Die Ungerächten

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Die Ungerächten
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Volker Dützer

Die Ungerächten

Roman


Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Immer informiert

Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie

regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.

Gefällt mir!

Facebook: @Gmeiner.Verlag

Instagram: @gmeinerverlag

Twitter: @GmeinerVerlag

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2021 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

info@gmeiner-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Daniel Abt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Tony Hisgett; https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Lufthansa_Ju_52_3_(7576559812).jpg

ISBN 978-3-8392-6874-2

Zitat

Auge um Auge – und die ganze Welt wird blind sein

(Mahatma Gandhi)

Charaktere in der Reihenfolge ihres Auftritts

Historische Personen sind mit einem * gekennzeichnet.

Hannah Bloch: Halbjüdin

Ruth Obermayer: Hannahs beste Freundin

Scott Young alias Walter Ritter: Lieutenant der US-Army

Rolf Heyrich alias Paul Schneller: SS-Oberscharführer

Pawel Kowna alias Jakob Demsky: ehemaliger KZ-Häftling

Gerhard Theissen: SS-Hauptscharführer

Gustav Bolkow: Kapo im KZ Sachsenhausen

Anton Kaindl*: Lagerkommandant des KZ Sachsenhausen

Milena Kowna: Pawels Schwester

Josef Kowna: Pawels Vater

Hannelore Kowalski: Oberschwester der Zwischenanstalt Herborn

Dr. Werner Heyde* : Obergutachter der Aktion T4

Joschi: Hannahs stummer Beschützer

Claudius Brendel: katholischer Pfarrer

Hartmut Mitschke: Schrotthändler

Fritz Brunner: ehemaliger Leiter des Anstaltswesens Hessen-Nassau und Landesrat

Max Pohl: Kurierflieger

Esther Olszewski: Pawels Geliebte

Ari und Jaron: Esthers Freunde

Harald Lenz: Staatsanwalt

Heinz Borsig: Brunners Adjutant

Georg Quabbe*: Generalstaatsanwalt in Hessen

Walter Schellenberg*: Chef des SD

Bernhard Krüger*: SS-Sturmbannführer

Friedrich Schwend*: SS-Sturmbannführer

Gisela Wollner: Lenz’ Sekretärin

Rudolf Aschenauer*: Strafverteidiger

Gräfin Cornelia von Gessnitz: Gründerin der Stiftung »Heilende Hände«

Rudi Voss (der Köter): Bandenchef

Kalle: Ruths rechte Hand

Robert Hornickel, genannt Bommi: Wirt des Klävbotz

Leni: ehemalige Köchin in Brunnes Haus

Heinrich Richter (Hein das Wiesel): ein alter Feind Hannahs

Walter Menzel: korrupter Angestellter des Passamts

Vincent Kollweit: Domvikar

Major Foley: Scotts Vorgesetzter in Boston

Frederic de Stuyvens: Ruths Liebhaber

Captain Miller: Scotts Vorgesetzter in Frankfurt

Bischof Alois Hudal*: Rektor des deutschen Priesterkollegs Santa Maria dell’Anima in Rom

Pater Ansgar: Prior von St. Markus

Robert Krüger: ehemaliger Gestapo-Kommissar

Johannes Neuhäusler*: Weihbischof von München und Freising

Albrecht Herrmann: Generalvikar des Weihbischofs Neuhäusler

Karl Morgenschweis*: Gefängnispfarrer in Landsberg

Gottfried Mettmann: Händler, Schieber

Captain Lloyd A. Wilson*: Direktor des Kriegsverbrechergefängnisses Landsberg

Lucius D. Clay*: Militärgouverneur der amerikanischen Besatzungszone 1947–1949

Emil Mahl*: Krematoriumskapo in Dachau

Ernst Wilhelm Bohle*: Gauleiter

Werner Hess*: evangelischer Pfarrer

Hans Eisele*: KZ-Arzt

Elmar Bär: Rechtsanwalt

Otto Ohlendorf*: Amtschef im Reichssicherheitshauptamt

Anneliese Schudt: Brunners Hausmädchen

Franz Pobitzer*: Franziskanerpater

Jonas Schickl: Bauer, Schleuser

Sepp Höllinger: Wirt

Bruno Rizoli: Pater, Fluchthelfer

Ambros Gruber: Bürgermeister von Graun

Prolog

Hannah fürchtete die Dunkelheit. Sie sickerte wie schwarze Tinte aus ihren Augenwinkeln und brachte ihre Schwester mit, die Angst. Einen schrecklichen Augenblick lang schwebte Hannah verloren zwischen Traum und Wirklichkeit. Innere und äußere Welt, Vergangenes und Gegenwart vermischten sich und waren bald nicht mehr zu unterscheiden. Weggefährten tauchten auf, die vor vielen Jahren verstorben waren, und gesellten sich wie selbstverständlich zu denen, die lebten.

