Universitäten inzwischen rund zweihundert Lehrstühle für Frauenforschung, jedoch keinen einzigen für Männerforschung!

Meine erste Veröffentlichung im Mai 1971 galt Albrecht Dürer, den ich zur Feier seines fünfhundertsten Geburtstags als homosexuell outete – was 2003 vom Nürnberger Dürer-Haus offiziell bestätigt wurde. Meine zweitjüngste Publikation Die Königsfälschung von 2009 behandelt den »Sonnenkönig« Louis XIV: Der Initiator des Absolutismus war kein gebürtiger Bourbone, sondern ein von der römischen Kardinalskorporation dem unfruchtbaren Königspaar untergelegtes süditalienisches Klappenbaby. Schon bei Ludwig 14 gab es eine Wesensveränderung, wenn auch aus ganz anderen Gründen als bei Hitler: Zuerst war Louis XIV ein unauffälliger Landesfürst, der aus den Fugen geriet, nachdem er am Sterbebett seiner Offizialmutter Anne d’Autriche erfahren hatte: Er verdankte seine Position des Königs von Frankreich nicht dem Gottesgnadentum, sondern einem Coup d’État, vollführt von den Kardinälen Richelieu und Mazarin.

Ob über Bismarck, Freud, Goethe, Marx, Mozart, Napoleon, Nietzsche, Luther, Rathenau, Reagan, Stalin und Wagner oder den »Mann auf der Straße«, es handelt sich in den meisten meiner Bücher um ungewohnte Perspektiven auf den Mann und seine männerbündische Gesellschaft. Ich studierte zwischen 1961 und 1968 bis zum Dr. jur. Geschichts- und Rechtswissenschaft, Psychoanalyse und Soziologie an den Universitäten Göttingen und Frankfurt am Main. Acht meiner zwischen 1973 und 2009 publizierten sechzehn Bücher behandeln Themen der Geschichtsschreibung, zwei berühren Hitler (Muttersöhne, 1986, und »Du kannst mich ruhig ›Frau Hitler‹ nennen«, 1994).

Bereits als Student beschäftigte ich mich in den Seminaren von Strafrechtlern, Kriminologen und Soziologen mit Serienkillern. Meine Universitätslehrer auf diesem Gebiet waren Friedrich Geerds, Jürgen Habermas, Klaus Lüderssen, Eberhard Schmidhäuser, Curt und Ilse Staff und die hessische Frauengefängnis-Direktorin Helga Einsele, deren Nachfolgerin Eva von Pilgrim wurde. Während meines Studiums in den 1960ern machte in Nordrhein-Westfalen der jugendliche »Kirmesmörder« Jürgen Bartsch Schlagzeilen und lieferte – gemeinsam mit seinen Vorläufern, dem »Schlächter von Hannover« Fritz Haarmann und dem »Vampir von Düsseldorf« Peter Kürten – erstes Material für eine Definition des befremdlichen Tätertyps »Serienkiller«.

Zweitens. Hitler erscheint biografisch nicht einheitlich.

Es gibt »zwei Hitler, den frühen unauffälligen Hitler 1 – bis 29-jährig – und den historisch wirksamen Hitler 2 in seinem Alter von 30 bis 56.

Ist in der Hitler-Forschung die Auseinandersetzung mit Hitlers Serienkiller-Anlage eine Neuheit, so haben sich schon mehrere Autoren dem Phänomen der »zwei Hitler genähert, u. a. in der zeitlichen Reihenfolge ihrer Publikationen Anton Joachimsthaler mit Korrektur einer Biographie (1989), Brigitte Hamann mit Hitlers Wien (1996), Anna Maria Sigmund mit Diktator, Dämon, Demagoge (2006), Dirk Bavendamm mit Der junge Hitler (2009), Ralf Georg Reuth mit Hitlers Judenhass – den es bei Hitler 1 noch nicht gab – (2009), Thomas Weber mit Hitlers erster Krieg (2010/2012) – behandelnd einen Hitler, der als Soldat des Ersten Weltkriegs seine weltbekannten Negativa noch nicht »draufgehabt« hatte – sowie Henrik Eberle mit Hitlers Weltkriege. Wie der Gefreite zum Feldherrn wurde (2014) – eine Gegenüberstellung der zwei Hitler-»Ausgaben«, wie sie sich im Ersten und im Zweiten Weltkrieg jeweils betätigten.