Die Traumgestalten beunruhigten Hannah nicht. Sie war über neunzig, da war es ganz normal, dass der Verstand ihr ab und zu Streiche spielte und sie am helllichten Tag einnickte. Doch die Todesangst längst vergangener Tage und die schreckliche Ahnung, dass der anbrechende Tag der letzte sein könnte, hatten sie seit sechzig Jahren nicht mehr heimgesucht.

Sie kämpfte sich durch die Begebenheiten eines langen Lebens an die Oberfläche ihres Bewusstseins zurück. Die Geister der Vergangenheit verblassten, die Erinnerungen jedoch, die so unerwartet aufgetaucht waren, wirkten nach. Ihr Herz pochte ängstlich und beruhigte sich nur langsam.

Hannahs Blick irrte umher und richtete sich auf den Fernsehbildschirm. Im klaren Licht der Wirklichkeit erkannte sie, dass der Mann, der mit von Hass verzerrtem Mund die Menge aufpeitschte, nicht Lubeck war. Die Ähnlichkeit allerdings war da und sie hatte die Angst in ihr wachgerufen. Er besaß die gleichen kalten Augen, die harten Lippen und das dunkelblonde, streng gescheitelte Haar.

Die Karikatur, die sie vor fast achtzig Jahren in ihr Schulheft gemalt hatte, kam ihr in den Sinn: ein Ziegenbock mit Klumpfuß und dem Gesicht von Joseph Goebbels – Hitlers Einpeitscher. Mit der unbedachten Kritzelei hatte alles begonnen, ihr junges Leben hatte seine Unschuld verloren.

Der namenlose Schreihals im Fernsehen benutzte beinahe die gleichen Worte wie Goebbels, um die Menschen in seinen Bann zu ziehen. Sie waren wieder da, die Verführer und Wölfe im Schafspelz. Die braune Hydra war erwacht und streckte ihre geifernden Köpfe aus, um jeden zum Schweigen zu bringen, der sich ihr in den Weg stellte. Hannah hatte Jahre ihres Lebens damit zugebracht, sie zu jagen und ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Mochten andere den Kampf nun weiterführen. Steinalt, wie sie war, fehlte ihr die Kraft dazu. Fahrig tastete sie nach der Fernbedienung, die leise klappernd zu Boden fiel.

»Warte, Omi Hanni. Ich heb sie auf.«

Judith bückte sich und legte das Gerät mit der spielerischen Geschmeidigkeit der Jugend an seinen Platz zurück. Wie sehr sie Malisha ähnelt, dachte Hannah. Alles wiederholt sich. Das Gute … und das Böse. Das Alte muss sterben, um dem Neuen Platz zu machen. Ihr wurde kalt. Fröstelnd rieb sie sich die Unterarme und zog die Wolldecke höher.

»Alles okay?«, fragte Judith.

Hannah nickte. »Ich war eingeschlafen und hatte einen bösen Traum. Das ist alles.«

Ihre Urenkelin runzelte besorgt die Stirn. »Du bist ganz blass. Man könnte meinen, du hättest ein Gespenst gesehen.«

»Vielleicht habe ich das sogar«, antwortete Hannah.

Judith warf einen Blick auf den Fernseher.

»Er ist es gewesen, nicht wahr? Er hat dich erschreckt.«

»Wie kommst du denn darauf?«

»Weil er aussieht wie der Mann in deinem alten Fotoalbum.«

Einmal mehr war Hannah überrascht über das feine Gespür ihrer Urenkelin. Man kann ihr nichts vormachen, dachte sie zufrieden.

»Ja«, sagte sie, »er hat mich wohl ein bisschen erschreckt.«

»Du solltest dir das Geschrei dieser rechten Idioten nicht anschauen.« Judith schaltete erbost den Fernseher aus.

»Man darf nicht wegschauen«, sagte Hannah. Als müsse sie sich diese Erkenntnis selbst wieder ins Gedächtnis rufen, wiederholte sie den Satz. »Man darf nicht wegschauen.«

Judith zog das abgegriffene Album aus dem Regal im Wohnzimmerschrank und blätterte darin. Hannah wusste, dass die alten Schwarz-Weiß-Fotografien sie faszinierten und ihr ein Fenster in eine völlig andere Welt öffneten; in eine Zeit, in der Hannah so jung gewesen war wie ihre Urenkelin heute.

Das Mädchen betrachtete ein Gruppenbild, auf dem Lubeck zu sehen war. Das Personal der Tötungsanstalt Hadamar hatte sich während einer Weihnachtsfeier ablichten lassen. Hannah überlegte, ob es 1943 oder 1944 gewesen war. Sie wusste es nicht mehr.

»Wer war er?«, fragte Judith.

»Einer von ihnen«, antwortete Hannah leise. »Ein Arzt, der Kranke ermordet hat.«

Ihre Urenkelin zog die Nase kraus, ein sicheres Zeichen, dass sie angestrengt nachdachte. Nun würden die Fragen kommen. Judith war ein wissbegieriges Mädchen von vierzehn Jahren. Sie war nun in dem gleichen Alter, in dem Hannah gewesen war, als die Nazis ihre Kindheit jäh beendet hatten. Einen Moment lang versank sie erneut in der Vergangenheit und hörte die schrille Stimme von Pilz, dem kahlköpfigen Mathematiklehrer.

 

Nun, was denn, was denn? Was soll denn aus dir werden, Hannah Bloch?

»Wir haben in der Schule gelernt, dass die Nazis die Juden ermordet haben«, sagte Judith, »aber ich wusste nicht, dass sie auch Kranke getötet haben.« Das durchsichtige Schutzpapier knisterte, als sie eine Seite umblätterte. »Du hast mir nie gesagt, wer der blonde Soldat ist.«

Hannah stützte sich auf und schob ihre Brille über die Nase. »Das ist Hans Simonek.«

»Süß«, kommentierte Judith das Foto.

Hannah lächelte. »Ja, das war er.«

Judiths Augen leuchteten. »Du warst in ihn verliebt, ich seh’s dir an. Erzählst du mir von ihm? Was ist aus ihm geworden?«

Hannahs Lächeln erstarb. »Sie haben ihn erschossen, weil er nicht mehr für Hitler kämpfen wollte.«

Das Funkeln in den Augen ihrer Urenkelin erlosch. Behutsam fuhr sie mit den Fingerspitzen über das sepiabraune Bild; eine Geste, die Hannah einen Stich ins Herz versetzte, denn sie erinnerte sich an eine verlorene Liebe und den Schmerz, der damit verbunden war.

»Tut mir leid, Oma. Ich hätte nicht fragen sollen.«

»Unsinn, es ist wichtig, dass nichts davon in Vergessenheit gerät.«

»Wer hat ihn getötet?«, fragte Judith vorsichtig.

»Ein Mann namens Heyrich.«

»Ist er dafür bestraft worden?«

»Ja, das ist er. Ich habe ihn gejagt, bis ich ihn gefunden hatte.«

Judiths Augen wurden groß. »Du? Das musst du mir erzählen. Von Anfang an.«

Hannah lächelte. Ihre Urenkelin war eine aufmerksame Zuhörerin, und vor allem interessierte sie sich für die alten Geschichten aus Kriegstagen.

»Angefangen hat es am 22. Dezember 1939«, sagte Hannah, »in einem Klassenzimmer in Frankfurt an einem kalten Wintertag. Erinnerst du dich an die schlimmen Träume, die du als Kind hattest?«

»Ja. Du sagtest dann, ich würde im Pudding stecken«, antwortete Judith.

»Im Sirup«, verbesserte Hannah. »Mir ging es genauso. An jenem letzten Schultag vor Weihnachten erlitt ich einen epileptischen Anfall vor all den Kindern in der Klasse und vor meinem Lehrer. Du musst wissen, er war ein fanatischer Nationalsozialist. Die Nazis planten, alles Leben zu beseitigen, das sie als lebensunwert erachteten. Sie waren davon überzeugt, dass Kranke und Menschen mit Behinderung das deutsche Volk schädigen und die arische Rasse verunreinigen würden. Darum sollten diese Menschen sterben. Darum sollte ich sterben. Mein Lehrer meldete mich daher den Behörden. Deine Ururgroßmutter Malisha und ich mussten aus Deutschland fliehen.«

»Wohin seid ihr gegangen?«

»Wir kamen nicht weit. Der Mann mit der Narbe verfolgte uns, bis er uns gefunden hatte.«

»Aber du warst doch nur ein Kind.«

»Es ging ihm um Malisha«, erklärte Hannah. »Er hatte sich in sie verliebt, aber meine Mutter wies ihn ab – ein großer Fehler, denn Lubeck besaß Macht und Einfluss.«

»Ich hätte genauso gehandelt«, sagte Judith.