Hitler 1 war weder politisch begabt noch antisemitisch fanatisiert. Schon Autoren wie Erich Fromm und Joseph Stern haben sich mit einer weiteren Auffälligkeit am frühen Hitler beschäftigt: Hitler 1 war ein willenloser, Publikums-scheuer »Sonderling« (Hitlers eigenes Wort für seine Selbstkennzeichnung als Hitler 1), der vor mehr als fünf Personen nicht reden konnte und nicht wagte, sich auf eine Empfehlung hin bei einem bekannten Wiener Bühnenbildner vorzustellen. Er war ein »Schöngeist«, ein privatisierender, sich in Malerei, Architektur und Musik versuchender Dilettant, jedoch nicht imstande, Prüfungen zu bestehen.

Hitler 1 war praktisch und ideell kein »Gewaltmann«, stattdessen ein körperlich fragiler »Weichling«, der Offiziere nicht mochte, sich vier Jahre lang seiner Stellungspflicht entzog und der bei seiner erzwungenen Musterung für den österreichischen Militärdienst im Februar 1914 als untauglich eingestuft wurde. Über diese Besonderheiten gibt es genügend Zeugnisse aus seiner österreichischen Jugend- und seiner deutschen Soldatenzeit – allen voran August Kubizeks Adolf Hitler. Mein Jugendfreund, Franz Jetzingers Hitlers Jugend. Phantasien, Lügen und die Wahrheit, Bradley f. Smiths Adolf Hitler. His Family, Childhood and Youth und Fritz Wiedemanns Der Mann, der Feldherr werden wollte. Hitlers militärischer Vorgesetzter im Ersten Weltkrieg, sein späterer Adjutant als Bürochef in der Reichskanzlei, Wiedemann, zeigt einen Hitler 1, der nicht führen konnte und nicht vorstehen wollte und deshalb nie zum Offizier befördert wurde.

Aufgrund dieser riesigen Differenzen zwischen den zwei Hitler-»Ausgaben« wurde bisher vergeblich versucht, mit dem erwachsenen Hitler 2 den jugendlichen Hitler 1 zu interpretieren oder Hitler 2 aus Hitler 1 herzuleiten. Alle diesbezüglichen Versuche gingen ins Leere, da Hitler 1 und Hitler 2 voneinander so verschieden waren, als hätte es sich um andere Personen gehandelt.

Wie kam es zu der Wesensveränderung und vor allem wann und wo? Dieser Vorgang ist das Hauptthema des Zyklus, das alle Bände durchzieht. Die Nahtstelle zwischen Hitler 1 und Hitler 2 war seine Zeit vom 21. Oktober bis zum 19. November 1918 als damals »hysterisch« diagnostizierter »gasvergifteter« Soldat in einer sanitären Spezial-Station für »Kriegsneurotiker«, ab 1916 eingerichtet im ganzen Lande – so auch im Reserve-Lazarett zu Pasewalk. In einer solchen Station wurden Blinde, Taube, Stumme, Zitterer, Stotterer und andere Nerven-geschädigte Leicht-Verwundete oder Somatisierende hospitalisiert. Hitler 1 war nach seiner Giftgas-Verwundung Mitte Oktober 1918 medizinisch als »Funktioneller« – was damals hieß, nicht organisch Verwundeter, sondern psychosomatisch Reagierender – eingestuft und in einem Invaliden-Transportzug von der Westfront nach Pasewalk verbracht worden. Auf seinen beiden erhalten gebliebenen Zählkarten – den Miniaturausgaben von Daten aus der Krankenakte zu seiner zweiten Kriegsverletzung im Herbst 1918 – wurde die Art von Hitlers Krankheit nur mit »Gasvergiftung« umschrieben.