»Ja, sicher hättest du das«, sagte Hannah lächelnd. Was wusste dieses Kind schon von den Kellern der Gestapozentrale in Frankfurt, die sie die Villa genannt hatten, oder von den Gaskammern der Mordanstalten, vom Gestank der Öfen, in denen sie die Leichen der Ermordeten verbrannt hatten. Asche war wie schwarzer Schnee aus dem eisgrauen Himmel gefallen und hatte sich auf ihr Haar und ihre Schultern gelegt.

»Wie hat Lubeck auf die Abfuhr reagiert?«, fragte Judith.

»Er nahm sich mit Gewalt, was er haben wollte.«

»Hat er Malisha gezwungen, ihn zu heiraten?«, fragte Judith schockiert.

»Sie zog es vor, für ihre Überzeugungen zu sterben. Malisha wurde verhaftet, weil sie den Nazis Widerstand leistete. Die Gestapo hat sie ermordet.«

»Das wusste ich nicht«, sagte Judith betroffen. »Ich weiß so wenig über diese schlimme Zeit. Was hast du ohne sie gemacht? Du warst doch noch so jung.«

»Sie steckten mich in eine der Anstalten, in der sie die kranken Menschen töteten, weil ich an einer leichten Form von Epilepsie litt. Ich hatte Freunde, die mir halfen, sonst hätte ich nicht überlebt – Ruth und Thea, Lissy und Scott.«

»Scott – das ist der amerikanische Soldat, von dem du mir erzählst hast, nicht wahr?«

»Ja. Lubeck hat übrigens für seine Verbrechen bezahlt, viele andere gingen straffrei aus.«

»Es gab doch die Nürnberger Prozesse«, sagte Judith.

Hannah nickte. »Die Anführer dieser Mörderbande mussten sich vor Gericht verantworten, aber viele kleine Nazis und Mitläufer sind nach Südamerika geflohen. Scott und ich haben sie gejagt, und ein paar von ihnen haben wir geschnappt.«

»Auch den Mörder von Hans?«

»Ja, auch den. Doch das ist eine andere Geschichte.«

»Erzählst du sie mir? Bitte.«

Hannah schloss die Augen und wanderte in Gedanken in der Zeit zurück.

»Alles begann am 22. April 1945 im Konzentrationslager Sachsenhausen …«

Teil 1 Das Versprechen

1

22. April 1945

Eine unnatürliche Stille lag über Block 13. Jede Abweichung vom gewohnten Tagesablauf ließ Pawel Kownas Herz schneller schlagen, denn sie bedeutete nichts Gutes. Er lauschte auf die Geräusche, die das morgendliche Erwachen des Lagerbetriebs ankündigten. Das Gebrüll der Kapos, wenn sie die Türen der Baracken aufrissen, das Gebell der Hunde, mit denen die Wachen patrouillierten, und das Trampeln und Scharren tausender Füße auf dem Appellplatz. Nichts davon war zu hören.

Bedeutete das Schweigen, dass der letzte Tag im Lager endlich angebrochen war? Die Anzeichen dafür waren im Lauf der Nacht deutlicher geworden, die hektische Betriebsamkeit der Lagerleitung erzeugte Unruhe unter den Häftlingen. Obwohl die Wachmannschaften alles unternahmen, um ihre aufkommende Panik vor dem Einmarsch der Russen zu verbergen, übertrug sich die wachsende Nervosität auf die Gefangenen in Block 13.

Heute war Pawels fünfhundertsiebenundvierzigster Tag im Lager. Für jeden einzelnen dieser Tage hatte er eine Kerbe in das Gestell aus rohen Brettern geritzt, in dem er mit Dutzenden anderen Häftlingen eng aneinandergepresst die Nächte verbracht hatte. Nicht viele schafften es, so lange in Sachsenhausen zu überleben. Das Glück durfte ihn jetzt nicht im Stich lassen, denn die Freiheit war nicht mehr fern.

Vielleicht erwischt es mich heute, dachte er. Sollte er der Nächste sein, den Theissen aus der Reihe zog, um seine sadistischen Spielchen mit ihm zu treiben? Auf welche Weise ihm der Tod wohl gegenübertreten würde, wenn es so weit war?

Pawel drehte sich auf den Rücken und versuchte, sich vorzustellen, wie es wohl sein mochte, wenn der Krieg zu Ende wäre. Er roch die Ausdünstungen seiner Leidensgenossen und hörte das hundertfache Atmen, das Stöhnen und ängstliche Wimmern der Schlafenden. Manche schrien des Nachts und schlugen um sich, weil die allgegenwärtige Todesangst sie in ihre Träume verfolgte. Die meisten jedoch schliefen wie Tote, weil sie zu erschöpft waren, um träumen zu können.

Über das leise Trommeln des Regens auf dem Dach der Baracke legte sich ein Geräusch, das er vor ein paar Tagen zum ersten Mal bemerkt hatte, leise und weit entfernt. Nun war es lauter, ein tiefes Donnern und Grollen, das an ein aufziehendes Gewitter erinnerte.

»Das ist Geschützfeuer«, flüsterte er.

Waren die Russen so nah? Niemand informierte die Gefangenen über den Verlauf des Krieges, doch Gerüchte über die Erfolge der Rotarmisten machten bereits länger die Runde. Die Anspannung der Deutschen bestätigte die Nachrichten, die sich wie ein Lauffeuer verbreiteten, obwohl die Lagerleitung sie zu unterdrücken versuchte. Der Terror der Nazis ging dem Ende zu. In die Hoffnung, dem Wahnsinn entfliehen zu können, mischte sich nun die Angst, noch zu den letzten sinnlosen Opfern zu gehören. Diese Furcht war nicht unbegründet, Pawel kannte die Nazis. Er wusste, was in ihren kranken Hirnen vorging. Wenn sie die Bühne der Geschichte verlassen mussten, würden sie nicht alleine abtreten, sondern alle mit in den Untergang reißen, derer sie habhaft werden konnten. Denn wenn die Welt von den ungeheuerlichen Verbrechen erfuhr, die in den Lagern verübt worden waren, würden die Sieger kein Pardon gewähren.

Chaim, der neben ihm lag, regte sich. »Hörst du das?«, fragte er leise.

»Ja. Die Russen sind da.«

»Ob sie rechtzeitig kommen werden, um uns zu befreien?«

»Ich weiß es nicht.«

Die Tür zur Baracke flog auf, der Wind fegte nasskalte Luft ins Innere. Wachmannschaften stürmten herein, allen voran der glatzköpfige Bolkow, der bereitwillig die Rolle des Kapos übernommen hatte. Er trug eine Armbinde über der schwarzen Jacke und schwang einen Axtstiel. Jeder, der im Lager Sachsenhausen ankam, begriff rasch, dass die SS Handlanger brauchte. Helfer, die die Häftlinge bei der Arbeit beaufsichtigten, Verfehlungen meldeten und sich bei der Bestrafung die Hände schmutzig machten. Deshalb sortierte der Lagerkommandant, SS-Standartenführer Anton Kaindl, Berufsverbrecher und ehemalige Angehörige der SA bei ihrer Ankunft aus. Die meisten waren sofort bereit, für besseres Essen und Privilegien wie Alkoholrationen mit äußerster Brutalität gegen die anderen Gefangenen ihres Blocks vorzugehen.

Bolkow klapperte mit dem Axtstiel an den Streben der Schlafpritschen entlang und drosch auf jeden ein, der nicht schnell genug auf den Füßen stand.

Ganz gegen seine Gewohnheit betrat nun SS-Hauptscharführer Gerhard Theissen die Baracke. Pawels Ahnung, dass etwas Besonderes bevorstand, wurde zur Gewissheit. Theissen wippte auf den Fußspitzen, verschränkte die Arme hinter dem Rücken und sah ungeduldig zu, wie die Wachen und Kapos die Häftlinge aufscheuchten.

»Raus! Alle raus! Beeilung, wird’s bald? Ich werde euch Beine machen, faules Pack!«

So schnell sie konnten, stürmten die Gefangenen aus der Baracke. Am Ausgang entstand ein wildes Gedränge, das Bolkow dazu nutzte, um auf die Wehrlosen einzuprügeln. Er zerrte Pawel am Ärmel, der in Windeseile aus dem Bettgestell gesprungen und in die zerschlissenen Schnürschuhe geschlüpft war.