Deshalb besteht in der Hitler-Forschung völlige Unklarheit über die genauere Art von Hitlers Leiden nach einem Gasgranaten-Angriff der Briten am 15. Oktober 1918. Seine Pasewalker Krankenakte ist von den Nazis vernichtet worden. Und allgemeine Unterlagen über das Reserve-Lazarett zu Pasewalk im dortigen Garnisonskomplex sind im Zweiten Weltkrieg verbrannt. Einzelheiten zu Hitlers Pasewalk mussten daher für Hitler 1 und Hitler 2 über andere Quellen rekonstruiert werden.

Hitler 2 mystifiziert seine Pasewalker Lazarett-Zeit Oktober/November 1918 in seiner Teil-Autobiografie Mein Kampf. Er deutet darin an, es sei in Pasewalk etwas Eigentümliches mit ihm geschehen, das ihn zum Politiker »gemacht« habe: »Ich aber beschloss, Politiker zu werden!« Dieser Satz, 1925 rückdatiert auf die Herbst-1918-Geschehnisse, markiert die Grenzüberschreitung von Hitler 1 zu Hitler 2. Denn Hitler 1 hatte überhaupt keine Voraussetzungen für eine erfolgreiche Politikerlaufbahn.

Obwohl es schon zwei Bücher über Hitlers Phase in Pasewalk gibt – David Lewis’ The Man Who Invented Hitler (2003) und Bernhard Horstmanns Hitler in Pasewalk (2004) –, und außerdem Autoren wie Rudolph Binion und David Post zwischen 1976 und 1998 dem Problem Abschnitte in ihren Büchern oder Fachzeitschriften-Aufsätze gewidmet haben, liegt immer noch ein Dunkel über Pasewalk. Was geschah dort?

Hitler 1 wurde während seines Aufenthaltes im Reserve-Lazarett zu Pasewalk ein Opfer der »Maschinengewehre hinter der Front«. So nannte Sigmund Freud die Militärpsychiater, die die psychosomatisch oder mikroorganisch/molekularbiologisch erkrankten – damals genannt »kriegsneurotischen« – Soldaten im Eilmarsch mit dubiosen Verfahren traktierten, um die jungen Männer so schnell wie möglich an die Front zurückschicken zu können. Der angeblich »funktionell« erkrankte Hitler 1 war in Pasewalk von einem neuropsychiatrischen Offizier mit unlauteren psycho-invasiven Methoden symptomlos gemacht worden.

Dabei geschah ein medizinischer Supergau: Durch einen ärztlichen Kunstfehler während der tiefenpsychischen Behandlung war Hitlers bisher verdrängtes Serienkiller-Potential aus Versehen »entdrängt«, d. h. gezündet worden und Verhaltens-steuernd in Hitlers Ich-Struktur eingedrungen. Fortan fuhr Hitler 2 als polit-hypnotischer massensuggestiver »Frankenstein« in Deutschland und Europa hinein, bis über fünfzig Millionen Menschen tot waren und er am 30. April 1945 von der ganzen Welt zum Aufgeben gezwungen werden musste.

Adolf Hitler war in zweierlei Weise selbst ein Opfer, ehe er sich als »Täter des Jahrhunderts« äußerte: Erstens genetisch als Serienkiller, verursacht durch die Inzuchts-Ehe seiner Eltern, zweitens medizinisch, indem ihm mit einer »gehirnwaschenden« Ich-überrumpelnden Brachial-Kur ein neues Verhalten konditioniert wurde – nämlich dasjenige eines Landes-, später eines Staats-terroristischen Massenmörders und schließlich eines versuchten Völkervernichters.