»Los, los! Antreten zum Appell!«

Pawel stolperte ins Freie und rannte auf den riesigen Platz zu. Aus allen Teilen des Lagers strömten Häftlinge herbei und stellten sich in Reihen auf. Pawel ordnete sich in seinen Block ein und hielt Ausschau nach seinem Vater. Wie auch seine Schwester Milena war Josef Kowna zeitgleich mit ihm ins Lager gekommen. Seitdem hatte er beide nur zweimal gesehen, das letzte Mal vor einem Monat. Er wusste nicht, ob sie überhaupt noch lebten. Milena war jung und kräftig, aber Josef ein kränklicher, alter Mann, der den unmenschlichen Bedingungen im Lager nicht gewachsen war. Pawel war darum in höchster Sorge um ihn.

Die Posten trieben die letzten Nachzügler auf dem Appellplatz zusammen. Pawel fröstelte in der kalten Luft, der Regen durchnässte seinen gestreiften Drillichanzug. In Gruppen von fünfhundert Häftlingen eingeteilt und vor Kälte und Furcht zitternd, warteten sie über eine Stunde auf Befehle. Wer seinen Platz verließ oder zusammenbrach, wurde umgehend erschossen, das war jedem klar. Pawel sah zu dem Turm neben dem Hauptgebäude hinüber. Auf der Plattform stand ein Maschinengewehr, mit dem die SS den gesamten Platz bestreichen konnte.

Die brodelnde Unruhe unter den Verzweifelten drohte in Panik umzuschlagen. Dies war kein normaler Morgenappell. Wachen und Offiziere liefen hektisch umher, unter ihnen der verhasste Theissen.

Sie räumen das Lager, schoss es Pawel durch den Kopf. Er hatte den Gedanken kaum zu Ende geführt, als die ersten Gefangenen seines Blocks sich unter den Befehlen der Wachposten in Bewegung setzen mussten. Schlamm spritzte von den Reifen eines offenen Wagens auf, der über den durchweichten Appellplatz raste. Walter Schmidtke, Kaindls wegen seiner Gewaltexzesse verhasster Adjutant, saß am Steuer, sein Chef auf dem Rücksitz. Kaindl hatte sich in seinen schwarzen Ledermantel gehüllt und die Schildmütze mit Reichsadler und Totenkopf in die Stirn gezogen. Dem Horch folgten drei Kübelwagen, besetzt mit den oberen SS-Rängen. Die Mörder setzten sich ab.

In der Ferne rollte der Donner des Geschützfeuers der Roten Armee über den Horizont. Pawel schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass die Soldaten rechtzeitig eintrafen, um ein Massaker zu verhindern.

 

Jemand verpasste ihm einen Stoß zwischen die Schulterblätter, der ihn beinahe zu Boden warf. Die Kapos schrien Befehle, die Menge kam in Bewegung. In Viererreihen marschierten sie auf das Tor zu. Ein Raunen griff um sich.

»Wohin bringen sie uns?«

»Werden sie uns freilassen?«

»Nein, sie werden uns töten. Uns alle. Niemand wird überleben, sie wollen keine Zeugen.«

Die Wachen begleiteten den Zug. Mit Pistolen und Gewehren bewaffnet, brüllten sie Befehle, knüppelten wahllos auf die Marschierenden ein und erstickten die zunehmende Unruhe unter den Gefangenen. Auch sie waren nervös. Außer Kaindl und Theissen schien niemand zu wissen, wohin es ging.

Sie marschierten etwa eine Stunde, da fielen die ersten Schüsse. Pawel sah mehr als einmal die Schwächsten stolpern und zu Boden stürzen. Wer liegen blieb, wurde erschossen. Er dachte an seinen Vater und stellte sich auf die Zehenspitzen, um die Kolonne besser überblicken zu können, aber er konnte weder ihn noch Milena entdecken.

Gegen Mittag erreichten sie eine Anhöhe. Pawel blickte zurück und sah einen endlosen Zug zerlumpter und ausgemergelter Gestalten in der gestreiften Häftlingskleidung, ein unendlich müder Wurm, der vor Erschöpfung kaum kriechen konnte. Er schätzte die Zahl der Elenden auf mehrere Tausend.

Wenigstens habe ich Schuhe an den Füßen, dachte er. Den Männern, die hart arbeiteten, hatte man häufig welche zugeteilt. Die Frauen dagegen mussten barfuß gehen.

Noch immer regnete es in Strömen. Obwohl der April bereits zu Ende ging, fegte ein bitterkalter Wind über die weite Ebene. Der Hunger wühlte in Pawels Eingeweiden, er atmete stoßweise und achtete darauf, nicht hinzufallen. Er war stets kräftig und zäh gewesen, deshalb hatten sie ihn zur Arbeit in der Klinkerfabrik des Außenlagers eingeteilt – eine unmenschliche Schufterei, die auch die Zähesten nur wenige Monate überlebten. Wenn selbst er am Ende seiner Kräfte war, bedeutete der Marsch ins Ungewisse für seinen Vater den sicheren Tod.

Er dachte an Milena. Ob Theissen seiner Mätresse das Privileg warmer Kleidung gewährte? Vielleicht war er ihrer längst überdrüssig geworden. Pawel hatte seiner Schwester mit Theissens Hilfe einen Posten in der Schreibstube verschafft, in der Hoffnung, damit wenigstens ihr Überleben zu sichern. Seither verdrängte er die Vorstellung, welchen Preis sie dafür zahlen musste. Trotzdem war dies der einzige Weg gewesen, Milena das Überleben zu sichern.

Er wich einer tiefen Pfütze aus und hob den Kopf, um in den Himmel zu blicken, der sich grau und milchig über ihm erstreckte. Die Sonne blieb hinter den Wolken verborgen, und so fand er keine Möglichkeit, einigermaßen die Richtung zu bestimmen, in die sie liefen. Das dumpfe Grollen der Geschütze lag hinter ihm, demzufolge marschierten sie nach Westen. Der Westen, das bedeutete Freiheit! Es hieß, die Amerikaner hätten bereits den Rhein überquert.

Wieder hallte das Echo von Schüssen über das flache Land. Leichen blieben auf dem Boden liegen, die Überlebenden trotteten abgestumpft weiter.

Pawel schätzte, dass es später Nachmittag war, als der Zug einen Bogen beschrieb. Der Regen ließ nach, die Sonne stand nun wie ein fahler, dunstiger Fleck am Himmel. Sie liefen weiter in nordwestliche Richtung, bis es zu dämmern begann.

Plötzlich schrie Bolkow: »Stopp! Stopp!«

Der Zug kam zum Stillstand. Jeder sank dort zu Boden, wo er gerade stand. Pawel sah Gerhard Theissen, der auf einem braunen Pferd saß und sich umschaute.

Ein schlammbespritzter Pritschenwagen rumpelte vorbei. Männer und Frauen, die Armbinden des Roten Kreuzes trugen, blickten mit versteinerten Mienen auf die Elenden herab und warfen Brote in die Menge, um die sich die Kräftigsten balgten. Pawel erwischte ein knochenhartes Stück Schwarzbrot, an dem er zu nagen begann. Der Durst machte ihn fast wahnsinnig.

Ein zweiter Wagen stoppte in einiger Entfernung, endlich teilten Soldaten Wasserrationen aus. Drei Dutzend Häftlinge drängten sich bereits um die Ladefläche. Bevor Pawel den Wagen erreichte, waren die Tanks leer, der Fahrer fuhr wieder los. Auch der Laster, von dem aus die Brote verteilt worden waren, entfernte sich. Die Rationen reichten nur für einen Bruchteil der Marschierenden, der Rest musste hungern oder sterben.

Einige der Durstenden wandten sich ab, legten sich bäuchlings auf den Boden und soffen wie Hunde aus Pfützen. Pawel stolperte in den Straßengraben. Er schöpfte mit der hohlen Hand schmutziges Regenwasser und trank. Dann kroch er frierend und hungrig auf die Straße zurück und rollte sich auf dem nassen Asphalt zusammen. Kurz darauf war er vor Erschöpfung eingeschlafen.

Beim ersten Schimmer des Tageslichts ging es weiter. Teile der Wachmannschaften hatten die Nacht zur Flucht genutzt. Die Angst vor den Russen war größer als die Angst, als Deserteur aufgegriffen zu werden. Theissen sammelte seinen geschrumpften Trupp um sich und trieb die Menge unbarmherzig an. Wer nicht schnell genug auf den Beinen war, den traf ein Knüppel oder gleich eine Kugel. Kaum hatte sich der Zug in Bewegung gesetzt, da erfüllte ein bedrohliches Summen die Luft und schwoll zu einem Dröhnen an. Zwei Jagdflieger rasten im Tiefflug über die weite Ebene. Sie wendeten und kehrten zurück, schossen jedoch nicht. An ihren Heckleitwerken leuchteten rote Sowjetsterne. Pawel sah, dass Theissen und Bolkow blitzschnell in den Graben sprangen. Ein paar Häftlinge winkten tatsächlich und riefen aus heiseren Kehlen: »Hurra!«

Wozu das alles?, dachte Pawel. Warum machen sich die Nazis nicht aus dem Staub? Warum quälen sie uns noch immer, wo es doch längst vorbei ist?