Nach der etwa zehnjährigen konzentrierten Beschäftigung mit dem Thema »Serienkiller« und dem Abschluss eines Manuskripts Ende 2010 reifte der Entschluss, zu dem besonderen Serienkiller Adolf Hitler ein eigenes Buch zu schreiben, der schon im Text über die gewöhnlichen Serienkiller immer wieder Gastauftritte absolviert. Es sollte eine kurze Studie werden, weil Hitler ja bekannt ist, deshalb sollte das Thema nur Hitlers Wesensveränderung betreffen. Wie geschah sie? Was für eine psychodynamische Transformation ereignete sich zwischen dem Militärpsychiater in Pasewalk und dem Weltkrieg-I-verwundeten Gefreiten und Meldegänger?

Kaum war das Forschungsfeld betreten, stellte sich heraus, Hitlers Pasewalk ist das verwuchertste Dickicht von Unbewältigtheiten in der Hitler-Biografik. Kein exaktes Wissen vorhanden – weder darüber, wer der behandelnde Arzt gewesen ist, noch ob es in Pasewalk überhaupt eine »Kriegsneurotiker«-Station gegeben hat, wogegen 2014 Henrik Eberle polemisierte. Er sah Hitler nur mit »Augenbrennen« in einem Pasewalker »Genesungsheim« untergebracht und wollte die Problematik der Hitler’schen Wesensveränderung vom Tisch fegen. Der Existenz einer Nerven-Abteilung im Pasewalker Lazarett gelten mehrere Beweisführungen, ehe sie belegt werden kann. (drittes Buch)

Wegen der schwärzesten Nacht von Unkenntnis über Hitlers fünf Wochen zwischen seiner Verwundung Mitte Oktober 1918 an der Westfront und seiner dokumentierten Entlassung aus dem Pasewalker Lazarett am 19. November 1918 kann sich jeder Hitler-Forscher einbilden, was er will. Wer nicht glaubt, wie es hinsichtlich Hitlers mysteriösen fünf Wochen in der offiziellen Hitler-Forschung zugeht, möge sich die Pasewalk-Erzählungen der Hitler-Biografen zu Gemüte ziehen: Nach Olden (35) und Heiden (36/37), die noch wenig haben wissen können, folgten nur »Blind«-Stellen – so bei Görlitz/Quint (52), Bullock (52/53), Orr (52), Heiber (60), P. u. R. Gosset (61–63), Maser (65/71), Snyder (67), Deuerlein (69), Fest (73), Toland (76), Payne (77), Zitelmann (89), Steinert (91/94), Pätzold/Weißbecker (95), Kershaw (98/2000 und 2008), Reuth (2003), Ullrich (2013/2016), Sandkühler (2015), Longerich (2015).

Geradezu eine Verdunklungs-Schuld trifft Hitlers medizinische Spezial-Biografen: Recktenwald (63), Röhrs (65/66), Schenck (89), Redlich (98/2002), Neumayr (2001) und Eberle/Neumann (2009/2013), denen allen noch Plouvier hinzugerechnet werden muss, da er mit seinen aufwendigen vier/sechs Bänden eine biographie médicale et politique vorgelegt hat (2007/2008). Es wäre die Pflicht dieser Autoren gewesen, konzentrierte Untersuchungen über Hitlers Lazarett-Zeit in Pasewalk vorzunehmen, anstatt diese zu marginalisieren.

Die vielen anglo-deutschen Sonder-Studien zu Hitlers »Psychopathie« von Coolidge und Langer über Miller und Stierlin bis zu Waite wurden bei den medizinischen Biografien nicht aufgeführt, weil sie nicht Gesamt-Lebens-betrachtend vorgehen und weil sich ihre Relevanz nach der Terminierung Hitlers als Serienkiller aufgehoben hat.