Sie marschierten einen weiteren Tag und einen dritten, immer Richtung Nordwesten. Träge rechnete er nach. Wenn sie am Tag etwa dreißig Kilometer zurücklegten, mussten sie inzwischen in der Nähe von Wittstock/Dosse sein.

Am frühen Abend erreichten sie den Belower Wald. Man errichtete ein provisorisches Lager, SS-Posten umstellten das Waldstück und überließen die Menschen sich selbst, ohne für Unterkunft oder Nahrung zu sorgen. Hier hatte Pawel unbeschwerte Kindheitstage verbracht, kannte jeden Baum und jeden Strauch.

Da die Zahl der Wachen ständig sank und es nicht mehr genug Stacheldraht gab, um das gesamte Gelände abzusichern, hätte er sich davonschleichen können, doch er wollte seinen Vater und Milena nicht im Stich lassen. Seine so gewonnene Freiheit wäre mit Schuld belastet gewesen. Also blieb er und hoffte, obwohl es längst nichts mehr zu hoffen gab.

Mit Einbruch der Dämmerung hörte der Regen schließlich ganz auf. Sie lagerten auf Wiesen und Lichtungen, eine Kontrolle der Massen durch die SS war kaum mehr möglich. Immer größere Gruppen von Häftlingen flohen im Schutz der Dunkelheit.

Wieder gab es kärgliche Rationen: verschimmeltes Brot, einen Becher Suppe, die fast nur aus Wasser bestand, aber wenigstens den Durst löschte. Pawel streifte zwei Stunden umher und suchte nach seiner Familie. Er fand sie nicht.

Am nächsten Morgen kamen drei Lastwagen an, aus denen Offiziere der Waffen-SS sprangen. Sie teilten die Menge in Gruppen von je dreihundert Gefangenen ein. Theissen fuhr mit einem Kübelwagen davon. Ein junger Soldat – ein halbes Kind noch – stieß Pawel vorwärts. Der Zug setzte sich abermals in Bewegung und gelangte nach einstündigem Marsch in eine geräumte Kaserne. Die Häftlinge wurden auf die Baracken verteilt, aber der Platz reichte nicht für alle. Hunderte schliefen im Freien auf dem Appellplatz.

Pawel war einer der Letzten, die es schafften, in eine der Bretterbuden zu gelangen. Bolkow baute sich vor dem Eingang auf und schrie nutzlose Befehle, die niemand mehr befolgte. Pawels Eingeweide zogen sich vor Hunger schmerzhaft zusammen. Er rollte sich in eine freie Ecke unter einem Fenster und blickte durch die schmutzige Glasscheibe auf ein kleines Stück des Himmels. Was würde nun geschehen?

Aus dem Augenwinkel sah er, dass drei ausgezehrte Gestalten auf Bolkow zutaumelten, ihn umringten und um Essen bettelten. Der Kapo schlug einen von ihnen nieder und rief nach Verstärkung. Theissen betrat die Baracke, zog seine Waffe aus dem Holster und erschoss die beiden anderen Gefangenen. Das Töten war für ihn zu einer beiläufigen, alltäglichen Sache geworden. Danach bat niemand mehr um Essen oder Wasser.

Pawel dämmerte dahin und verlor jegliches Zeitgefühl. Als ihn der Hunger weckte, war es dunkel geworden, Regen prasselte auf das Barackendach. Der undichte Fensterrahmen klapperte im Wind, kalte Luft strich durch die Ritzen und hüllte Pawel in eine eisige Decke. Die Stille wurde vom Seufzen und Jammern der Verhungernden unterbrochen. Durch den Spalt des Fensterrahmens kroch Zigarettenrauch, zwei Männer unterhielten sich leise. Es waren Bolkow und Theissen.

»Es ist also abgemacht?«, fragte der Kapo.

»Wenn du deine Arbeit gut machst, bekommst du Sachen aus der Kleiderkammer. Ich warte im Wald hinter der Scheune«, antwortete Theissen. »Und dann nichts wie weg.«

Weitere Bücher von diesem Autor